Der böse Russe und die deutsche Gewaltkultur

Und es geht weiter bergab. Jetzt meint ein deutscher Moderator schon, in Russland sei böse gut. Es ist aber nicht nur der Versuch des Westens, die eigene Dominanz zu halten, der zu solchen Sprüchen treibt. Es geht auch darum, das eigene Gesicht nicht sehen zu müssen.

Von Dagmar Henn

Nachdem wir schon im vergangenen Jahr gelernt haben, dass Russen keine Europäer wären, weil sie ein anderes Verhältnis zum Tod hätten, wurden wir nun belehrt, "die Gewaltkultur ist omnipräsent im Land", und man lerne bereits als Kind, dass man Opfer oder Täter sein müsse. Wie gut, dass es die deutschen Talkshows gibt; man müsste sonst sein ganzes Dasein mit Illusionen über die menschliche Zivilisation verbringen.

Aber ernsthaft – derartige Vorhaltungen ausgerechnet von den Deutschen, das ist kühn. Und erinnert an diverse andere Punkte, bei denen man spät dran war, aber danach dennoch so tat, als hätte man das Rad erfunden. Körperliche Strafen wurden beispielsweise an deutschen Schulen erst 1968 verboten; bis dahin durften die Lehrer ihre Schüler schlagen, auch mit Gegenständen wie Rohrstöcken und Linealen. Ein Gewaltverbot für Eltern gibt es noch weit kürzer; wobei man in diesem Fall anmerken muss, dass die Frage von Gewalt allein nicht entscheidend ist. Selbst gewalttätige Eltern sind für Kinder weniger schädlich als kalt-distanzierte; nur die Mischung kalt-distanziert und gewalttätig ist nicht mehr steigerungsfähig.

Das war aber die verbreitetste Variante, zumindest innerhalb des deutschen Bürgertums, bis weit über die Mitte des vergangenen Jahrhunderts hinaus. Und kaum war die Phase der Antiautoritären vorüber, folgte mit den Predigten der Art "Kinder brauchen Grenzen" gleich wieder die nächste Runde Distanz. Schließlich muss sichergestellt werden, dass die eigene Brut das Ausleseverfahren an den Schulen übersteht.

Ebenso beeinträchtigend sind die beständige Konkurrenz und die Angst vor dem Scheitern, die den Kindern bereits früh eingebläut werden; spätestens in der vierten Klasse Grundschule, in der festgelegt wird, wer Akademiker werden darf und wer es doch lieber als Anstreicher versuchen sollte … Es ist keine Gewalt, wenn Kinder, die noch keine zehn Jahre alt sind, Angst vor der Schule haben? Wenn sie sich Gedanken über gesellschaftliche Ab- und Aufstiege machen sollen?

In Russland also soll man als Kind lernen, dass man entweder Opfer oder Täter sei. Nun denn, es gibt ein Phänomen, das sehr eng mit einer solchen Atmosphäre verknüpft ist, das der Amokläufe an Schulen. Bei jeder Untersuchung stellt sich heraus, dass die Täter über viele Jahre hinweg Opfer waren, gemobbt und gequält wurden. Man kann also dieses Phänomen durchaus als Maßstab dafür nehmen, wie sehr Täter- und Opferpositionen das Schulleben dominieren. Es gibt allerdings in Deutschland mehr solcher Amokläufe als in Russland, obwohl die Bevölkerung nur etwa halb so groß ist und Waffen in Deutschland weit schwerer zugänglich sind als in Russland.

Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs waren übrigens alle Alliierten dafür, das dreigliedrige Schulsystem abzuschaffen, weil es durch die frühe traumatische Auslese die Klassengesellschaft fast bis zu einer Kastengesellschaft erstarren lässt und eine demokratische Gesellschaft eine gewisse soziale Mobilität benötigt. Erfolgreich waren diese Bemühungen aber nur in der DDR. Die BRD kehrte sehr schnell zum wilhelminischen Schulmodell zurück, das schon Kindern ihre künftigen Rollen als Verkäuferin oder Oberregierungsrat zuwies.

Was die Gewalt angeht – noch in den 60er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts beschäftigte sich das Bundesverfassungsgericht (im Westen – die DDR ging anders mit ihren Kindern um) ernsthaft mit der Frage, welche Dicke ein Gummischlauch aufweisen dürfe, mit dem ein Vater sein Kind verprügelt. Und das ist nur die eine Seite. Die andere heißt "Die deutsche Mutter" und ist ein Erziehungsratgeber, der von der Nazizeit bis 1987 immer wieder nachgedruckt wurde. Darin wurde unter anderem nahegelegt, Kinder schreien zu lassen und so wenig Berührung wie möglich zuzulassen. Empfehlungen, die die Entwicklung einer gesunden Bindung zwischen Mutter und Kind geradezu sabotieren. Und wenn da keine Bindung ist, erhält auch Gewalt einen ganz anderen Charakter, weil sie Situationen völliger Schutzlosigkeit erzeugt.

In den vergangenen Jahren kamen immer wieder Fälle auf, in denen sich die Methodik nazistischer Kindesmisshandlungen noch über Jahrzehnte gehalten hatte. Kindererholungsheime, die von SS-Ärzten geleitet wurden, beispielsweise, in denen man die Kinder zwang, Erbrochenes vom Boden zu essen. Weder die Brutalität noch die Kälte, die insbesondere die bürgerliche Erziehung prägten, verschwanden plötzlich. Und als die antiautoritäre Bewegung in ihr Gegenteil umschlug, bildeten sich neue Nischen, in denen solche Methoden fortbestehen konnten. Wer Genaueres wissen will, kann sich mit dem Haasenburg-Skandal um privat betriebene geschlossene Jugendheime beschäftigen.

Sind deutsche Gefängnisse Horte der Gewaltfreiheit und Menschenliebe? Sicher, Gewalt von unten ist noch etwas seltener als in den Vereinigten Staaten, es dauert eine Zeit, bis die Rate an Raub und Mord sich an die entwickelnde Armut anpasst, doch wer auf die Messerstechereien achtet, sieht auch hier eine Zunahme, ganz zu schweigen von der institutionellen Gewalt von oben, die man in Deutschland gerne übergeht, die aber spätestens während der Coronamaßnahmen omnipräsent und unentrinnbar wurde, und die nun die völlige Unterwerfung unter die NATO-Ziele einfordert.

Auch in diesem Zusammenhang war Hartz IV gewissermaßen das Vorspiel zu einer nun auf Krieg zugerichteten Gesellschaft. Ein Schritt, der zusammen mit der ihn begleitenden Propaganda ("Parasiten" etc.) die Wahrnehmung gesellschaftlicher Gewalt veränderte und verringerte. Der Soziologe Wilhelm Heiterer, der über Jahre hinweg die Folgen dieser Entscheidungen untersuchte, sprach vom "rohen Bürgertum."

Ein Phänomen, das in Deutschland alles andere als unbekannt ist. Dieses rohe Bürgertum war die Brutstätte der SS. Es ist das gleiche rohe Bürgertum, das heute mit Begeisterung den Behauptungen lauscht, in Russland gelte nur die Sprache der Gewalt, und das mit Begeisterung dabei ist, wenn es darum geht, den östlichen Feind zu züchtigen. Interessant, dass die Parallele, die zwischen gewalttätiger Erziehung und dem Sanktionsregime besteht, gerade jenen nicht auffällt, die sie aus eigener Erfahrung kennen müssten.

Im Gegenteil, sie erachten es auch noch als persönliche Leistung, selbst für diese Züchtigung Opfer zu bringen. Es gibt eine Rede Himmlers, in der er die versammelten SS-Leute dafür lobt, sie hätten ihre Menschlichkeit dem höheren Ziel geopfert. Das heutige rohe Bürgertum opfert wieder, sei es den Wunsch nach Kindern für den Klimaschutz oder die sichere Stromversorgung für die Ukraine; noch lieber opfert es den Fleischverzehr oder die Zukunft anderer; aber das menschliche Maß ist schon lang hinter den abstrakten Zielen verschwunden, und seien es notfalls diese ominösen "europäischen Werte".

Aber wie wohlig muss es sich für sie anfühlen, wenn man ihnen erklärt, wie gewaltbestimmt und brutal doch das Gegenüber sei. Je tiefer sie selbst in einem Kult der Gewalt versinken (und er nähert sich Schritt für Schritt dem ukrainischen Niveau), mit desto breiteren und bluttriefenderen Strichen wird der vermeintliche Gegner gemalt. In den vergangenen Jahrzehnten ist die Überheblichkeit ebenso auf ungeahnte Höhen gewachsen wie die Bereitschaft, über die allgegenwärtige Gewalt einer zutiefst zerrissenen Gesellschaft hinwegzusehen und zur Not über die Bewohner der Hauseingänge hinwegzusteigen, ohne sie wahrzunehmen, dass es allein deshalb schon des Schreckbilds eines furchtbaren Feindes benötigt. Denn er muss immer noch furchtbarer aussehen als das, was einem im Spiegel entgegen glotzt.

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