Von Dr. Karin Kneissl
Seine Bücher las und lese ich mit Begeisterung, ob die Memoiren aus seiner Zeit als Nationaler Sicherheitsberater und umtriebiger US-Außenminister in den 1970er Jahren oder seine Werke über Diplomatie, China und Geopolitik. Seine Nacht-und-Nebel-Aktionen für die große Volte der USA, weg von Taiwan und hin zur Volksrepublik China, die er auf US-Seite für Präsident Richard Nixon organisierte, bleiben wohl sein außenpolitisches Husarenstück. Die Begriffe Ping-Pong-Diplomatie und Panda-Diplomatie waren geboren. Nixon würde bald darauf den Begründer des modernen China, Mao Tse-tung, in Peking besuchen – und das war zweifellos eine Bombe, die damals auf der Weltbühne einschlug. Taiwan hatte das Nachsehen.
Es war Kissinger, der entgegen den Wahlversprechen Nixons vor dessen Wahl im Jahr 1968, den Vietnamkrieg zu beenden, Waffenlieferungen forcierte, um den kommunistischen Vietkong erfolglos zu bekämpfen. Auf das Konto von Kissinger und Nixon gehen die Flächenbombardierungen mit circa 150.000 Toten in Kambodscha und Laos, die in den Krieg hineingezogen wurden. Groteskerweise erhielt Kissinger im Jahre 1973 den Friedensnobelpreis, dessen Vergabe offenbar schon seit Jahrzehnten sehr erratisch ist.
Zynischer Machtmensch
Kissinger lässt niemanden kalt. Er polarisiert und hinterlässt verbrannte Erde, auch im übertragenen Sinne. Diplomaten, die für ihn arbeiteten, haben oft eine tief sitzende schlechte Meinung von ihm. Robert G. Neumann, der 1938 aus Österreich vor den Nazis in die USA floh und dort im Außenministerium aufstieg, war mir ein väterlicher Freund, als ich in Washington im Jahr 1988 ein Stipendium hatte. Ich erinnere mich gut an die Verachtung, die der sonst so umgängliche Botschafter Neumann für seinen einstigen Chef hatte. Damals erhielt das Bild des erfolgreichen jüdischen Emigranten aus Deutschland, der für uns Studenten der 1980er Jahre eine Art akademischer Superstar war, erste Kratzer.
Neumann meinte, dass Kissinger Menschen nicht mochte. Und das machte mich stutzig, denn der Autor und Historiker Kissinger, der seine Doktorarbeit in Harvard über den absolutistischen Staatskanzler Clemens Metternich verfasst hatte, sah sich in seinen zahlreichen Werken über Staatskunst und Diplomatie sehr gerne selbst ein wenig in der Nachfolge seiner großen Vorbilder Metternich und des deutschen Reichskanzlers Otto von Bismarck. Was diese historischen Persönlichkeiten wohl auszeichnete, war Charakterstärke, denn sie hielten Kurs und ließen sich nicht einschüchtern. Eben eine solche Charakterfestigkeit fehlt Kissinger, meinte der einstige US-Diplomat aus Österreich, mit dem ich mich gerne austauschte.
Kissinger verstand sich stets als der große Realpolitiker seiner Zeit, der die Register von Fernost über Dossiers des Kalten Krieges bis zu den alliierten Juntachefs in Lateinamerika zog. Staatsstreiche in Argentinien und Chile mit Zehntausenden Verschwundenen gingen auch auf sein Konto. Menschenleben waren hierbei Figuren auf seinem globalen Schachbrett. Auch Nixon soll vom Zynismus seines Außenpolitikers, über den er gerne öffentlich spottete, überrascht gewesen sein. Roger Morris aus dem Stab Kissingers meinte: "Wenn wir Henry Kissinger nach den gleichen Maßstäben beurteilen, wie wir es mit den anderen Staatschefs uns Politikern in anderen Gesellschaften getan haben, zum Beispiel in Deutschland und Japan nach dem Zweiten Weltkrieg, dann wird er sicher irgendwann als Kriegsverbrecher verurteilt werden." Dass es noch dazu kommt, ist wohl eher zu bezweifeln. Kissinger ist fast sakrosankt, der alte Ratgeber und der allgegenwärtige Kommentator.
Was Metternich und Bismarck einem Kissinger voraushatten, das war vielleicht ihr Wissen um die Natur des Menschen und damit auch ihre Liebe zum Menschen. Liest man deren Biografien aufmerksam, so trifft man auf schillernde Persönlichkeiten, die ein Gespür für das Machbare und das Zumutbare hatten. Metternich hat schlechte Presse bis heute, doch er war nicht (nur) der brutale Kutscher Europas, als den ihn republikanische Freiheitskämpfer aus ihrer Warte sahen.
Kissinger hat das Glück, trotz aller schwarzen Flecken in seiner Vita, bis heute über sehr gute Kommunikation zu verfügen. Ihm hört die Welt oft und gerne zu. Er redet ja nicht nur, sondern sagt auch einiges. Im Frühjahr 2022, als er sehr realistisch die Territorialfragen rund um die Ukraine und vor allem die Krim benannte, die Neutralität einforderte, hätte man ihm in Brüssel und Washington zuhören sollen. Den Ukrainekonflikt hat er stets im Lichte eines erforderlichen Gleichgewichts der Kräfte in Europa erklärt und legte auch einige Punkte für neue Gespräche vor. Doch Kissinger ist mit seinen 100 Jahren mehr eine Art Orakel in Washington, wohin Generationen von Außenpolitikern pilgern und den alten Herrn befragen, seinen Anekdoten lauschen und seine "letzte Warnung" vielleicht überhören, wenn er vom Abstieg der USA und einem provozierten Konflikt mit China spricht.
Der Erfinder der Pendeldiplomatie
Kissinger hat für sich auch das Image eines vermeintlichen Universalgelehrten im Hinblick auf die Weltpolitik geschaffen. Es gibt kein Thema, zu dem er sich nicht äußert. Derzeit schreibt er an seinem neuen Buch zu künstlicher Intelligenz. Eben wie ein Metternich wollte er stets viele Schalthebel bedienen.
Intelligenz und gute Ausbildung erleichtern zweifellos das Einarbeiten in ein Dossier, aber als Krisenmanager vom Nahen Osten keine Ahnung haben, das kann dann doch Probleme aufwerfen. Im Herbst 1973 pendelte Kissinger im Flieger zwischen Israel, Ägypten und Syrien hin und her, um Israel vor der damals imminenten militärischen Niederlage angesichts der vereinten Militäroperation von Syrien und Ägypten zu bewahren. Es war Kissinger, der Israel erstmals US-Militärhilfe und vor allem viel Treibstoff zur Verfügung stellte. Die arabischen Erdölproduzenten reagierten daraufhin mit dem Ölembargo. Der Erdölpreis vervierfachte sich binnen drei Wochen.
All dies hatte Kissinger offenbar nicht sofort begriffen. In Damaskus war er fasziniert von Hafis al-Assad, den er als Bismarck von Syrien bezeichnete. Den ägyptischen Präsidenten Anwar al-Sadat gewann er bald für einen Teilfrieden mit Israel, was die Lage in der Region auch nicht verbesserte.
Kissinger ist der oft überschätzte Vermittler, der Vielschreiber und jener, der sich immer wieder aufs Neue aus der Affäre zieht. Er zehrt 50 Jahre nach seiner aktiven politischen Zeit immer noch von jenen besonderen Erfahrungen im Weißen Haus, von wo Nixon unter Schimpf und Schande vertrieben wurde. Henry würde aber immer aufs Neue auf die Butterseite des Lebens fallen, Firmen gründen, Bestseller präsentieren und herumgereicht werden.
Seinen markanten deutschen Akzent im Englischen hat er sich auch 85 Jahre nach der Flucht aus Deutschland erhalten. Es ist im zuzutrauen, dass er noch weitere Vorträge halten wird und als der alte weise weiße Mann so manches Statement macht. Man kann es mal so, dann aber auch wieder anders interpretieren, so wie seine widersprüchlichen Zusagen zur Ukraine, ob neutral oder als Teil der NATO. Eben Kissinger – das Orakel am Ufer des Potomac.
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