Von Alexander Männer
China galt seit jeher als das bevölkerungsreichste Land der Erde, doch nun geht diese Position an Indien über, wo laut UN-Prognosen bis Mitte dieses Jahres mehr Menschen leben werden als in der Volksrepublik China. Nicht zuletzt wegen seiner schnell weiter wachsenden Bevölkerung und damit auch der steigenden Wirtschaftskraft zählt Indien mittlerweile auch zu den einflussreichsten Akteuren in der Weltpolitik.
Dass diese asiatische Großmacht während der sich jetzt grundlegend ändernden globalen Ordnung teilweise enge Beziehungen zu Russland und China unterhält und diese Verbundenheit auch noch weiterentwickeln will, sehen vor allem die Vereinigten Staaten von Amerika und deren ''Gefolge'' als großes Problem an. Doch entgegen der allgemein bekannten Vorgehensweise in Washington, D.C. und Co., daraufhin schwerwiegende Sanktionen gegen solche ''unbequemen'' Länder zu erlassen, wurde gegenüber Indien bislang eine weichere Gangart eingeschlagen.
Dennoch versucht in Anbetracht der Russland-Sanktionen sowie der wachsenden Spannungen zwischen den westlichen Staaten und China die US-Regierung die indische Führung dazu zu bringen, ihre (neutrale) Haltung bezüglich Moskaus und Pekings zu revidieren. Zumindest in Bezug auf China könnte dies mit der strategischen Einschätzung der Biden-Administration zusammenhängen, dass die riesige Volksrepublik eben diejenige Kraft sei, die den USA – neben der Wirtschaftskraft – die globale Führung auf dem Feld konkurrierender Ideologien – "Demokratie" gegen "Autokratie" – streitig mache. Während Indien, das gar als die ''größte Demokratie der Welt'' angesehen wird, für die US-Interessen derzeit keine Bedrohung darstelle.
Im Gegenteil: Die USA unternahmen bereits Schritte, um Indien durch bilaterale Beziehungen oder durch Bündnisse geopolitisch für sich einzuspannen. So wurde Indien zum Beispiel Partner des aus Washington, D.C. gesteuerten ''vierseitigen Sicherheitsdialogs'' QUAD (Quadrilateral Security Dialogue), zu dem weiter auch noch Australien und Japan gehören. Diese Vierergruppe trägt zwar noch einen informellen Charakter, langfristig wird sie von Experten jedoch als mögliche Grundlage für eine Anti-China-Allianz im indopazifischen Raum und sogar als ein asiatisches Pendant zur NATO angesehen.
Gleichzeitig ist Indien allerdings auch Mitglied innerhalb der multilateralen Organisationen BRICS und SOZ, in denen es etwa auch in Fragen der Sicherheit unter anderem mit Moskau und Peking kooperiert und mit diesen großen Partnern ganz sicher keinen globalen Konflikt vom Zaun brechen will.
Eigene Interessen stehen an erster Stelle
Im Grunde kann man feststellen, dass Indien primär eine ''strategische Neutralität" zu bewahren versucht und mit Blick auf die Auseinandersetzung zwischen den Großmächten nicht bereit ist, seine eignen Interessen zugunsten der geopolitischen Ambitionen anderer Staaten zu gefährden. Denn vor allem aus wirtschaftlicher Sicht braucht ein aufstrebendes Land wie Indien in erster Linie stabile Verhältnisse und keine Konfrontation auf internationaler Ebene, die obendrein zu Preiserhöhungen und Versorgungsengpässen etwa bei Technologien, Rohstoffen und Nahrungsmitteln führen würde. Zudem will man sich in Neu-Delhi bestimmt nicht an fragwürdigen und gefährlichen Vorhaben beteiligen, bei denen es eben nicht um Fragen der eigenen Sicherheit geht.
Dass die Indien-Strategie in Washington offensichtlich nicht nach Plan verläuft, konstatierte vor Kurzem das US-Magazin Foreign Affairs. Demnach hätten die USA in den vergangenen zwei Jahrzehnten viele Versuche unternommen, um Indien zu einen Hauptrivalen Chinas aufzubauen. Allerdings würde man in Neu-Delhi noch immer die eigenen Interessen deutlich von den US-Interessen unterscheiden und eine direkte Konfrontation mit China deshalb als unvorteilhaft betrachten, heißt es dort.
Dies verdeutliche laut dem Magazin den grundlegenden Unterschied zwischen den indisch-US-amerikanischen Beziehungen und den Beziehungen der USA zu deren engeren Verbündeten. Dazu wird als weiteres Indiz angeführt, dass die US-Führung sogar bereit gewesen sei, Indien den Zugang zu bestimmten Hochtechnologien zu ermöglichen und es mit entsprechenden Produkten zu versorgen. Indien seinerseits stellt jedoch zunehmend hinsichtlich der Lokalisierung der Produktion und der Übertragung von geistigem Eigentum (beispielsweise in Form von Lizenzverträgen) seine Bedingungen für solche Geschäfte.
In der Tat strebt Indien danach, auch von den USA bestimmte Technologien zu erwerben, aber es will nicht ausschließlich bei US-Waffenherstellern einkaufen, obwohl die in den vergangenen Jahren durchaus erfolgreich auf dem indischen Markt agierten. Stattdessen sucht man in Neu-Delhi den weiteren Ausbau der militärtechnischen Zusammenarbeit mit Moskau, weil Russland seit Jahrzehnten zu einem der wichtigsten Waffenlieferanten Indiens gehört. Nach Medienangaben sollen die Inder allein in diesem Jahr russische Rüstungsgüter im Wert von etwa zehn Milliarden US-Dollar bestellt haben.
Nicht zu vergessen sind die aktuell immer weiter verschärften westlichen Wirtschafts- und Handelsbeschränkungen gegen Russland – ein Aspekt, über den sich die indischen Politiker und deren US-Kollegen mit hoher Wahrscheinlichkeit auch künftig nicht werden einigen können. In dieser Frage ist Indien nämlich keineswegs bereit, wegen der Politik westlicher Staaten auf eigene ökonomische Vorteile zu verzichten, und weitet daher vielmehr seine Geschäfte mit den Russen – etwa im Erdölsektor – im Gegenzug sogar massiv aus. Inzwischen konnte Indien so zum größtem Lieferanten von Erdölprodukten in die Europäische Union aufsteigen, indem es die Verarbeitung von russischem Rohöl enorm gesteigert hat.
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