Von Tom J. Wellbrock
Die Zeiten, als die NATO ein Verteidigungsbündnis war, sind längst vorbei. Während man in den Anfangsjahren nach der Gründung des Bündnisses im Jahr 1949 noch von so etwas wie einer Bedrohung ausgehen konnte (wenngleich man darüber streiten kann, wie real diese war), ist spätestens seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion nicht mehr viel übrig von einer Bedrohungslage. Es sei denn, man betrachtet die NATO selbst als Gefahr für den Frieden.
Das theoretische Ende der NATO
Mit der Auflösung des Warschauer Paktes war die Existenzberechtigung der NATO im Grunde nicht mehr vorhanden. Doch vorher und nachher führten die USA, die man faktisch als Synonym der NATO bezeichnen kann, zahlreiche Angriffskriege, die allesamt illegal waren. Denken wir an Iran 1953 oder die Angriffe auf Länder wie den Irak, Syrien, Afghanistan, Serbien und Libyen. Für keinen dieser Einsätze gab es ein UN-Mandat, daher kann man es drehen und wenden, wie man will, all diese Kriege waren illegal und führten zu unermesslichem Leid bei den betroffenen Bevölkerungen.
Seit 1949 haben NATO-Länder wie Frankreich, Großbritannien und die USA mit Abstand die meisten Kriege ohne Mandat geführt, 1999 beteiligte sich auch Deutschland daran, als die Bombardierung Serbiens unterstützt wurde. Zu Verurteilungen kam es wegen des Vetorechts der wichtigsten NATO-Staaten nie. Tatsächlich verurteilte der Internationale Gerichtshof in Den Haag zwar 1986 die USA wegen des Krieges gegen Nicaragua. Der damalige US-Präsident Ronald Reagan interessierte sich jedoch nicht dafür und zeigte auf arrogante Art und Weise, wie viel Macht die USA und wie wenig die UNO oder der Internationale Gerichtshofs in Den Haag haben.
"Rettung" 9/11
Man sieht bereits hier, dass die NATO eigentlich mit Verteidigung nie viel am Hut hatte. Doch je länger die Situation nach der Auflösung des Warschauer Paktes und dem Zusammenbruch der Sowjetunion andauerte, desto schwieriger wurde es für die NATO, ihre auf Angriff, nicht auf Verteidigung ausgerichtete Praxis öffentlich zu rechtfertigen. 1991 änderte die NATO daher ihre Strategie und nannte sich selbst ein "defensives" Bündnis, was an sich schon absurd ist, denn als Verteidigungsbündnis wäre sie ja ohnehin defensiv gewesen.
Die NATO verabschiedete sich in der Folge noch mehr vom Prinzip der Verteidigung, als das ohnehin schon der Fall gewesen war. Durch die sogenannten "Out of Area"-Einsätze, etwa dem militärischen Einsatz in Bosnien-Herzegowina und dem Kosovo, wurde nun aktiv der Angriff auf andere Länder als legitimes Mittel der "Verteidigung" dargestellt. Doch richtig schlüssig argumentieren ließ sich all das nicht. Bis der 9. September 2001 kam.
Die angreifenden Flugzeuge, die in den USA zu einer Katastrophe und Tragödie führten, eröffneten ungeahnte Möglichkeiten. An dieser Stelle soll es nicht um den offiziellen Bericht zu "9/11" gehen, auch nicht um die unzähligen Unklarheiten und Widersprüche, die mit der offiziellen Version verbunden werden. Vielmehr steht die daraus entstehende Strategie im Vordergrund.
Denn mit "9/11" begann der sogenannte "Kampf gegen den Terror", der faktisch sämtliche Dämme brechen ließ. Um den Terror zu bekämpfen, waren nun alle Mittel legitim, die man sich nur vorstellen konnte, und das ist wörtlich gemeint, denn es reichte etwa die Vorstellung, der Irak besäße Massenvernichtungswaffen, um einen Angriffskrieg begründen zu können. Mit dem Beginn des "Kampfes gegen den Terror" wurden sämtliche, von den USA geführten Kriege von nun an unter das Label "Verteidigung" gestellt, mehr geht nicht.
"Terrorist" Putin
Ein "Terrorist" sei Putin, liest man immer wieder. Russland sei ein "Terrorregime", geführt von einem "Diktator", dem es nur um "Terror" gehe. Die Wortwahl ist nicht zufällig, a) um dem politischen System in Russland die maximale Bösartigkeit zu unterstellen. Was ja auch recht gut funktioniert, die Vorstellung vieler Menschen von Russland ist ein tristes, graues Land, in dem jeder, der seine Meinung sagt, sofort ins Gefängnis kommt. Um eine nicht zufällige Wortwahl handelt es sich b) aber auch, weil somit die Unterstützung der Ukraine ohne Weiteres begründet werden kann. Gegen den "Terror" kämpfen die USA ja schon seit "9/11", der Krieg in der Ukraine ist also nichts anderes als die konsequente Fortführung dieses Kampfes.
Krieg für den Frieden?
Kein Land auf der Erde hat so viele Militäroperationen (dieses Wort, das, von der russischen Seite angewendet, auf so viel Wut und Hass trifft, wird in der Wikipedia ganz offiziell für die Angriffskriege der USA verwendet) durchgeführt wie die USA. Als friedensstiftend kann man keinen dieser Kriege bezeichnen, und sogar das Eingreifen im Zweiten Weltkrieg kann und muss man ganz ohne Verklärung als eine Strategie bezeichnen, die schon damals der Schwächung Russlands (zu jener Zeit: der Sowjetunion) und Deutschlands galt. Die USA warteten außergewöhnlich lange, bis sie in den Krieg einstiegen und sorgten so dafür, dass auf deutscher und russischer Seite mehr Todesopfer zu beklagen waren, als es der Fall gewesen wäre, hätten die Amerikaner früher eingegriffen. Von der amerikanischen Unterstützung aufseiten der Wirtschaft für Hitler ganz zu schweigen.
Die NATO und die USA sind also offiziell ein Verteidigungsbündnis, das erstens stets angreift, statt zu verteidigen, und zweitens keinen Frieden, sondern Krieg, Tod und Leid bringt. Zynisch betrachtet könnte man sagen, dass der "werteorientierte Westen" in der Hauptsache den "Wert" des Krieges verteidigt. So gesehen gehören die "westlichen Werte" so schnell wie möglich in die Abfalltonne der Geschichte.
Tom J. Wellbrock ist Journalist, Sprecher, Texter, Podcaster, Moderator und Mitherausgeber des Blogs neulandrebellen.
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