Von Wladislaw Sankin
Ich muss ehrlich gestehen, dass ich lange um den richtigen Titel für meinen Artikel "Ukraine und Tag des Sieges: Berlin will das Gedenken an die wahren Befreier vom Nazismus canceln" gerungen habe. Ursprünglich hieß es "vernichten" statt "canceln". Am Ende wollte ich mich doch nicht so kategorisch festlegen, denn das Berliner Gericht hat das Verbot russischer Symbole am Tag der Befreiung teilweise aufgehoben.
Dann setzte die Berliner Polizei doch das strikte Verbot russischer und sowjetischer Symbole an Feiertagen durch und setzte es konsequent um. Da ich am 9. Mai selbst mehrere Stunden im Treptower Park verbracht und mit vielen Besuchern und Aktivisten dort gesprochen habe, komme ich nun zu dem Schluss, dass die erste Variante der Schlagzeile doch die richtige war. Die Berliner Behörden zielen auf die komplette Abschaffung der öffentlichen Ehrung der Sieger ab.
Das geht natürlich nicht von heute auf morgen. Die Strategie ist langfristig angelegt und orientiert sich vor allem an den Erfahrungen Lettlands und der Ukraine ‒ von Ländern, die es innerhalb eines knappen Jahrzehnts geschafft haben, alle Anzeichen des Stolzes auf die Sieger im Krieg gegen den Nazismus aus dem öffentlichen Raum zu verbannen. Dafür setzten sie auf Staatsgewalt und deren handzahme Justiz, Verleumdungskampagnen und Straßenhetze.
Hunderte Denkmäler wurden bereits abgerissen, tausende Straßen- und Ortsnamen umbenannt. Zwar ist das Niederreißen der sowjetischen Denkmäler in Deutschland (noch) schwer denkbar. Aber dass Deutschland auf gutem Weg ist, ein mit Russophobie infiziertes mittelosteuropäisches Grenzland zu werden ‒ wie unser Autor Rainer Rupp in einer Analyse trefflich feststellte –, daran gibt es nun keine Zweifel.
Die Russophobie stammt von den Eliten, muss an dieser Stelle angemerkt werden. Denn jeder, der das Ehrenmal-Ensemble im Treptower Park am 9. Mai aufsucht, weiß, wie intensiv dort die deutsch-russische Freundschaft gelebt wird. Nicht nur Russen, Ukrainer, Weißrussen, Kasachen, Moldawier und Vertreter anderer Republiken der ehemaligen Siegermacht UdSSR zieht es hierher. Tausende Deutsche aus Berlin und Umland sowie Gäste der Stadt besuchen traditionell diesen Ort, um den gefallenen Soldaten die Ehre zu erweisen und russisch-sowjetischen Liedern zu lauschen. Oder mit ihrem Besuch auch ein politisches Statement gegen die Wiedergeburt des Faschismus, Militarismus und NATO-Expansionismus zu setzen.
Dabei zählen der Treptower Park und das Sowjetische Ehrenmal im Berliner Tiergarten zweifellos zu den wichtigsten Gedenkorten weltweit, die an den Sieg über den Nazismus erinnern. Die ganze Gedenkanlage im Treptower Park ist ein architektonisches Meisterwerk, das Ehrfurcht einflößt und zum Verweilen einlädt. Beim Ehrenmal im Tiergarten, das in unmittelbarer Sichtweite der Reichskanzlei des Hitler-Regimes gebaut wurde, zählt vor allem dessen Lage. Stolz auf die Sieger, Trauer um deren Opfer und Dankbarkeit für ihre Leistung für die Nachwelt – das sind die Gefühle, die hier bei jedem gutwilligen Besucher erzeugt werden.
Diese Gefühle werden gestört, wenn dazugehörige Symbolik nicht gezeigt werden darf. Was macht ein Fest zu einem Fest? Dessen Symbole. Zu Weihnachten gehören die Straßenausschmückung, der Tannenbaum und die Weihnachtsmusik. Zum Valentinstag gehört ein Herzchen. Zu den Feiertagen mit einem historischen, militärischen oder politischen Hintergrund gehören vor allem Fahnen und Lieder. Auch historische Uniformen, ganz klar. Das sind Zeichen, ohne sie funktioniert das Feiern auf semantischer Ebene nicht. Es findet auch keine festliche Kommunikation zwischen den Feiernden statt, wenn Festsymbolik bei einem Fest nicht gezeigt werden darf.
Erst recht gilt das für das Feiern des Siegestages. Das Verbot aller Symbole der Siegermacht UdSSR und Russlands als deren rechtlicher Nachfolger, darunter die berühmte Truppenfahne der 150. Schützendivision, das Sankt-Georgs-Band sowie das Abspielen und Singen des unverzichtbaren Gänsehaut-Liedes "Heiliger Krieg", beraubt die Feierlichkeit komplett ihres Sinnes.
Außerdem rückt diese Restriktion das traditionelle Feiern in die Nähe eines Kriminaldeliktes und schreckt von vornherein sehr viele potentielle Feiernde von der Teilnahme ab. Vor allem zahlreiche ältere DDR-Bürger, denen der Besuch dieser Gedenkstätte am Herzen liegt, sind davon betroffen. Hinzu kommt auch das De-facto-Einreiseverbot für Besucher aus Russland und Weißrussland. Das schmälert jetzt schon den Besucherstrom im Treptower Park ganz deutlich.
Das rechtfertigende Argument, man dürfe doch die Blumen an die Denkmäler niederlegen, ist fadenscheinig. Nach dem sogenannten Blumenkrieg in Riga, der Hauptstadt Lettlands, wird dort nun auch das Niederlegen der Blumen an den Orten der abgerissenen Denkmäler mit Polizeigewalt verhindert. Dass sich Deutschland beim Verhindern des Siegertages an den Erfahrungen des Baltikums orientiert, zeigt das Vorgehen der Berliner Polizei an den beiden Mahnmalen im Treptower Park und im Tiergarten.
Jeder Besucher musste sich beim Betreten des Geländes des Treptower Ensembles einer erniedrigenden Polizeikontrolle unterziehen. Unerlaubte Symbole – vor allem Flaggen und Georgsbänder ‒ wurden Menschen abgenommen, zu Protokoll gegeben und aufbewahrt. Frauen mussten sich ausziehen, wenn ihre Kleidung etwa die Farben der russischen Flagge aufwies. Das Gleiche galt für T-Shirts mit Symbolen der Friedensbewegung und Zeichen deutsch-russischer Freundschaft. Es kam zu verbalen Auseinandersetzungen und Streit. Dennoch gelang einigen Besuchern das Hereinschmuggeln und sie ließen sich damit im Park vergnügt fotografieren, solange die Polizei nicht in der Nähe war.
Und die Polizei lauerte. Die Ordnungshüter schritten sofort ein, wenn sie solche "Zuwiderhandlungen" sahen. Ich bin in den Besitz mehrerer Videos gelangt, die das Einschreiten der Polizei dokumentieren, darunter das Aufreihen mehrerer "Täter" mit Gesicht zur Wand und Verfolgungsjagd mit anschließender Festnahme. Auch das Abspielen des berühmten Liedes "Katjuscha" wurde einem Besucher mit dem Verweis auf dessen militärischen Hintergrund untersagt. Die Menschen sangen trotzdem. Es wurde schließlich der Polizei überlassen, inwieweit dieses Singen "aggressive Handlung" war, die "Gefahr für öffentliche Ordnung" darstellte.
Ein besonders drastischer Fall wurde mir von einer Augenzeugin geschildert. Ein junger Mann breitete die russische Flagge an der Treppe zum Hauptdenkmal des Parks aus. Nach polizeilicher Verwarnung ergriff er die Flucht und wurde erst in einer Seitenallee im vorderen Teil des Parks eingeholt und zu Boden gedrückt. Mehr als ein Dutzend Polizisten umzingelten ihn, legten Handschellen an und brachten ihn weg. Andere Besucher protestierten und lobten den "Täter" für seinen Mut. Anschließend beglückwünschten sie ihn zum Tag des Sieges.
Schikanen gab es auch am Sowjetischen Ehrenmal in Berlin-Tiergarten. An der kurzen Strecke zwischen Brandenburger Tor und dem Denkmal fand der traditionelle Marsch "Unsterbliches Regiment" statt (RT-Live-Übertragung hier).
Der Bereich vor dem Denkmal wurde jedoch mit Polizeibarrieren abgeriegelt. Zunächst hinderten Polizisten die Feiernden am Zugang zum Denkmal. Circa eine halbe Stunde lang mussten sie ausharren, bevor die Ersten hineingelassen wurden, um die mitgebrachten Blumen für die Gefallenen niederzulegen und Erinnerungsfotos zu machen.
Die Menge wurde unruhig, sie war zwischen Polizisten und Barrieren eingeengt. Dann wurden alle fünf Minuten je 30 bis 40 Personen einzeln hineingelassen, sodass es vor dem Denkmal recht leer und im Unterschied zum Vorjahr "nicht festlich" aussah. Das Prozedere dauerte noch fast eine Stunde – kein Wunder, dass die anfängliche feierliche Stimmung bei vielen Besuchern am Ende verflogen war. Die Menschen fragten, warum sie schikaniert würden.
Streng geregelt war auch der Besuch der Motorradfahrer der internationalen Biker-Gruppe "Nachtwölfe" an den beiden Ehrenmalen. Es kamen insgesamt bis zu 140 Biker in die Hauptstadt: aus ganz Deutschland und anderen EU-Ländern, wie Polen, Tschechien oder Montenegro. Die Biker wurden schon bei der Einfahrt nach Berlin in Gruppen à zehn Personen aufgeteilt und bei der Blumenniederlegung von einem umfangreichen Polizeikonvoi begleitet. Aber auch dieser Besuch stand auf der Kippe: Vor dem Eingang zum Treptower Park wurde von den Bikern verlangt, ihre Lederwesten – ihre "zweite Haut" – auszuziehen. Nach langen Verhandlungen durften sie aber doch hinein.
Welchen Sinn verfolgen Behörden mit solchen Maßnahmen? Die Erfahrung aus der Ukraine und dem Baltikum zeigt: Solange es auf gesetzlicher Ebene keine Möglichkeit gibt, den Menschen das Feiern des Siegestages zu verbieten, wird mit derart eindringlicher Polizeiüberwachung versucht, ihnen zumindest die Lust an der aktiven Teilnahme am Fest und am Besuch der Gedenkstätten zu vertreiben.
So war es am Tag des Sieges in der Ukraine in allen Folgejahren des Maidans. Bezeichnend sind auch die äußerst strengen polizeilichen Durchlasskontrollen und die Abriegelung beim Gedenken an die Opfer des Massakers im und um das Gewerkschaftshaus in Odessa – jenem Ort, wo am 2. Mai 2014 mindestens 42 Menschen infolge einer nazistischen Menschenjagd den Tod fanden. Der Fall ist bis heute nicht aufgeklärt.
Am Ende aller Schikanen stand die komplette Abschaffung des Tages des Sieges. Nun ist der 9. Mai "Tag Europas". Es trauen sich in der Ukraine nur wenige Menschen, an den Erinnerungsorten einfach mit Blumen zu erscheinen. Da sowieso schon viele Denkmäler abgerissen sind, herrscht an diesem Tag in Kiew und anderen Städten eine bedrückende Atmosphäre.
Ein ähnlicher "Städte-Dialog" findet auch zwischen Berlin und Riga statt. Das langsame Durchlassen einzelner Menschen zur Blumenniederlegung in Riga am Tag des Sieges im letzten Jahr war auch eine "Erfindung" der Rigaer Polizei. Schließlich legten Besucher ein regelrechtes Blumenmeer vor dem Denkmal aus. Nach der nächtlichen Räumung der Blumen mit Baggern brachten die Rigaer noch mehr Blumen zum Denkmal. Und wieder wurden sie durch die städtische Müllabfuhr entfernt. Mittlerweile wurde auch das Denkmal an die Befreier als Zeichen angeblicher sowjetischer Okkupation abgerissen. Spektakuläre Bilder der Denkmal-Zerstörung gingen um die Welt.
In diesem Jahr waren jegliche Massenversammlungen in Lettland gänzlich verboten. Auch das Niederlegen der Blumen an den Orten abgerissener Denkmäler wertete die Polizei als Angriff auf "Lettlands demokratische Werte und falsche Interpretation historischer Ereignisse" und wurde untersagt. Diese Formulierung meint es todernst: Falsche Gedanken sind strafbar! Insgesamt nahm die Polizei 30 Personen fest und eröffnete 97 administrative und vier Strafverfahren.
Deutschland kann natürlich nicht alles vom baltischen Apartheid-Regime, wo eine große russische Minderheit unterdrückt wird, und vom diktatorischen neofaschistischen Selenskij-Regime kopieren. Im Vergleich zu ihnen ist Deutschland noch eine Oase der Freiheit. Aber wenn man die heutigen Einschränkungen rund um die Feierlichkeiten mit denen der Vorjahre vergleicht, ist die Marschrichtung von Freiheit hin zu einem polizeilichen Sonderregime nicht zu verkennen. Die Kriminalisierung des Gedenkens an den Sieg über den Nazismus hat in dessen ehemaliger Hauptstadt bereits begonnen.
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