Von Dagmar Henn
Gestern war der Telegram-Kanal des russischen Außenministeriums voller Glückwünsche an afrikanische Staaten. Wir gratulieren zum Afrika-Tag, hieß es, und die Gründung der Organisation für Afrikanische Einheit (OAU) vor sechzig Jahren wurde erwähnt. Eine Organisation, deren Gründung so spät erfolgte, weil zuvor die offene koloniale Herrschaft (weitgehend) beendet werden musste.
Wenn man auf die Webseite des deutschen Außenministeriums blickt, wird man keine solchen Glückwünsche finden. Was nicht verwundern muss – die Bundesrepublik stand ebenso auf der Seite der Kolonialmächte, wie die Sowjetunion auf der Seite der Unabhängigkeitsbewegungen, und beides wirkt bis heute nach.
Wobei ja der Kolonialismus nur seine Gestalt geändert hat. Musterbeispiel dafür ist und bleibt der französische Kolonialpakt, der die Kolonien zwar formell in die Unabhängigkeit entließ, ihnen aber die Kontrolle über ihre Devisenreserven entzieht und dazu verpflichtet, stets französischen Firmen den Vortritt zu lassen, sobald es etwas zu verdienen gibt. Durch den CFA-Franc sind diese Länder auch noch an den Euro gebunden und müssen noch immer eine Steuer für die "französischen Leistungen" entrichten.
In den letzten Jahren versuchen allerdings einige davon, sich der französischen Kontrolle zu entziehen. Das kann allerdings nur gelingen, wenn sie vor Militärinterventionen der Kolonialmacht sicher sind, die widerspenstige Staatsoberhäupter wie Thomas Sankara nach wie vor gern aus dem Weg räumt. Damit sind wir auch bei dem Grund dafür, warum unter anderem im Deutschen Bundestag gerade ein Versuch läuft, die Wagner-Organisation auf die Terrorliste der EU zu setzen.
Mali und Burkina Faso, beides Opfer des Kolonialpakts, haben es geschafft, sich mithilfe von Wagner davon zu befreien; damit wird auch klar, warum die EU-Verteidigungsminister bei ihrem letzten Treffen diese Woche neue Militäreinsätze in Niger, Benin, Togo und an der Elfenbeinküste beschlossen haben, alles "ehemalige" französische Kolonien. Nun, auch das kann man als Kommentar zum Jubiläum der OAU betrachten.
Das Auswärtige Amt behandelt diesen Jahrestag so, wie man Afrika immer gern behandelt, und publiziert am Vorabend einen Artikel zum "Kampf gegen Hunger am Horn von Afrika". In diesem Artikel stellt man zum einen die Afrikaner wieder einmal als die notleidenden Hilfebedürftigen dar, zum anderen unterschlägt man wie üblich die eigene Beteiligung an den steigenden Lebensmittelpreisen und stellt sich dann auch noch als Retter in der Not dar; das übliche Geschäft also.
(Es war übrigens gar nicht einfach, ein Bild einer modernen afrikanischen Stadt für den Titel zu finden, und es ist kein Zufall, dass der Fotograf der Aufnahme, die diesen Artikel illustriert, ein Chinese ist – diese Seite afrikanischer Wirklichkeit wird in Europa weit seltener gezeigt als Bilder von Lehmhütten).
Die Klimaerzählung sollte, das kann man unschwer erkennen, dazu genutzt werden, um eine Industrialisierung afrikanischer Nationen weiter zu verzögern und neue Abhängigkeiten auszulösen, die diesmal durch den Geldbedarf zum Ausbau erneuerbarer Energien entstehen sollten; die Importbesteuerung nach CO₂-Verbrauch ist das Gegenstück in der EU-Gesetzgebung, das den nötigen Zwang ausüben sollte.
Nicht nur Wagner stört diese Kreise. Auch China durchkreuzt diese Pläne mit seinen Infrastrukturprojekten und seinen Handelsbeziehungen; zuletzt kommen dazu noch die Angebote, Außenhandel ohne Nutzung des US-Dollar (oder des CFA-Francs) abzuwickeln oder gar den BRICS beizutreten.
Das Absurde an dieser Lage ist, dass Afrika enormes Potenzial besitzt, das aber unter den Bedingungen eines kolonialen Verhältnisses gar nicht erschlossen werden kann. Es ist der am wenigsten erschlossene Kontinent mit der größten landwirtschaftlich nutzbaren Fläche überhaupt, der jüngsten und damit sowohl am leichtesten auszubildenden als auch konsumfreudigsten Bevölkerung, einem ungeheuren Bedarf an Infrastruktur und kolossalen Möglichkeiten im noch absolut unterentwickelten Binnenhandel. Außerdem dank der Tatsache, dass einzig hier die Gattung Mensch eine gewisse genetische Vielfalt aufweist, eine Schatzkammer für die medizinische Entwicklung.
Aber damit diese Vorteile zur Geltung kommen können, müssen jene Strukturen beseitigt werden, die über all die Jahrzehnte dazu führten, dass jeglicher Reichtum in den Westen floss. Wie sehr große Teile des Kontinents den Bedürfnissen der Kolonialherren unterworfen waren und sind, zeigt ein Blick auf das Straßennetz, das im Grunde stets nur eine Richtung kennt – hin zur Küste, zum Hafen, aus dem Güter abtransportiert werden können.
Es braucht einen Schub der Industrialisierung, eine Explosion der Bildung, um das Potenzial zu erschließen; aber Industrialisierung ist genau einer der Punkte, auf den der Westen stets allergisch reagiert, wie das Beispiel von Burkina Faso und Thomas Sankara belegt. Nicht von ohnehin ist das am weitesten industrialisierte Land Afrikas unterhalb der Sahara Südafrika, das länger als alle anderen afrikanischen Länder unter direkter weißer Herrschaft stand; wäre es nicht als europäische Exklave gesehen worden, hätte es diese industrielle Entwicklung nie gegeben.
Der Blick aus dem Westen auf diesen gigantischen Kontinent ist bis heute von jener Erzählung geprägt, die während und kurz nach der direkten kolonialen Herrschaft geschaffen wurde. Afrika sei überbevölkert, hieß es bereits in den 1960ern; Löwen, Elefanten und Zebras seien bedroht, weshalb die Menschen zurückgedrängt werden müssten; Afrikaner sind arm, leben in Lehmhütten und leiden regelmäßig unter Hunger.
So gut wie niemand im Westen kennt die Geschichte der afrikanischen Zivilisationen in Ost- oder in Westafrika, die Stadtstaaten und Reiche, die entlang der Atlantikküste bestanden, die reichen kulturellen Überlieferungen, denn die Menschen Afrikas waren und sind aus europäischer Sicht stets nur Objekt. Selbst dann, wenn das europäische Gegenüber von seinen guten Absichten überzeugt ist, wie bei Außenministerin Baerbocks Aussage zu nigerianischen Dorftoiletten.
In Afrika wird dieses Denken jedoch sofort erkannt. Man kann sich zurzeit auf Netflix die Verfilmung eines nigerianischen Theaterstücks ansehen, geschrieben vom Literaturnobelpreisträger Wole Soyinka im Jahr 1976. Elesin Oba, der Reiter des Königs. So langsam die Geschichte beginnt, so fremd die meisten Ereignisse und Verhaltensweisen sein mögen, das Stück gipfelt in einer scharfen Auseinandersetzung zwischen den Würdenträgern der Stadt Oyo und den Vertretern der britischen Kolonialverwaltung.
Soyinka hat damals das Jahr 1943 als Hintergrund seines Dramas gewählt, aber was der Sohn des königlichen Reiters, der gerade nach seinem Medizinstudium aus England zurückgekehrt ist, den Briten an den Kopf wirft, ist genau das, was augenblicklich in einem Dutzend Varianten aus Afrika zu hören ist. "Ihr stürzt die Welt in Kriege, die Millionen von Leben kosten, und wagt es, uns Barbaren zu nennen."
Die Wut, die die guten Beziehungen Russlands wie Chinas nach Afrika im Westen erzeugen, hat natürlich auch mit den Lasten einer düsteren Geschichte zu tun, von der diese Beziehungen frei sind. Beginnend mit den Jahrhunderten des Sklavenhandels, über die koloniale Besatzung mit dem deutschen Völkermord an den Herero und Nama und der belgischen Versklavung des Kongo als Höhepunkte, über die Befreiungskriege, die in Mosambik und Angola bis 1974 und im Grunde in Südafrika bis 1993 dauerten, hin zu den Auflagen des IWF und dem französischen Kolonialpakt – unter solchen Bedingungen ist Vertrauen schwer zu erreichen, und es ist kein Wunder, dass die Länder, nun, da es ihnen möglich ist, sich vom Westen abzuwenden, dies auch tun.
Dieses Jahrhundert kann ein afrikanisches Jahrhundert werden, und das Versprechen auf eine unabhängige Zukunft, das sich in der Gründung der Organisation für Afrikanische Einheit vor sechzig Jahren manifestierte, kann sich endlich verwirklichen. Für die Menschen Europas wird das heißen, dass der Migrationsdruck schwindet, und dass sie womöglich durch Handel vom afrikanischen Aufstieg profitieren könnten; allerdings nur, wenn es gelingt, koloniale Ansprüche und koloniales Denken endlich abzuwerfen. Wenn nicht, dürfte der Wurmfortsatz Asiens in den nächsten Jahrzehnten erfahren, wie unangenehm es sein kann, völlig unbedeutend zu sein.
Mehr zum Thema - "Die eurozentrische Welt geht ihrem Ende entgegen": Lulas Ex-Berater wirft Westen Arroganz vor