Von Anton Gentzen
Nichts symbolisiert den Sieg der Menschheit über den Hitlerfaschismus so sehr wie die sowjetische Fahne, die im Mai 1945 über dem Reichstag und später über dem Brandenburger Tor wehte. Sie, genau sie, meinte Bertolt Brecht, als er in seinem "Zukunftslied" schrieb:
"Als wir zogen gegen Osten,
Ach, besiegt von unseren Herrn,
Die uns gegen Wunder warben,
Haben die mit Tank und Wagen
Uns im Kaukasus geschlagen.
Und es darben die nicht starben.
Und schon gibt es neue Herrn,
Die uns in neue Kriege zerr'n.
Aber eines Tages ist das nicht mehr so
Und zu Ende sind die Tausend Jahre Not.
Aus der Jammer!
Über der Getreidekammer hebt sich hoch
Eine wunderbare Fahne, die ist rot."
Im Berlin des Jahres 2023 ist die rote Fahne verboten. Ausgerechnet an dem Tag, den sie symbolisiert: dem Tag des Sieges über den Hitlerfaschismus, dem Tag der Befreiung Europas von Wahnsinn, Krieg und Massenmord. Verboten ist sie selbst, verboten ist ihr Ableger, die sowjetische Staatsflagge, verboten ist das Banner des Sieges. Letzteres eine Replik der Divisionsfahne, die Ende April 1945 auf dem Reichstag gehisst wurde und damit unmittelbar für die Zerschlagung Hitlerdeutschlands steht und für nichts anderes.
Das Verbot verfügt hat die Berliner Polizei. Bestätigt hat es der 1. Senat des Oberverwaltungsgerichts Berlin. Die Namen sollte man in Erfahrung bringen und sich gut einprägen, genauso wie den Namen des einen mutigen Richters oder der einen mutigen Richterin am Berliner Verwaltungsgericht erster Instanz, der oder die sich der neuen deutschen Staatsräson widersetzte. Der Staatsräson, die sich ausgerechnet unter sozialdemokratischer Führung in die unseligsten der deutschen Traditionen gestellt hat. Der Tag wird hoffentlich kommen, an dem auch individuell Rechenschaft abzulegen ist für die beispiellose Demütigung der besten antifaschistischen Gefühle, des Andenkens der Gefallenen, die unter der sowjetischen Fahne für die Freiheit und das Leben der Menschheit kämpften und starben, für Rechtsbeugung und Willkür. Nichts soll an dem Tag vergessen sein und kein Richterprivileg gelten.
Die überraschende, mutige Entscheidung der ersten Instanz, die das empörende Verbot der Symbole des Antifaschismus vorübergehend außer Kraft setzte, erkannte völlig richtig: Es ist nicht die Aufgabe des Polizeirechts, den Bürger zu einer "richtigen" Gesinnung zu erziehen oder sie auch nur zu bewerten. In einer freiheitlich-demokratischen Ordnung hat der Bürger das unantastbare Recht, seine Meinung zu äußern und seine Gesinnung zu demonstrieren. Das geschieht eben (auch) durch mitgeführte Plakate, Fahnen, Symbole und durch Lieder, die man singt. Das alles ist legitim und von Artikel 5 Grundgesetz geschützt.
Aufgabe des Polizeirechts ist es, unmittelbare Gefahren gegen Recht, gegen Leib und Leben jener, die im Recht sind, abzuwehren. Beispielsweise diejenigen, die friedlich feiern und friedlich ihrer Gesinnung Ausdruck verleihen, vor Übergriffen, Provokationen und Gewalt zu schützen. Doch wer ist in diesem Sinne Störer? Derjenige, der mit sowjetischen Fahnen, unter denen die Befreier kämpften, fielen und letztlich siegten, ihre Verbundenheit mit den Gefallenen und dem großen Sieg demonstrieren, oder diejenigen, die sich mit Fahnen eines Landes, das sich ausdrücklich und wider jede Vernunft in die Tradition von Kollaborateuren Hitlers gestellt hat, den Gedenkenden in den Weg stellen, sie provozieren und anpöbeln? Ukrainische Fahnen, also Fahnen ebenjenes Staates in der Tradition Banderas und Schuchewitschs, sind, daran sei erinnert, erlaubt.
Ja, es ist in der Tat so: Die ukrainischen "Patrioten" von heute und ihr deutscher Anhang reiben sich in der Tat an der sowjetischen Fahne, an sowjetischen Orden, an russischen Kriegsliedern, an jedem Zeichen von Antifaschismus und Antihitlerismus. Nicht erst seit dem 24. Februar 2022 übrigens. Seit 2014 schon ist in der Ukraine die rote Fahne (ob mit oder ohne sowjetischem Hoheitszeichen) verboten, und all die Jahre pöbelten und griffen ukrainische Nationalisten und Maidan-Anhänger am 9. Mai Veteranen und andere Gedenkende auf den Soldatenfriedhöfen in Kiew und anderswo im Land an. Die sowjetischen Symbole erinnern die ukrainischen Nazis daran, dass ihre Helden, eben die besagten Bandera und Schuchewitsch, all die anderen Kollaborateure und Judenmörder aus den Reihen ukrainischer Nationalisten jenen Krieg verloren haben.
Was aber haben diese Fans von Bandera und die deutschen Fans von Adolf Hitler am 8. und 9. Mai an sowjetischen Gedenkstätten, auf den Friedhöfen sowjetischer Soldaten zu suchen? Was wollen sie dort anderes außer provozieren? Es ist nicht ihr Tag, es ist nicht ihr Gedenken, es ist nicht ihre Feier. Nicht sie muss das Polizeirecht schützen, sondern vor ihnen. Bitte nicht verwechseln: Ukrainer, die den 8. und 9. Mai tatsächlich feiern wollen, sind in der Mehrheit. DIESE Ukrainer stören sich aber auch nicht an sowjetischen Symbolen. Ganz im Gegenteil: Das Berliner Verbot trifft auch sie ins Herz.
Das Berliner Oberverwaltungsgericht schreibt in seiner Begründung, russische und sowjetische Fahnen seien Ausdruck erhöhter Gewaltbereitschaft. Das ist eine Lüge. Jeder, der jemals beim Gedenken am 8. oder 9. Mai dabei war, ob im Treptower Park oder anderswo, weiß das. Die Stimmung ist gelöst und friedlich. Jeder, der mit Blumen und guten Absichten kommt, ist willkommen und ein Bruder im Geist. Nie gab es bei diesen Anlässen Zusammenstöße oder Gewalt. Zumindest nicht, solange ukrainisch-nationalistische Provokateure draußen vor blieben.
Ungewollt haben Berliner Polizei und das Berliner OVG damit auch bestätigt, wogegen Russland in der Ukraine kämpft: gegen einen Staat, der sich an dem Sieg über den Hitlerfaschismus und an den Symbolen dieses Sieges stört. Und Deutschland hat seine Seite in diesem Konflikt gewählt, als hätte es nie ein 1945 gegeben. Deutschland schützt die Gefühle der Verlierer des Zweiten Weltkriegs, die eine offen getragene sowjetische Fahne verletzen könnte.
Und so ist alles, womit das Verbot begründet wird, an den Haaren herbeigezogen. Es soll die wahren Motive verdecken. Wer kann sich an den Symbolen des sowjetischen Sieges über den Hitlerfaschismus stören? Die Logik ist gnadenlos: nur derjenige, der jenen Sieg bedauert. Da haben sich Bedauernde in der Berliner Polizei und dem Berliner OVG eingenistet. Ein schlimmes Zeichen für die Zukunft Deutschlands. Ein böses Zeichen der Zeit.
Mehr zum Thema – Wenn der Faschismus sich als Antifaschismus gebärdet