Von Tom J. Wellbrock
Die allgemein kommunizierte Zahl der Opfer des Großen Vaterländischen Krieges in der Sowjetunion lautet: 27 Millionen. In der Zeit trägt ein Artikel zum Thema als Titel diese Zahl, statista.com beschränkt sich auf 24 Millionen Todesopfer, die NZZ kommt auf 27,9 Millionen, die "Bundeszentrale für politische Bildung" legt sich ebenfalls auf 27 Millionen fest. Die Liste der Quellen könnte hier munter weitergeführt werden, vermutlich ohne je ein Ende zu finden.
Bei Wikipedia sind unterschiedliche Zahlen zu finden, die auf verschiedenen Quellen beruhen. Die höchste Zahl der sowjetischen Opfer liegt bei 40 Millionen, die der russische Historiker Wladimir I. Koslow 1989 schätzte. Er "bezog dabei auch Opfer unter Zwangsarbeitern, Repatriierten, im Holocaust ermordete sowjetische Juden und aus Kriegsgründen in stalinistische Lager Verschleppte mit ein." Die niedrigste Zahl gab Stalin selbst an, da er sich laut dem Historiker Andreas Hilger nicht die Blöße geben wollte, durch eine zu hohe Opferzahl Schwäche zu zeigen. Hilger dazu:
"Stalin wollte vor den ungeliebten Alliierten keine Schwäche zeigen und nannte viel zu geringe Zahlen. Von 'einigen Millionen' gefallenen, ermordeten oder verhungerten sowjetischen Opfern des deutschen Vernichtungskrieges gegen die UdSSR konnte keine Rede sein. Während Stalin rund sieben Millionen festschrieb, erhöhte sein Nachfolger Nikita Chruschtschow die offizielle Angabe auf 20 Millionen. Doch auch dies war noch viel zu wenig."
Viel zu wenig? Aber nicht doch! Eher zu viel, befand der Spiegel jetzt.
Der Spiegel: Auf beiden Augen blind
Von dieser Zahl, von diesen 27 Millionen, will der Spiegel nichts wissen. Und so nennt er eine neue, deutlich niedrigere Zahl:
"Der 9. Mai ist einer der wichtigsten Feiertage in Russland, an dem die Menschen der enormen Opfer gedenken, die die Sowjetunion während des sogenannten Großen Vaterländischen Krieges von 1941 bis 1945 gebracht hat. Rund 18 Millionen ihrer Bürgerinnen und Bürger kamen nach westlichen Schätzungen dabei ums Leben. Sowjetische Schätzungen gingen von deutlich höheren Zahlen aus. Dieses Jahr ist der Feiertag noch emotionaler aufgeladen, da Russland um Tausende Soldaten trauert, die in dem fast 15-monatigen Krieg in der Ukraine getötet wurden."
Am Ende des Textes heißt es weiter in einer Anmerkung:
"Anmerkung der Redaktion: In einer früheren Version war von 27 Millionen im Zweiten Weltkrieg getöteten sowjetischen Bürgerinnen und Bürger die Rede. Die genaue Zahl ist jedoch unbekannt. Wir haben die Aussage präzisiert."
"Präzisiert" hat der Spiegel also. Und die genaue Zahl sei unbekannt. Man kann natürlich darüber streiten, welche der oben genannten Zahlen (vielleicht noch bis auf zwei Kommastellen) korrekt ist. Unbestritten ist jedoch, dass die Sowjetunion eher an die 30 Millionen Opfer heranreicht als an die 20 Millionen.
Bemerkenswert ist die Aussage, die genaue Zahl sei unbekannt. Und selbst wenn man das mit ganz viel Wohlwollen bestätigt, bleibt doch die Frage im Raum, wie der Spiegel auf seine 18 Millionen kommt. Und warum tut er das?
Alles halb so schlimm ...
Bekanntlich ist der Marsch des "Unsterblichen Regiments" in Russland in diesem Jahr aus Sicherheitsgründen abgesagt worden. Doch auch in Berlin sollte der Opfer und Widerstandskämpfer gedacht werden. Daraus wurde jedoch nichts, zumindest nicht so, wie man es als Teilnehmer als angemessen empfunden hätte. Mit Beschluss des Berliner Oberverwaltungsgerichtes war das Tragen und Zeigen russischer Fahnen am 9. Mai 2023 verboten. Die Begründung:
"Die Prognose der Polizei, dass die Symbole angesichts des fortdauernden Angriffskrieges gegen die Ukraine geeignet seien, Gewaltbereitschaft zu vermitteln, treffe zu. Denn sie könnten im aktuellen Kontext jedenfalls als Sympathiebekundung für die Kriegsführung verstanden werden."
Das gilt aber offenbar nicht für ukrainische Fahnen und Symbole. Die waren erlaubt. Das ist schon deswegen interessant, weil die ukrainische Regierung vor und nach Beginn des aktuellen Konflikts am 24. Februar 2022 im Land Opposition, Medien und orthodoxe Kirche mit einem brutalen Kahlschlag belegt hat. Alles muss raus, könnte man sagen, und so bleibt in der Ukraine nicht mehr viel übrig von kritischen Medien, einer freien Opposition oder der Glaubensfreiheit.
Abgesehen von der absurden Begründung des Oberverwaltungsgerichtes, die sich auf eine möglicherweise eintreffende Situation bezieht, die jedoch abstrakt ist und folglich kaum justiziabel sein kann, ist die Richtung klar: An die Stelle der Opfer des nationalsozialistischen Vernichtungsfeldzuges in der Sowjetunion wird die "Schuld" der Russen am aktuellen Ukraine-Krieg gesetzt. Aus dem Thema des Sieges über den Nationalsozialismus wird das Thema des Angriffskrieges gegen die Ukraine gemacht.
Das hatte auch schon Außenministerin Annalena Baerbock fertig gebracht, als sie auf Twitter schrieb:
"Wir leben heute in #Freiheit, weil andere für unsere Freiheit gekämpft haben. Dass der #8Mai für Deutschland und #Europa ein Tag der Befreiung war, ist auch 78 Jahre später unser unermessliches Glück."
Russland bzw. die Sowjetunion kommt bei Baerbock einfach nicht vor. Das lässt sich als unterlassene Benennung der historischen Fakten einordnen, ebenso wie die vom Spiegel sogenannte "präzisierte" Zahl der sowjetischen Opfer. Darauf in einem Kommentar hingewiesen, tobte das Baerbocksche Twittervolk. Immerhin habe die Außenministerin auch andere Länder nicht genannt, daher sei der Vorwurf unsinnig. Es dauerte nicht lange, bis das geschah, was Baerbock vermutlich beabsichtigt hatte: Heftige Angriffe auf die vermeintlichen Verbrechen der Sowjets im Zweiten Weltkrieg, die darin gipfelten, der Sowjetunion gemeinsame Sache mit Hitler zu unterstellen. Und überhaupt: Die Sowjets hätten ja schon im Zweiten Weltkrieg unzählige Ukrainer getötet, seien also erstens nicht besser als Hitler und zweitens damals nicht schlimmer als heute gewesen.
Das Verschweigen der Sowjetunion und …
Um die deutsche Haltung zu einem historisch wichtigen Tag zu unterstreichen, reichen einige Sätze aus einem Text der Tagesschau:
"Am 8. Mai 1945 siegten die Alliierten über Nazi-Deutschland. An vielen Orten wird heute an den historischen Tag erinnert – insbesondere in Berlin."
Und dieser:
"Anlässlich des Jahrestages rief Bundeskanzler Olaf Scholz zur Verteidigung des Rechtsstaates auf: 'Vor 78 Jahren wurden Deutschland und die Welt von der Gewaltherrschaft des Nationalsozialismus befreit', erklärte der SPD-Politiker auf Twitter. 'Dafür bleiben wir immer dankbar.'"
Und dieser:
"Kulturstaatsministerin Claudia Roth bezeichnete den Tag der Befreiung Deutschlands vom Nationalsozialismus als international wichtiges Zeichen. 'Dieses Datum des Sieges der Alliierten bedeutete das Ende des von Deutschland begonnenen Angriffs- und Vernichtungskrieges, der in ganz Europa unermessliches Leid und Zerstörung verursacht hat', sagte Roth."
Die Sowjetunion wird erneut nicht genannt, und die oben angemerkte Tatsache, dass auch sonst kein Land beim Namen genannt wird, ist leicht zu erklären: "Die Alliierten", damit werden Länder wie die USA, Frankreich oder England assoziiert. In der allgemeinen Lesart gehört das heutige Russland ebenso nicht zu den historischen Alliierten wie es nicht zu Europa gehört. Beides ist falsch, wird aber rhetorisch transportiert.
Um 'den Sack zuzumachen', legt Claudia Roth noch einmal nach:
"Roth erinnerte zugleich an den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine: 'Menschen verlieren deshalb ihr Leben, ihre Lieben, ihr Zuhause, und Putins Russland versucht, ihnen ihre gesamte eigenständige Kultur zu nehmen. Für die Propaganda zu diesem verbrecherischen Angriffskrieg missbraucht Putin auch die Erinnerung an den 8. Mai in übelster Form.' Dem müsse deutlich entgegengetreten werden, so Roth."
Ein Missbrauch liegt hier in der Tat vor, vorgenommen aber von Claudia Roth, die mit dem Schwenk auf den aktuellen Konflikt in der Ukraine die Leistungen der Roten Armee nicht nur relativiert, sondern durch ihr Schweigen über die Rolle der sowjetischen Soldaten im Zweiten Weltkrieg einen Mantel der Bedeutungslosigkeit legt.
Auf der anderen Seite ist nur konsequent, was hier zu beobachten ist. So wie die Vorgeschichte ausgeblendet und völlig totgeschwiegen wird, die zum aktuellen Ukraine-Krieg geführt hat, wird die Geschichte des Endes des Nationalsozialismus lückenhaft erzählt, werden die Leistungen der westlichen Alliierten (die sich recht viel Zeit gelassen haben, um endlich in den Zweiten Weltkrieg einzugreifen) erhöht und die der Sowjets erniedrigt.
… die Relativierung des Nationalsozialismus
Als eine der letzten Vernünftigen spricht die Politikerin Sevim Dagdelen aus, was offensichtlich ist:
"Offizielle Vertreter Russlands und Belarus' werden nicht mehr eingeladen, Einladungen von diesen wiederum werde nur 'nach Einzelfallprüfung' nachgekommen – es liegen allerdings keine mehr vor. Mit Verweis auf den Ukraine-Krieg hat die Bundesregierung sämtliche Kooperationen mit Russland 'in Bezug auf Gedenken und Forschung zu NS-Verbrechen' auf Eis gelegt. Das gelte auf unbestimmte Zeit. Zivilgesellschaftlichen Projekten, die vom Bund gefördert werden, ist jegliche Kooperation mit staatlichen Stellen in Russland untersagt, selbst wenn es nur darum geht, Ausstellungen zu deutschen Verbrechen in russischen Museen zu zeigen."
Das passt. Gedenken und Forschung zu NS-Verbrechen werden also bis auf Weiteres nicht länger stattfinden. Und für den Fall, dass Museen sich mit dem Thema beschäftigen wollen, wird auch ihnen gleich mal präventiv die Daumenschraube angelegt. Doch es wird noch schlimmer:
"Und während die Bundesregierung Russland 'geschichtsverzerrende Propaganda' vorwirft, schweigt sie sich zu propagandistischen Nazivergleichen der ukrainischen Führung aus. So hat Präsident Wolodymyr Selenskyj Russland von der Bundesregierung unbeanstandet und ohne Konsequenzen die 'Endlösung der ukrainischen Frage' unterstellen oder die von Russland installierten Gouverneure als 'Gauleiter' bezeichnen können. Kein Wort der Kritik und der Distanzierung ist von Berlin schließlich darüber zu hören, dass in der Ukraine Faschistenführer und Judenmörder wie Stepan Bandera und Roman Schuchewitschals Helden verehrt und mit Denkmälern sowie Straßenumbenennungen gewürdigt werden."
Und Dağdelen geht darüber hinaus auf die sprachlichen Entgleisungen der Politik ein, die ganz sicher kein Zufall, sondern eine bewusste Form der Geschichtsverzerrung sind:
"Dazu passt, dass Bundeskanzler Olaf Scholz und die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock Russland mit Blick auf den Krieg in der Ukraine einen 'Vernichtungskrieg' und 'Zivilisationsbruch' vorwerfen – Charakterisierungen, die bislang dem faschistischen Überfall Deutschlands auf die Sowjetunion 1941 vorbehalten waren. Die Bundesregierung prescht vor, wenn es um die Umschreibung der Geschichte geht. Die Verbrechen des Naziregimes werden in einem Schritt relativiert und begrifflich auf Russland verschoben. Ein Manöver, das zugleich geschichtspolitische Entlastung bringt und Munition für den Stellvertreterkrieg der NATO gegen Russland liefert. Der sowjetische Marschall Schukow soll einmal gesagt haben: 'Wir haben sie vom Faschismus befreit, das werden sie uns nie verzeihen.' Nichts könnte die Haltung der Bundesregierung und ihren Angriff auf die Erinnerung in dieser Zeit besser beschreiben."
Womit wir wieder die Brücke zum Spiegel schlagen können. Der durchsichtige Versuch, die Geschichte umzuschreiben und den Sowjets die Rolle als wichtigste Kämpfer gegen den Nationalsozialismus zu entziehen, hat sich am 8. und 9. Mai 2023 in einer Weise gezeigt, die in Russland nur als das verstanden werden kann, was es ist: eine Relativierung der Leistungen der Sowjetunion im Zweiten Weltkrieg. Politik und Medien ziehen hier – wie gewohnt – an einem Strang.
Die Rache der späten Geburt
Es war Heinrich Böll, der einst sagte:
"Ihr werdet die Deutschen immer daran erkennen können, ob sie den 8. Mai als Tag der Niederlage oder der Befreiung bezeichnen."
Die Art und Weise, wie in Deutschland in Politik und Medien mit dem 8. bzw. 9. Mai umgegangen wurde, lässt nur einen Schluss zu: Der Tag der Befreiung wird in großem Maßstab als Tag der Niederlage empfunden. Psychologisch ist das sehr leicht zu erklären. Russland wird als aktueller Feind erlebt, der jedoch nicht "ruiniert" (Baerbock) oder im gewünschten Maße geschwächt werden kann. Kommt das Eingeständnis hinzu, dass es die Sowjets waren, die schon im Zweiten Weltkrieg Deutschland überlegen waren, addiert sich die Unzufriedenheit.
Was psychologisch durchaus leicht erklärbar ist, führt zu einer anderen Erkenntnis, die für jeden Deutschen erschreckend sein sollte: Irgendwo in den Köpfen derer, die Russland auf die aktuelle, verstörende Weise hassen, liegt der unbewusste (?) Wunsch, es wäre besser gewesen, hätte Deutschland den Zweiten Weltkrieg nicht verloren, sondern gewonnen.
Roderich Kiesewetter (CDU), den man verstehen kann als einen der Hardliner unter den Hardlinern, die für die Verlängerung des Ukraine-Krieges trommeln, sagte in einem Interview einen Satz, der bezeichnend ist für die politische Kaste in Deutschland:
"Russland muss verlieren lernen wie Deutschland 1945."
Da sitzt der Schmerz in einem, der den Zweiten Weltkrieg nicht erlebt hat, offenbar tief. Doch es ist nicht nur die unfreiwillige (?) Offenbarung des eigenen Geisteszustandes, die Kiesewetter hier zeigt. Es ist auch ein Hinweis darauf, dass es insbesondere die sind, die selbst noch keinen Krieg erlebt haben, die am lautesten für seine Fortsetzung trommeln.
Diese Gruppe von Leuten ist es auch, die – etwa beim Spiegel – kein Problem damit hat, aus 27 Millionen getöteten Sowjets einfach mal aus einer Laune heraus zu "präzisieren" und 18 Millionen zu machen. Also alles nicht so schlimm, die Russen sollen sich mal nicht so anstellen.
Tom J. Wellbrock ist Journalist, Sprecher, Texter, Podcaster, Moderator und Mitherausgeber des Blogs neulandrebellen.
Mehr zum Thema - "Die Sowjetunion war auch an der Befreiung Europas beteiligt": Der deutsche Geschichtsrevisionismus