"Rassismus in Brandenburg" – wie man den Osten unten hält

Jüngst wurde wieder einmal das Thema von den bösen rassistischen Ossis aufgekocht – nicht das erste Mal durch eine Luftnummer. Die Verzerrung hat Methode; aber eine Erzählung von den guten Menschen im Westen und den Nazis im Osten ist kein Beitrag zum gedeihlichen Zusammenleben.

Von Dagmar Henn

Der Anfang liegt in Köln, Silvesternacht 2015. Witzigerweise finden sich mittlerweile selbst im berüchtigten Wikipedia Angaben zu den tatsächlichen Ereignissen, und es ist die Rede von 1.200 Anzeigen nach dieser Nacht und von 394 Verdächtigen, von denen 122 Asylsuchende waren und 52 sich illegal in Deutschland aufhielten. Es ist also lange genug her, dass die Ereignisse dieser Nacht nicht völlig verleugnet werden.

Aber damals, im Januar 2016, wurde sehr schnell etabliert, dass jeder Rassist ist, der davon ausginge, dass auf dem Bahnhofsvorplatz in Köln etwas vorgefallen sei. Obwohl schon am Tag danach auch Videos von Zeugen mit Migrationshintergrund kursierten, die von den Ereignissen entsetzt waren. Und obwohl man angesichts der stets hohen Dunkelziffer – gerade im Bereich sexueller Übergriffe – davon ausgehen muss, dass die fünf Anzeigen wegen vollendeter und sechzehn wegen versuchter Vergewaltigung nicht die ganze Wahrheit wiedergeben.

Es ging ungeheuer schnell. Auf allen linken Webseiten wurde jeder beschimpft, der darauf bestand, zu diesem Rauch gebe es auch ein Feuer. An diesem Datum etablierte sich der Reflex, der seitdem immer zu sehen ist, wenn Asylbewerber oder Flüchtlinge in den Verdacht schwerer Straftaten geraten: Man müsse jetzt besonders deutlich Stellung gegen Rassismus beziehen.

Monatelang hielt sich, zumindest in jenem Teil der Gesellschaft, der sich so gern als "liberales Bürgertum" sieht, die Vorstellung, dass es sich bei der Kölner Silvesternacht nur um eine Erfindung "rechter Propaganda" handele. Und was man bei jedem widersprüchlichen und unscharfen Ereignis davor erwarten konnte, dass sich nach einigen Wochen die Sicht klärt und auf Grundlage guter Recherche aus zwei Geschichten wieder eine wird, geschah im Zusammenhang mit dieser Nacht nie. Man könnte fast Wetten darüber abschließen, dass in der Szene der Faktenchecker die Meisten noch heute Stein und Bein schwören würden, dass die Kölner Silvesternacht 2015 völlig friedlich verlaufen ist.

Die nächste ähnliche Geschichte war "Hasi, bleib hier" im Jahr 2018. Es gab einen Mord in Chemnitz, an einem Deutsch-Kubaner (eine Tatsache, die gern unterschlagen wurde) durch einen Iraker. Schon unmittelbar nach dem Mord folgte die damalige Chemnitzer Oberbürgermeisterin dem in Köln eingeübten Reflex, vergaß den Angehörigen ihr Beileid zu bekunden und warnte sogleich davor, Rechtsextremisten könnten die Tat ausnutzen.

Am Tag danach kam es zu einer großen Demonstration in der Stadt, deren Teilnehmer daraufhin nicht nur alle zu Rechtsextremisten erklärt wurden – Angela Merkel sprach sogar von einer "Menschenjagd in Chemnitz" – nicht im Zusammenhang mit dem Mord, sondern mit einem Bruchstück eines Videos, das angeblich eine Hatz auf Ausländer zeigen sollte. Dass auch das Chemnitzer Tatopfer nicht aussah wie Angela Merkel, aber dennoch von allen als Bürger der Stadt anerkannt war, spielte ebenso wenig eine Rolle wie die Tatsache, dass die vermeintliche Menschenjagd nie stattgefunden hatte. Seitdem hatte Chemnitz einen rassistischen Vorfall. Der damalige Verfassungsschutzpräsident Hans-Georg Maaßen musste gar zurücktreten, weil er die Realität dieses Vorfalls bezweifelte.

In beiden Fällen, Köln wie Chemnitz, trugen die Medien nicht zur Aufklärung bei, sondern verstärkten die aus der Politik gesetzten Behauptungen. Dass gleichzeitig während des NSU-Prozesses klar wurde, wie massiv gerade die so gern hervorgehobene rechtsextreme Szene im Annexionsgebiet mit öffentlicher Förderung durch die Verfassungsschutzbehörden aufgebaut worden war, änderte leider nichts an der Neigung, jede derartige Erzählung sofort zu glauben, selbst wenn inzwischen sogar bei der "Gründungslegende", den Vorfällen um das Rostocker Sonnenblumenhaus, Zweifel angebracht wären, ob es Wirklichkeit oder Inszenierung war.

Die Karte wird immer wieder gezogen, als wäre der Untergang der Bundesrepublik an dem Tag beschlossene Sache, an dem dem Westpublikum klar wird, dass es in so gut wie allen Fragen rechts von der Bevölkerung des anderen Teils steht. In mehr oder weniger regelmäßigen Abständen braucht es einen "rechten" Vorfall, um das gewünschte Vorurteil aufzufrischen.

Vor bald zwei Wochen gab es diese Geschichte aus Königs Wusterhausen, in der nur noch vage von rassistischen Beschimpfungen geraunt wurde, die dazu geführt hätten, dass Jugendliche aus Berlin, überwiegend mit Migrationshintergrund, von dort wieder abgereist seien. Genaue Details sind selbst zwei Wochen später nicht bekannt. Es wurde niemand verletzt, nichts ging zu Bruch.

Was nicht erwähnt wird: Es kommt im Berliner Umland öfter einmal zu Auseinandersetzungen zwischen einheimischen Jugendlichen und aus der Großstadt angereisten. Das ist nicht nur ein Berliner Phänomen, und das gab es schon zu einer Zeit, als die Großstadtjugendlichen noch keinen Migrationshintergrund hatten. Allerdings, nur im Kontext des Stichwortes "Rassismus" lässt sich daraus eine Schlagzeile machen.

Wer sich je mit jemandem unterhalten hat, der an Berliner Schulen arbeitet, weiß, dass Beschimpfungen bestens in beide Richtungen funktionieren. "Kartoffel" ist da noch die nette Version, "Schweinefleischfresser" ist schon giftiger. Was immer noch nichts besagt, denn in einer bestimmten Altersgruppe gehört Kraftmeierei gerade bei Jungs einfach dazu. Das nervt, aber wächst sich meistens aus – und zwar in beiden Varianten.

Der soziale Hintergrund im Berliner Umland ist schlicht, dass jeder Ort, der halbwegs erreichbar in Stadtnähe ist, in den letzten Jahren zugebaut wurde, und zwar mit Wohnungen für bessergestelltes Klientel, während die einheimischen Jugendlichen es mit einem Arbeitsmarkt zu tun haben, auf dem sie kärgliche Ostlöhne beziehen werden, die es ihnen zunehmend schwer machen, selbst an ihrem eigenen Ort noch eine Wohnung zu finden. Das ist der Dauerzustand und der macht keine gute Laune.

Dazu kommt, dass die neuen Speckgürtler meist noch aus dem Westen stammen. Gut denkbar also, dass sich in diesen Beschimpfungen – sofern sie wirklich stattgefunden haben – ganz andere Gefühle verbargen, die eigentlich mit ganz anderen Objekten verknüpft sind, die aber eben leider im Alltag überlegen sind und daher von der Wut, die sie auslösen, nicht erreicht werden.

Nun, früher wäre es die Aufgabe gerade sich links begreifender Journalisten gewesen, den möglichen sozialen Hintergründen nachzuspüren und die wirklichen Wurzeln des Konflikts zu suchen. Aber sobald das Stichwort Rassismus in den Raum geworfen wird, versagt jede Neugier und jeder Zweifel. Dabei war schon zu Zeiten von Pegida erkennbar, dass es eine tief sitzende Wut auf den Westen gibt, die nicht ausgesprochen werden darf.

In Orten wie Königs Wusterhausen haben die Einheimischen die Häuser, die sie hatten, oft durch Restitutionsansprüche von Westeigentümern verloren, dürfen jetzt von außen auf die Villen blicken, die auf ihren ehemaligen Grundstücken stehen, und an der Supermarktkasse den Damen und Herren Berliner Beamten die Einkäufe abkassieren oder im Speiselokal das Essen servieren. Wenn Jugendliche mit Migrationshintergrund zum Ziel der Wut werden, dann eher deshalb, weil sie durch den Migrationshintergrund als Teil der Westbevölkerung identifizierbar sind.

Die Lehrer wiederum, die ebenfalls zu den Bessergestellten gehören, sind nicht wirklich geeignet, solche sozialen Zusammenhänge wahrzunehmen. Ihre Tätigkeit beschränkt sich vor allem darauf, dass die unterschiedlichen Gruppen einander nicht an die Kehle gehen, das warum liegt weit außerhalb ihres Einflussbereichs. In ihrem Alltag ist der Begriff des Rassismus meist schlicht ein Mittel, um vorhandene Konflikte zu tabuisieren, mit Verständnis oder gar Lösung hat das nichts zu tun.

Die Jugendlichen aus Königs-Wusterhausen schafften es sogar zweimal in die Tagesschau, kurz nach der vermeintlichen Tat und ein weiteres Mal, als die Tagesschau das "Schweigen über den Rassismus" an einer Brandenburger Schule anprangerte. Dabei sind das nur Manöver zur Aufrechterhaltung der verzerrten und manipulierten Gründungserzählung der Gesamtrepublik, die nach der ökonomischen Verwüstung des angeschlossenen Gebiets zumindest moralisch etwas vorweisen können musste, und nichts anderes fand, als aus der zum Zweck des Lohndrückens ausgelösten Migration einen zivilisatorischen Fortschritt zu basteln.

Wie verzerrt die dadurch erzeugte Wirklichkeit ist, zeigt sich überdeutlich dann, wenn die Geschichte einmal andersherum verläuft und ein Übergriff gegen einen AfD-Politiker erfolgt wie vergangenes Wochenende in Schleswig. Ein Überfall mit Messerangriff nach feindseligen Presseberichten, das würde normalerweise zu einer weiteren Runde "wir alle gegen Hass und Hetze" führen, aber weil diesmal die Etiketten durcheinander geraten würden und außerdem kein bundespolitischer Honig aus der Geschichte zu saugen ist, erregte das Ereignis keine bundesweite Aufmerksamkeit.

Ginge es bei den ganzen Dramatisierungen wirklich um Menschlichkeit, dürfte diese Schieflage nicht sein. Auch ein Verbrechen an jemandem, den man nicht leiden kann, bleibt ein Verbrechen, und die Forderung nach gewaltfreiem Verhalten im Alltag richtet sich an alle gleichermaßen. Tatsächlich wäre es einem friedlichen Zusammenleben zuträglicher, würde man nicht so versessen darauf sein, die eine Gruppe als bösartig und die andere als edel darzustellen.

In Wirklichkeit gibt es Gewalt und Straftaten in jeder Variante der Gattung Mensch, so wie auch jedem Täter zugestanden werden muss, grundsätzlich zu Einsicht und Veränderung imstande zu sein. Spätestens seit der Kölner Silvesternacht wird allerdings die Wirklichkeit nach Kräften verbogen, nur um einen inneren Feind postulieren zu können. Seitdem wird diese Methode auf immer größere Teile der Bevölkerung angewandt, nur weil es die herrschende Politik absichert. Es wäre an der Zeit, zur Realität zurückzukehren.

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