Von Wladislaw Sankin
Alles ist denkbar im Pulverdampf des Krieges. Spätestens seit sich Jewgeni Prigoschin als Chef des russischen Militärunternehmens "Wagner" äußerst medienwirksam mit der obersten Führung im russischen Verteidigungsministerium anlegt, bleibt der Konflikt fest im Fokus westlicher Medien. Dass verschiedene russische bewaffnete Gruppen – seien es eine Einheit der regulären Armee, die tschetschenische Spezialeinheit "Achmat" oder die Wagner-Gruppe – sich selbst gegeneinander bekriegen, anstatt gegen ukrainische Streitkräfte zu kämpfen, wäre wohl ein westliches Traumszenario. Da ist die Versuchung verständlicherweise groß, das Feuer eines solchen Konflikts mitanzufachen zu wollen.
Es war also nur eine Frage der Zeit, dass Meldungen wie "Wenn das so weitergeht, werden die Sicherheitskräfte das beenden" in englischsprachigen Medien erscheinen – veröffentlicht etwa beim westlich finanzierten Nachrichtenportal Meduza am 10. Mai. "Quellen, die der Putin-Administration nahestehen, haben Meduza mitgeteilt, dass Kreml-Beamte Prigoschins Äußerungen über das russische Verteidigungsministerium als 'ernsthafte Bedrohung' ansehen", schrieb Meduza.
Meduza, die auf Russisch und Englisch erscheint und im lettischen Riga ansässig ist, wurde in Russland bereits als ausländischer Agent eingestuft. In noch weiter westlich gelegenen Redaktionsstuben hingegen gehört dieses Portal auch wegen solchen "Insider-Wissens" zur gern zitierten täglichen Lektüre. Am 13. Mai lesen wir dann in der Frankfurter Rundschau: "Russland-Elite verliert angeblich Geduld mit Prigoschin: 'Werden ihm Einhalt gebieten', natürlich mit dem Verweis auf Meduza als ein "russisches unabhängiges Nachrichtenportal". Die Frankfurter Rundschau (FR) schwadroniert dann weiter:
"Im Kreml scheint man deshalb die Geduld zu verlieren, wie es jetzt in einem Bericht heißt, der sich auf Putin-nahe Quellen bezieht. 'Wenn das so weitergeht, werden die offiziellen Sicherheitskräfte ihm Einhalt gebieten', schildert einer der Informanten."
Das Problem ist nur, dass etwa 90 Prozent der 65 Prognosen, die Meduza von "kremlnahen Quellen" in 150 Publikationen während knapp dreieinhalb Jahren (von Mitte 2019 bis Dezember 2022) veröffentlicht wurden, haben sich nicht bewahrheitet, schreibt Projekt als ein anderes westlich finanziertes Portal in russischer Sprache. Die restlichen zehn Prozent fänden sich aber genauso auch in anderen Medien. Meduza verbreite "Gerüchte statt Information" kritisiert das Projekt.
Aber nun ja, Meduza ist eben keine Kreml-Propaganda, was bekanntlich das beste "Qualitätsmerkmal" für alle Medien ist. Außerdem zieht die Story um Prigoschin auch viel größere Kaliber als nur die FR an. Das Flaggschiff aller westlichen Qualitätsmedien, die Washington Post, ist an der Story dicht dran und liefert gleich noch weitere Details. Der US-Zeitung zufolge machte der Wagner-Chef sogar der Ukraine ein "außergewöhnliches Angebot": "Prigoschin sagte, wenn die ukrainischen Befehlshaber ihre Soldaten aus dem Gebiet um Bachmut abzögen, würde er Kiew Informationen über russische Truppenstellungen geben, die die Ukraine nutzen könnte, um sie anzugreifen."
Diese Information soll aus Dokumenten eines US-Geheimdienstes stammen, die auf der Chat-Plattform Discord veröffentlicht wurden, die der Weltöffentlichkeit mittlerweile als sogenannte "Pentagon-Leaks" geläufig sind. Diese Geheimnisse hatte der US-Soldat Jack Teixeira angeblich zum Protzen seinen Chat-Kameraden zugespielt. Prigoschin habe den Vorschlag seinen Kontaktpersonen beim ukrainischen Militärgeheimdienst übermittelt, mit denen er während des Krieges verdeckt Kontakte pflegte.
Die Washington Post liefert gleich noch den Grund, was die Figur Prigoschin eigentlich interessant machen sollte. "Prigoschin hat sich öffentlich mit den russischen Militärbefehlshabern angelegt, denen er wütend vorwirft, seine Truppen, die die Kriegsanstrengungen Moskaus entscheidend unterstützt haben, nicht auszurüsten und zu versorgen. Aber er ist auch ein Verbündeter des russischen Präsidenten Wladimir Putin, der Prigoschins Angebot, das Leben von Wagner-Kämpfern gegen russische Soldaten einzutauschen, als Verrat betrachten könnte."
Auch soll er sich – laut einem der geheimen Berichte – in Afrika mit hochrangigen Offizieren des ukrainischen Geheimdienstes GUR, darunter mit dem GUR-Chef Kirill Budanow (von ihm stammt das Zitat "Wir töten Russen auf der ganzen Welt") getroffen haben. Worauf Prigoschin in einem seiner kurzen Audiokommentare erwiderte, er befinde sich mit Budanow immer noch in Afrika. Auch insgesamt griff Prigoschin die "Enthüllungen" in den letzten zwei Tagen mehrfach auf und zog sie in seiner gewohnt spöttischen Manier ins Lächerliche. Um das Thema abzuhaken, sagte er schließlich:
"Sie werden versuchen, mich mit so viel Scheiße zu überschütten, wie sie in die Finger bekommen können. Nach dem Prinzip 'ein Tropfen Scheiße in einem Fass mit Honig sollte das Fass verderben'."
Für die deutschen Qualitätsmedien ist die Angelegenheit aber nicht zum Lachen, die Frankfurter Rundschau, Der Spiegel, Die Zeit und viele andere greifen die neuen "Leaks" bereitwillig auf: Der Wagner-Chef wollte laut Medienbericht offenbar (sic!) russische Truppen verraten, es seien "brisante" Vorwürfe", die die Washington Post gegen "Putins Mann fürs Grobe" und "Söldner-Boss" veröffentlichte, so Der Spiegel.
Und fühlt man sich im Kreml nach all dem endlich angesprochen? Er könne die Anschuldigungen nicht weiter kommentieren, sagte Dmitri Peskow als Sprecher des russischen Präsidenten laut der Nachrichtenagentur Interfax. "Sie sehen aber für mich ganz nach einer Zeitungsente aus", zitieren ihn nun auch die deutschen Medien. Was sie nicht zitieren, ist die nachfolgende Anmerkung von Peskow, diese Ente wäre nun in einem Medium veröffentlicht worden, das früher einmal als respektabel galt.
Und wie reagieren die russischen Medien auf die "ungeheuerliche Vorwürfe", wie sie das populäre Nachrichtenportal Readovka nennt? Es scheint, dass viele nicht einmal die Zeit finden, sich damit zu beschäftigen. Für Readovka ist die Sache ganz klar: Die USA versuchen, Zwietracht in den russischen Streitkräften zu säen. Die Meldung ist aber eher Anlass für Spott und trockenen Humor.
Was allerdings nicht heißt, dass Kontaktgesuche Prigoschins zu den Ukrainern – als ätzende Provokation – gänzlich unmöglich sind. Schließlich hatte Prigoschin in einer seiner Ansprachen auch schon einmal den ukrainischen Präsidenten persönlich zu einem Duell in die umkämpfte Stadt eingeladen. Ob als Troll, als Täuschung oder Lüge – was soll aus dem Konsum westlicher Medien hängen bleiben? Der Wagner-Chef kämpfe nur für sich allein und nicht im Interesse Russlands!
Die Diffamierung und Entmenschlichung von relevanten Figuren aber gehöre zum vertrauten Instrumentarium westlicher Lehrbücher für Farbrevolutionen, fasst der Militärkorrespondent Alexander Kots das Ganze zusammen. Westliche Leser würden dem sicherlich Glauben schenken.
Nichtsdestotrotz stochern die Washington Post und die anderen in einer Wunde, denn den Konflikt zwischen Prigoschin und den Generälen gibt es wirklich. Allerdings kennen wir ihn nur als medial übermitteltes Faktum – und zwar nur von Prigoschin selbst. Wie manche Militärbeobachter anmerken, ist die Wagner-Truppe trotz des erbitterten Widerstands der Gegenseite in Artjomowsk immer noch auf dem Vormarsch, und sie ist trotz mehrfach beklagter Munitionsknappheit nach wie vor in der Lage, den Ukrainern erhebliche Verluste zuzufügen. Wird der Konflikt aktuell also nur vorgetäuscht und hochgespielt, um noch mehr ukrainischer Soldaten in den "Fleischwolf von Artjomowsk" zu locken? Auch das ist möglich im Pulverdampf des Krieges.
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