"Bürgerrat": Ein Moralgremium zur Kochtopfkontrolle

Egal, ob Pandemie oder Klima, Vorschriften für das private Leben zu erlassen, ist ganz groß in Mode in der deutschen Politik. Das neueste Hilfsmittel: ein "Bürgerrat", der die Rechtfertigung liefern soll, das richtige Essen vorzuschreiben.

Von Dagmar Henn

Wann immer in den letzten Jahren in der Politik fragwürdig gehandelt wurde, war ganz viel die Rede von Moral. Man erinnere sich nur an diesen gruseligen "Ethikrat", der ganz plötzlich zur allein seligmachenden Institution in Fragen der Corona-Politik erklärt wurde und daraufhin, unfehlbar wie der Papst, dem Bürger erklärte, warum er nur ein guter Mensch sein kann, wenn er sich brav in Haft begäbe oder impfen ließe.

Der nun vom Bundestag beschlossene Bürgerrat Ernährung riecht schon danach. Nach einer Rechtfertigungsinstitution, die helfen soll, den ganz großen Zeigefinger zu schwingen und letztlich den Lebensstandard der breiten Massen weiter abzusenken. Man kann es ja verstehen – der große Energiefresser im menschlichen Körper ist das Gehirn; es fordert auch das meiste Protein, und weniger denkfähige Bürger sind schlicht leichter handhabbar.

Bei flüchtiger Betrachtung klingt das Ding erst einmal gut, auch wenn man sich fragt, wofür die ganzen Millionen für Meinungsforschung ausgegeben werden, wenn es dann doch diesen komischen Bürgerrat braucht, um herauszufinden, was die Bürger denken. Bei genauerer Betrachtung ist es eine verfälschte Kopie eines ursprünglich tatsächlich sinnvollen Konzepts, und es sind gerade die Verfälschungen, die zeigen, wofür dieses Instrument genutzt werden soll.

Der "Bürgerrat" hat ein technisches Vorbild namens Planungszelle, die von der Universität Bochum als Mittel der Stadtplanung entwickelt wurde. Planungszellen beschäftigen sich jeweils mit einem konkreten Projekt, in der Regel mit einem besonders umstrittenen (wie der Gestaltung eines Platzes, bei der unterschiedliche Interessen kollidieren). Die Teilnehmer an der Planungszelle werden ausgelost; ihr Einkommen wird währenddessen ersetzt.

Die Verwaltung der jeweiligen Kommune soll für die Zeit der Planungszelle zuarbeiten, sprich, das Material über die zu behandelnde Frage so aufarbeiten, dass jedes Mitglied der Planungszelle es versteht. Das ist für die Verwaltungen oft eine hilfreiche Lernphase. Zuletzt entscheidet die Planungszelle über das Projekt; diese Entscheidung wird dann, das ist eine der Voraussetzungen für dieses Verfahren, so übernommen. In den Fällen, in denen die Planungszelle genutzt wurde, war die Akzeptanz hoch, das heißt, die betroffenen Bürger fühlten sich angemessen vertreten und strittige Fragen konnten so geklärt werden.

Losverfahren sind heutzutage zwar unüblich, aber ein sehr altes demokratisches Mittel. Im klassischen Athen wurden politische Positionen nicht per Wahl, sondern per Los besetzt. Das Ergebnis ist auf jeden Fall eine bessere Abbildung der Wählerschaft als beispielsweise der heutige Bundestag mit seinem extremen Anteil an Beamten und Juristen. Außerdem kann einem natürlich auch Lenins Satz über die Köchin, die den Staat regieren können muss, in den Sinn kommen; die Zuarbeit der Verwaltung bei der Planungszelle ist genau die Art staatlicher Tätigkeit, die das ermöglichen würde.

Allerdings ist die Planungszelle nicht umsonst eine Technik aus der Stadtplanung. Stadtplanung ist in vielen Punkten eine Ausnahme. Sie agiert mit ganz anderen Zeiträumen als der Rest der städtischen Politik; manche Planungsvorhaben sind schon fünfzig Jahre alt, wenn sie umgesetzt werden. Weil die zeitliche Perspektive so langfristig ist, wird sie kaum von aktuellen Interessenskonflikten berührt und auch nicht von politischen Modevorstellungen wie der "Stadt als Unternehmen" beeinflusst. Genau das schafft den Raum für demokratische Experimente.

Der Bürgerrat möchte so tun, als wäre er wie die Planungszelle, aber er heißt nicht nur deshalb anders, weil der Bundestag keine Lizenzgebühren an die Universität Bochum zahlen will.

"Die Zufallsauswahl erfolgt nach einem mehrstufigen, stratifizierenden Verfahren. Dabei soll eine ausgewogene Beteiligung mit Blick auf die soziodemografischen Kriterien Alter, Geschlecht, regionale Herkunft, Gemeindegröße und Bildungshintergrund erreicht werden. Zudem soll der Anteil der sich vegetarisch oder vegan ernährenden Personen an der Bevölkerung im Bürgerrat abgebildet werden."

Vegan? Das sind laut Statistik 1,58 Prozent. Ja, ganz schön laut für so ein winziges Grüppchen. Das heißt, unter 160 zufällig ausgewählten Personen ganze zwei. Ungeheuer wichtig, diese Minderheit angemessen abzubilden. Was ist mit jenen, die sich koscher ernähren, jenen, die auf Paläo-Diät schwören, Rohkostlern, den Laktose- oder Cholesterinfreien etc. etc. Sobald man die gerade dominante Moralbrille ablegt, stellt man fest: Es ist entweder eine Zufallsauswahl oder nicht. Jede Anforderung, auch noch allerlei weitere Eigenschaften abzubilden, eliminiert gerade den Zufall, der die Legitimität erzeugt. Das Ergebnis ist letztlich doch eine handverlesene Gruppe.

Die Beratungen sollen "durch eine inhaltlich neutrale Moderation geleitet" und von Expertinnen und Experten "unterstützt" werden. Auch das eine Abweichung von der Planungszelle; und ganz ernsthaft, wer bitte soll "neutral" moderieren? Das Personal der Mainstreammedien, das uns die letzten Jahre über all die Predigten hielt?

Die Planungszelle funktioniert, weil sie der Verwaltung – auch deren "Expertinnen und Experten" – eindeutig eine dienende Funktion zuweist. Sie soll Fragen beantworten. Sie soll nicht eine Richtung vorgeben. Allein die Art und Weise, wie aber die "Experten" in das Konzept geschmuggelt wurden, lässt erkennen, dass genau das, was die Stärke der Planungszelle ist, die unbeeinflusste Bearbeitung, in diesem Zusammenhang nicht vorgesehen ist. Die Experten sollen "Stand und Breite der Diskussion zur jeweiligen Fragestellung" vermitteln. Damit ist der vermeintlich unabhängige Bürgerrat schon unter Kontrolle.

Und dann gibt es noch einen "wissenschaftlichen Beirat", der einem Dienstleister, der das Ganze technisch organisieren soll, bei der Auswahl der Experten beistehen soll, und der sich aus von den Fraktionen benannten Vertretern zusammensetzt.

Es ist in Summe eine Struktur, in der nichts mehr vom Potenzial einer Planungszelle übrig ist, so rundumbetreut und mit Vorgaben versehen. Was dieser Bürgerrat allerdings liefern soll, ist eine Begründung für tiefe Eingriffe ins alltägliche Leben, denn das Thema soll die Ernährung sein; selbstverständlich einschließlich Klimaerzählung, aber – dieser Punkt ist schlicht nicht vorgesehen – ohne Berücksichtigung der tatsächlichen materiellen Möglichkeiten der Bürger. Das hat in einer Zeit massiv steigender Lebensmittelpreise schon etwas von einem ganz eigenen Humor, denn es ist letztlich vor allem der Geldbeutel, der über das Menü entscheidet. Bei vielen zumindest. Und daran ändern noch so viele Ermahnungen, wie gesund doch Obst und Gemüse seien, gar nichts – Kohlehydrate und Fette sind schlicht die billigsten Kalorienquellen.

Weil es ein Parlamentsbeschluss ist, und solche Beschlüsse immer so tun, als sei die Welt gut, und vor allem die EU, wird natürlich auch so getan, als hätte die EU-Politik nicht oftmals ungefähr die gegenteilige Wirkung dessen, was ursprünglich erreicht werden sollte. Ist es ein Qualitätsgewinn in der Ernährung, wenn kleine Metzger so lange mit EU-Vorschriften über Temperaturmessungen beim Räuchern von Würsten gequält werden, bis sie aufgeben, und stattdessen nur noch die Supermarktware erhältlich ist? Nein, ist es sicher nicht. Dennoch hat diese Politik, die angeblich die hygienische Qualität der Produkte steigern soll, die Konsequenz, dass regionale Produkte durch Industrieware ersetzt werden. Das wären Themen, mit denen sich ein solcher Rat befassen sollte, ehe eine Stellungnahme zu Insekten im Essen abgegeben wird; aber solche Themen stehen nicht auf der Liste.

"Was erwarten die Bürgerinnen und Bürger in der Ernährungspolitik vom Staat? Wo soll er aktiv werden und wo nicht?" Diese Fragestellung deutet schon an, dass es darum geht, Spielräume auszuweiten. Wohin die Reise geht, lässt sich lokal bereits an entsprechenden Versuchen erkennen: fleischfreien Volksfesten beispielsweise. Da bleiben dann zwar die Vegetarier unter sich, aber das hindert grüne Stadtregierungen nicht, es zu verordnen.

Charmant auch dies hier: "Wie können die Bürgerinnen und Bürger bei Kaufentscheidungen im Hinblick auf eine gesunde Ernährung besser unterstützt werden?" Das ist eine Frage, für deren Beantwortung man nicht einmal eine Minute nachdenken muss; die Antwort für die Meisten lautet schlicht: mit mehr Geld. Aber das ist nicht gemeint. Das gesamte Konzept dieses Bürgerrats macht aus Fragen, die vorwiegend im Feld der Ökonomie liegen (schon vor vierzig Jahren war das Ziel der EU, alle landwirtschaftlichen Betriebe mit weniger als 200 Hektar zum Verschwinden zu bringen, und inzwischen hat sie dieses Ziel weitgehend erreicht) und auf dem die dominanten Akteure große Lebensmittelketten sind, Fragen der Moral, für die man mithilfe dieser gefälschten Partizipation endgültige Antworten erlassen kann.

Und es ist ein Feld, auf dem geschummelt wird, dass einem schlecht werden kann, und auf dem die Moral vielfach genutzt wird, um rein ökonomische Entscheidungen mit einem moralischen Kränzlein zu versehen. Schließlich klingt es viel besser, wenn man den Eltern von Kindergartenkindern erklärt, es gebe zukünftig kein Rind- und Schweinefleisch mehr zu essen, weil man alle ethnischen und religiösen Gruppen respektieren wolle, als ihnen zu sagen, es gibt jetzt nur noch Hühnchen, weil das am billigsten ist. Jeder mag anhand seiner persönlichen Erfahrung überprüfen, wie oft solche Argumente damit enden, dass unterschiedliche Speisen angeboten werden, und wie oft damit, dass irgendwie die billigste Variante übrig bleibt.

Eines jedenfalls ist sicher – dieser Bürgerrat wurde nicht geschaffen, um den Angehörigen des Bundestags zu erklären: "Der Inhalt meines Kochtopfes geht euch rein gar nichts an." Im Gegenteil. Er ist das Feigenblatt vor dem Streben einer verblendeten, parareligiösen Politik, nun auch noch das Essen, wie die Sexualität, der Lust zu berauben und unter eine asketische Kuratel zu stellen, verglichen mit der die Sexuallehre von Pillenpaule in den Sechzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts geradezu ein Hort menschlicher Freiheit war. Wenn man betrachtet, wie erbarmungslos dieser grün getriebene Wahn der Lust, Freude, Nähe, Innigkeit und Intimität den Garaus macht, gewinnt selbst der Katholizismus einen gewissen Charme. Der war immerhin mit dem Sonntag zufrieden und musste seinen Katechismus nicht tagtäglich durch den Äther jagen.

Übrigens – die Nummer mit dem Bürgerrat diente nebenbei auch dazu, einen Antrag der AfD auf Einführung bundesweiter Volksentscheide abzulehnen. Die, wie jüngst eine Umfrage der Friedrich-Ebert-Stiftung belegte, tatsächlich die Mehrheit der Bevölkerung wünscht (wenn auch mit Sicherheit nicht, um vorzugeben, was in ihren Kochtopf kommt). Gleich, ob das nun geschah, weil der Antrag von der AfD war, oder weil die Bundestagsparteien eine solche Einmischung des Wahlvolks in ihr Geschäft nicht wünschen – diese Art, das Thema zu versenken, war ausgesprochen unwürdig.

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