Von Dmitri Orechow
1941, wenige Wochen vor dem Überfall auf die Sowjetunion, sprach Adolf Hitler seine berüchtigten Worte:
"Der Kampf um die Hegemonie in der Welt wird für Europa durch den Besitz des russischen Raumes entschieden ... Der russische Raum ist unser Indien, und wie die Engländer es mit einer Handvoll Menschen beherrschen, so werden wir diesen unseren Kolonialraum regieren. Den Ukrainern liefern wir Kopftücher, Glasketten als Schmuck und was sonst Kolonialvölkern gefällt."
Seine Vision von der Zukunft des russischen Volkes vermittelte Hitler in einer anderen berühmten Formulierung aus demselben Jahr:
"Unser Mississippi müsse die Wolga werden, und nicht der Niger."
Der Mississippi war, wie wir uns erinnern, die Grenze, über die der dritte Präsident der USA, Thomas Jefferson, die Indianer hatte vertreiben wollen. Hitler hingegen war überzeugt, dass die Angelsachsen, die "die Millionen Rothäute auf ein paar Hunderttausend heruntergeschossen haben und nun den bescheidenen Rest in einem Käfig unter Beobachtung halten", den Deutschen das richtige Vorbild für den Umgang mit den Russen gegeben hatten. Seiner Ansicht nach sollte sich im "Deutschen Osten" (also in Russland) "ein ähnlicher Prozess wie die Eroberung Amerikas zum zweiten Mal wiederholen".
Hitler nannte die Russen nicht umsonst "Rothäute". Letztlich war sein Krieg gegen die Sowjetunion nichts anderes als ein weiterer Kolonialkrieg des Westens. Und alle massenweise begangenen bestialischen Gräueltaten Hitlers – Mord, Vertreibung, Herabwürdigung von Menschen zu bloßem Arbeitsvieh – waren im Westen schon zuvor erprobt worden: Insbesondere Deutschland hatte Anfang des 20. Jahrhunderts Völkermord an den Herero und Nama in Südwestafrika begangen; ähnliche Verbrechen waren von den Franzosen, den Niederländern, den Belgiern, den US-Amerikanern und den Briten begangen worden.
"Der Faschismus ist in Indien schon lange unter dem Namen Imperialismus bekannt."
Dies schrieb Jawaharlal Nehru, der immer wieder betonte, dass der indische Freiheitskampf Teil des weltweiten Kampfes gegen Faschismus und Imperialismus sei.
Ebenso war auch der Freiheitskampf der Völker der Sowjetunion in den Jahren 1941 bis 1945 ein Teil des weltweiten Kampfes gegen Faschismus und Imperialismus. Leider haben die meisten Menschen in der Sowjetunion und heute in der Russischen Föderation sowie den ehemaligen Sowjetrepubliken das irgendwann vergessen – und sind der Versuchung erlegen, den Kampf der Sowjetunion zu einer Ausnahme zu erklären. In einem gewissen Sinne, was das Ausmaß und die Intensität der Feindseligkeiten, die Anspannung aller Kräfte der Gesellschaft und die Zahl der Opfer betrifft, war das tatsächlich der Fall.
Aber insgesamt gesehen ist es einfach wesentlich unwahr. Und indem wir diese Unwahrheit annahmen, begaben wir uns auf überaus dünnes Eis. Indem wir in die Anerkennung des angeblich außergewöhnlichen Charakters unseres damaligen Kampfes einwilligten, trugen wir die für den Westen bequeme Interpretation mit: Der deutsche Nationalsozialismus sei ein völlig außergewöhnliches, einmaliges Ereignis gewesen – etwa genauso einzigartig wie die Landung der Marsmenschen in Surrey, die im Roman "Krieg der Welten" von H. G. Wells beschrieben wird. Schließlich waren ja gerade die Henker von Indianern und Indern besonders darauf bedacht, so zu tun, als hätten sie nichts mit ihrem Zögling gemeinsam. Dafür schrieben sie als Ursachen des Phänomens Hitlerismus ausschließlich die deutschen nationalen Eigenheiten, die ach so rätselhafte Bewegung namens Nationalsozialismus, bestimmte Nuancen der deutschen Geschichte und das böse Genie Hitlers fest – eines Psychopathen, den ja , wie es hieß, nur diese "Hunnen" haben überhaupt hervorbringen können.
Nun existierte der Faschismus jedoch, wie oben angedeutet, schon vor Hitler (hier bezieht sich der Autor, wie es in Russland landläufig getan wird, offensichtlich auf den Faschismus als eine besonders anti-egalitäre Unterart der totalitären Staats- und Gesellschaftsformen, die das Dritte Reich innehatte, ohne dass er dort explizit proklamiert wurde wie in Italien – und meint zwingend das Nazitum als die dem Dritten Reich zugrunde gelegte menschenhassende Ideologie untrennbar mit. Anm. d. Red.). Und auch nach dem Jahr 1945 war er beileibe nicht vom Angesicht der Erde getilgt. Am Ende des Krieges fanden die westlichen Demokratien für ihre jeweiligen Nazi-Häftlinge Arbeitstätigkeiten gemäß Qualifikation – und kommandierten sie in ihre kolonialen Strafarmeen ab: Niederländische SS-Männer wurden zum Beispiel zur Bekämpfung der nationalen Befreiungsbewegung in Indonesien eingesetzt, und deutsche SS-Männer, die von den Franzosen gefangen genommen worden waren, wurden ins damalige Indochina geschickt. (Weiteren davon wiederum zahlt Deutschland bis heute Renten, die die Opferrenten übersteigen. Anm. d. Red.) Die traurige Wahrheit besteht ja eben darin, dass Hitlers Henker auch nach dem 9. Mai 1945 weiterhin Menschen töteten – nur eben in der Dritten Welt und diesmal im Bündnis mit den Franzosen und Briten.
Die Definition des Nazismus als angeblich ausschließlich deutsches Phänomen, das sehen wir jetzt, hätte die Sowjetunion damals nicht anerkennen dürfen: Dies ermöglichte nämlich der braunen Pest, sich unter anderen Namen in der westlichen Welt weiter auszubreiten. Dabei hatten viele Menschen uns davor gewarnt. Simone Weil schrieb, dass der dem Hitlerismus zugrunde liegende Impuls in der Geschichte, der Kultur und dem Alltagsdenken des gesamten Westens eine äußerst wichtige Rolle spielte – und immer noch spielt. Ihrer Ansicht nach war Hitler nur eine Inkarnation eines allerdings anhaltenden westlichen Phänomens. Weil betonte, dass man den Faschismus in Europa nicht mit dem einen Maßstab und den absolut gleichen Faschismus (ja, man nehme ruhig den französischen) in den Kolonien nicht mit einem völlig anderen Maßstab messen könne. Diese Ansicht vertrat auch William Dubois. Er stellte fest:
"Es gab keine Gräueltat der Nazis – seien es Konzentrationslager, Massenverstümmelung und Massenmord, Schändung von Frauen oder grässliche Vergehen gegen die Kindheit –, die die christliche Zivilisation oder Europa nicht schon seit Langem praktiziert hätte: gegen Farbige in allen Teilen der Welt im Namen und zum Schutz einer 'überlegenen' Rasse von Menschen, geboren, um die Welt zu beherrschen."
Die martinikanischen Antikolonialisten Aimé Césaire und Frantz Fanon schrieben in ihren Büchern und Reden das Gleiche; und der französische Résistance-Kämpfer und Philosoph Jean-Paul Sartre höchstselbst schrieb:
"Die Republikaner in Frankreich … sind die Faschisten in Algerien."
Der Philosoph wies darauf hin, dass der Kolonialismus die Franzosen mit Rassismus infiziere und die junge Generation Frankreichs "entgegen ihrem Wesen im Krieg zu kämpfen" verpflichte und "im Namen der nationalsozialistischen Prinzipien umkommen" lasse – dieselben Prinzipien, gegen die die französische Résistance vor damals nur zehn Jahren gekämpft hatte. Sartre rief schließlich dazu auf, dem Faschismus den Garaus zu machen – "wo immer er existiert".
In seiner viel beachteten "Völkermord-Rede" machte Sartre darauf aufmerksam, dass auch der damalige Krieg Washingtons gegen das vietnamesische Volk nach dem zuletzt von Hitler aktualisierten Muster ablief:
"Die Wahrheit des Krieges in Vietnam stimmt mit allen Erklärungen Hitlers überein. Er hat die Juden getötet, weil sie Juden sind. Die US-amerikanischen Streitkräfte foltern und töten Männer, Frauen und Kinder in Vietnam, weil sie Vietnamesen sind."
Jedenfalls warnten Sartre und viele andere Intellektuelle: Der Faschismus ist nicht besiegt, er setzt seinen Siegeszug fort. Aber die Sowjetunion stimmte mehr und mehr mit der westlichen Propaganda überein, die den Nazismus als ein ausschließlich deutsches Phänomen darstellte, das auf die Zeit von 1933 bis 1945 begrenzt gewesen sei. Die Gründe für solches Denken in der UdSSR liegen auf der Hand: Wir empfanden Dankbarkeit für die Lend-Lease-Lieferungen, für die zweite Front; wir wurden durch die russische Friedfertigkeit, durch Großzügigkeit, durch Anstand am Einsehen der Wahrheit gehindert. Kurzum, die Erinnerung an das Treffen an der Elbe war uns heilig.
Es gab jedoch noch einen anderen Grund. Wir wollten uns wirklich im selben Lager sehen wie die "Weißen und Fortschrittsgewandten" – jene, die wir seit Zeiten Peters des Großen als unsere Lehrer verehrt hatten.
Und nach dieser einlullenden Interpretation war das Böse auf der Welt im Jahr 1945 von den alliierten Mächten besiegt worden – jetzt galt es nur noch, sich auf einen Weg der friedlichen Koexistenz zu einigen und regelmäßig den gefallenen Hitlerismus zu schelten. Das taten wir dann auch.
"Schlimmeres als den deutschen Faschismus gibt es nicht", sagten wir – als ob es die Völkermorde an den Indianern in Nordamerika, die Massaker an den Iren, die Massaker an den Schwarzen in den USA, die Marter Afrikas, die von den Briten orchestrierte Hungersnot in Bengalen, die vielen Völkermorde in Asien, Lateinamerika, Australien und Ozeanien oder die ganzen Interventionen des Westens auf der ganzen Welt nicht gegeben hätte.
"Nichts ist schlimmer als der deutsche Faschismus", sagten wir, als die US-Amerikaner vietnamesische Dörfer niederbrannten. "Es gibt nichts Schlimmeres als den deutschen Faschismus", sagten wir, als ihre Bomben auf das kleine Kambodscha niederhagelten. "Es gibt nichts Schlimmeres als den deutschen Faschismus", sagten wir, als die angloamerikanische Koalition den Irak marterte.
Wie aber unterscheiden sich denn der Massenmord und die Marter all dieser Menschen, die von den westlichen Rassisten aus wirtschaftlichen und politischen Gründen begangen wurden, überhaupt von dem, was wir selbst während des Großen Vaterländischen Krieges über uns ergehen lassen mussten? So ist es heute üblich, dass wir uns über die Erklärungen westlicher Politiker über den Völkermord an der Zivilbevölkerung im Donbass empören, dies sei "etwas anderes". Doch haben wir nicht selbst die Formel "Das ist etwas anderes" in Bezug auf Indianer, Lateinamerikaner, Asiaten und Afrikaner ein Stück weit übernommen?
Dabei ist der deutsche Faschismus lediglich eine Übertragung bereits praktizierter kolonialer Methoden auf Europa. Nur dass die Länder und Völker, die von den Nazis in Europa angegriffen worden waren, vergleichbare Kulturen, Armeen, Waffen und Verbündete gehabt hatten. Die polnische Regierung zum Beispiel hatte erfolgreich in London Zuflucht suchen können; schon im Sommer 1941 hatten sowjetische Flugzeuge Berlin bombardiert. Doch was wäre, wenn die Faschisten ihren Angriff auf nur mit Speeren und Bögen bewaffnete Menschen geführt hätten? Menschen, für die sich niemand einzusetzen bequemt hätte?
Der Kolonialismus in der Dritten Welt war schlimmer als der Faschismus in Europa, weil dort die gleichen Verbrechen an Menschen begangen wurden, die sich jedoch anders als die Völker in Europa nicht wehren konnten – ja, oft nicht einmal verstanden, was überhaupt geschah. Die Herero oder etwa die Tasmanier hatten nicht ein einziges Maschinengewehr.
Indem wir Hitlers Faschismus zu einer Einmaligkeit, zum Schlimmsten auf der Welt erklärten, indem wir den Faschismus von seiner Wurzel – dem Kolonialismus – loslösten, verloren wir den Blick für das Geschehen in der Welt und verloren den Feind aus dem Auge. Schlimmer noch, wir hatten diejenigen verraten, die den Kampf gegen das Nazi-Böse in der Dritten Welt fortgesetzt haben. Und während wir jedes Jahr unseren "Endsieg" über die braune Pest feierten, beging der Westen weiterhin Verbrechen gegen die Menschheit, baute ein neues Imperium auf und bereitete sich auf neue Kriege vor – bereit, es nach dem Bezwingen der Inder, Afrikaner, Lateinamerikaner, Vietnamesen, Indonesier und Araber eines Tages wieder mit den Russen aufzunehmen.
Heute setzt der neokoloniale rassistische Westen unter der Galionsfigur Joe Biden in der Ukraine den alten Hitler-Plan um, der für die Ukrainer Glasperlen und für die Russen den Tod vorsieht. Es ist unangenehm, dies zu sehen. Viel bequemer war doch der Gedanke, dass wir ja zusammen mit aufgeklärten Nationen den einzigartigen Todesgeist des deutschen Faschismus bewältigt hätten.
Diese falsche Vorstellung führte uns an den Abgrund. Doch mit dem Abwerfen der Scheuklappen erlangen wir eine Chance, die wir als freiwillig Blinde nicht hatten.
Übersetzt aus dem Russischen. Zuerst erschienen bei Wsgljad.
Dmitri Orechow (1973, Leningrad) ist ein russischer Schriftsteller, Journalist sowie Autor von Drehbüchern für Animationsfilme und Dramen. Cum laude-Absolvent der Sankt Petersburger Staatsuniversität als Philologe und Orientalist. Seine Werke verkauften sich in einer bisherigen Gesamtzahl von über einer Million Exemplaren. Seine Kommentare veröffentlicht Orechow bei russischen Medien wie der Wsgljad, aber auch auf seinem Telegram-Kanal.
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