Von Dagmar Henn
In Deutschland, vor allem im Westen, wurde immer behauptet, die Unterzeichnung der Kapitulationsurkunde in Karlshorst wäre absichtlich auf den Zeitpunkt nahe Mitternacht des 8. Mai 1945 gelegt worden, um sicherzustellen, dass Sieger und Besiegte nicht am selben Tag gedenken.
Aber diese Deutung geht fehl, weil sie übersieht, dass der Tag der Befreiung Deutschlands von der Naziherrschaft nur einer in einer langen Kette von Tagen der Befreiung ist, das abschließende letzte Datum. All diese Daten werden getrennt voneinander begangen – der Tag der Befreiung von Sewastopol, von Odessa, von Auschwitz, auch der von Paris – aber vollständig ist die Reihe erst mit dem letzten, das für sich stehen können muss wie alle anderen. Dann erst ist die Voraussetzung gegeben, den Sieg zu feiern.
Woraus man in der Bundesrepublik versuchte, eine Demütigung zu basteln, ist tatsächlich das Gegenteil, weil eben die Deutschen nicht anders behandelt werden als die anderen, von der Naziherrschaft befreiten Völker auch; was aber in der BRD ignoriert werden konnte, weil all die anderen Tage der Befreiung samt Gedenken (mit Ausnahme vielleicht von Paris) außerhalb des Blickfelds lagen.
Es hatte ohnehin bis zur Komplettpensionierung der alten Naziriege in der Bundesrepublik gedauert, bis auch in der Westrepublik von "Tag der Befreiung" die Rede sein konnte. Und nun scheint es, als hätte dieses Zeitfenster sich wieder geschlossen; seit man durch die Hintertür mit den Bandera-Ukrainern Verbündete aufgezogen hat, denen der Stiefel des Sowjetsoldaten im Treptower Ehrenmal, der auf dem zerschmetterten Hakenkreuz steht, vorkommt wie ein Stiefel im eigenen Genick.
Letztes Jahr hatte die Berliner Stadtverwaltung tatsächlich Demonstranten "für die Ukraine" im Treptower Park genehmigt und dafür sowjetische und Siegesfahnen verboten; für beide Tage übrigens, den achten wie den neunten Mai.
Das offizielle Narrativ von der armen, verfolgten, demokratischen Ukraine bot endlich eine Rechtfertigung, die, so der Eindruck, vielerorts begeistert aufgegriffen wurde. Das, was zuvor undenkbar war, konnte endlich begonnen werden: die ganze Geschichte des Zweiten Weltkriegs so zurechtzubiegen, wie es den Nazikollaborateuren und ihren Anstiftern behagt.
Als wäre es einfacher, sich erneut mit den Tätern zu identifizieren, als die Tatsache zu akzeptieren, dass in Deutschland die Kräfte nicht reichten, die Naziherrschaft zu beenden, und jenen dankbar zu sein, denen es gelang. Dabei ist es eine Erfahrung, die nicht nur in Deutschland gemacht wurde, dass diese Art Herrschaft selten durch inneren Widerstand endet. Griechenland und Portugal 1974 sind die einzigen beiden Beispiele, die in den Sinn kommen. Die Fälle. In denen das Elend andauerte, bis die Betreiber irgendwann das Interesse an dieser Form der Macht verloren, sind wesentlich zahlreicher, wie Chile, Brasilien, Argentinien … Auch in der Ukraine ist nicht anzunehmen, dass das Problem von innen heraus gelöst werden kann.
Das bedeutet nicht, dass Deutsche keinen Anteil an ihrer Befreiung gehabt hätten. Und wenn es die Auftritte von Marlene Dietrich vor US-Truppen waren – das andere Deutschland war in allen Ländern der damaligen Alliierten präsent, weshalb es eben jener abschließende Tag der Befreiung wurde, der den Tag des Sieges einläutete (wobei sich die meisten Rückkehrer anschließend in der östlichen Republik sammelten). Auch darin ist die heutige Ukraine ein Spiegelbild des damaligen Deutschland; viele ukrainische Antifaschisten warten vor allem im Donbass und in Russland auf den Tag, an dem sie zurückkehren können. Im Westen wurde ihnen Schutz und Unterstützung ebenso verweigert wie Gehör.
Die NATO-Erzählung zur Gegenwart attackiert weit mehr den Tag der Befreiung als den Tag des Sieges. Denn Befreiung, die darf es ohne westliche Macht, ohne westliche Werte nicht geben. Aber nachdem die NATO nicht in Nachfolge der US-Truppen unter Roosevelt steht, sondern der anderen Seite der damaligen US-Regierung, die nicht schnell genug zum Kalten Krieg übergehen konnte, ist letztlich auch für den Tag des Sieges kein Platz mehr. Zwischen den rund um München aufbewahrten Hilfstruppen, die jahrzehntelang das Rückgrat der US-Propagandamaschine Radio Free Europe bildeten, bestand ohnehin Einverständnis – für sie war und blieb es in jedem Fall die geteilte Niederlage.
Aber es ist dennoch kein Grund zur Betrübnis. An der jetzigen Verwirrung im Westen wurde die letzten acht Jahre lang konsequent gearbeitet. Vor diesem Hintergrund ist es unvermeidlich, dass auch das Gegenüber sich wieder dem ursprünglichen Bild annähert. Wenn der Angriff auf die historische Wahrheit dazu genutzt wird, um eine verzerrte Kopie der alten Front zu erstellen, ist es geradezu unvermeidlich, dass der Wiedergänger des alten Übels auch ein Echo seiner Bezwinger hervorruft.
Man kann sich vorstellen, dass diejenigen, die den heutigen ukrainischen Nazismus nährten, um die gewünschte Front gegen Russland zu erhalten, dachten, eine rein äußerliche Kopie zu erhalten, die dann eine Grundlage böte, all jene zu verspotten, die hinter den Zeichen, den Losungen, den Ritualen auch eine entsprechende Gesinnung vermuten. Wenn heute im Westen behauptet wird, das wären doch keine Nazis in der Ukraine, hat es allerdings mehr von einem Drehbuch, das während der Aufnahme nicht mehr geändert werden kann, denn die Rechnung ging nicht auf; es gibt Dinge, die kann man nicht imitieren, da verwandelt sich jede Nachahmung zwangsläufig in das Original, die angelegte Maske übernimmt den Träger.
Wenn man den Blick weitet, den globalen Konflikt mit betrachtet, dann wird auch deutlich, warum die angestrebte Farce, die auf dem Boden der Ukraine ausgespielt werden sollte, dann doch in jeder Hinsicht dem Original, das sie nur zitieren sollte, gleicht. Denn es ist das Zusammentreffen des ukrainischen Rassismus mit dem kolonialen Denken der kolonialen Macht, die gerade bedroht ist, was das Abgleiten der westlichen Staaten in weitere Kopien dieser Farce auslöst; es sind Triebe von einem Stamm, Variationen derselben Melodie.
Es war kein Zufall, dass nach der Niederlage des Hitlerfaschismus das Ende des Kolonialismus auf die Tagesordnung gesetzt wurde; nicht nur, weil die europäischen Kolonialmächte geschwächt waren, sondern auch, weil all jenen Kämpfern aus den Kolonien, die auf französischer wie britischer Seite am Sieg mitgewirkt hatten, die Verbindung zwischen Nazismus und Kolonialismus in die Augen sprang. Wenn das erste im Interesse der Menschheit besiegt werden musste, dann musste das auch für das zweite gelten.
Der Sieg, der am neunten Mai gefeiert wird, war ein Sieg für die gesamte Menschheit, für den vor allem die Sowjetunion bluten musste. Man möchte sich eine Welt ohne diesen Sieg nicht ausmalen; sie wäre ein ins Grenzenlose ausgeweiteter Belgisch-Kongo, ein Kataklysmus aus Gewalt und Unterwerfung, angefeuert von industrieller Gier. Wenn man heute den Zukunftsfantasien all der vehementen Unterstützer der Ukraine lauscht, dann blitzt sie gelegentlich durch, diese Welt, die gewesen wäre und vor der uns der sowjetische Sieg bewahrt hat.
Wenn es nicht legitim ist, diesen Sieg zu feiern, was wäre dann legitim? Das größte moralische Ringen des vergangenen Jahrhunderts lässt keinen Platz für Indifferenz, nicht einmal im Rückblick; man ist entweder auf der einen Seite oder auf der anderen. Man hat im Westen viel Energie und Zeit investiert, diese simple Tatsache zu verhüllen (auch wegen des schnellen Richtungswechsels unter Truman), aber in den letzten Jahren war es dutzendfach zu beobachten: Wer mit "das ist nicht so schlimm in der Ukraine" anfing, endete irgendwann bei "den Helden Heil" und umarmte Asow-Nazis. Das reicht bis weit in "linke" Kreise.
Wie leicht und wie widerstandslos es gelang, diesem Nazismus im Westen die Türen zu öffnen (da gab es 2014 bereits Gruppen, die schlicht die Militanz der NATO-ausgebildeten Maidan-Schläger toll fanden, Nazizeichen hin oder her) belegt auch, wie wichtig es ist, den alten Kampf in Erinnerung zu halten, und nicht als historisches Spektakel zu den Akten zu legen. Denn wenn es einen Wegweiser gibt, der es ermöglicht, nicht nur im Zusammenhang mit der Ukraine, sondern auch mit jedem Stück gedanklicher Falschmünzerei, die der Westen einem in den Weg wirft, die Orientierung zu behalten, dann ist das jener Humanismus, der sich der Nazi-Ideologie entgegenstellte.
Das ganze ideologische Blendwerk, das der heutige Westen errichtet, vom Klima über die Überhöhung verschiedenster Identitäten bis zum Wertegarten, ist durch einen tiefen Antihumanismus geeint. Der Mensch und seine natürlichen Bedürfnisse werden auf vielfache Weise negiert und durch vermeintlich Wichtigeres ersetzt. Die Missachtung des Menschlichen sitzt so tief, dass selbst der vermeintliche Schutz von Menschenleben wie während Corona in einer Orgie der Unmenschlichkeit endet, weil einzig noch die schiere physische Existenz als menschlicher Anspruch anerkannt wird.
In Wirklichkeit darf im Westen schon längst nicht mehr ausgesprochen werden, was der moralische Kern des Krieges gegen Nazi-Deutschland war. Brecht, der diese Fragen mit am deutlichsten formuliert hat, ist in Deutschland mittlerweile halb vergessen, und selbst das Brecht-Fest in Augsburg wurde durch den Auftritt einer faschistischen Gruppe aus der Ukraine pervertiert.
Verändert all das den Charakter der Feiern zum Tag des Sieges? Nicht wirklich. Eher legt es die Bedeutung wieder frei, die immer eine Mischung aus Freude, Gedenken, aber stets auch Auftrag war, eine solche Bedrohung nie wieder zuzulassen. Und wenn Freude und Stolz über diesen Menschheitssieg gerade in den Hintergrund treten – das Ende des Kolonialismus, das bereits zu ahnen ist, wird den damaligen Sieg abrunden und vollenden. Und es wird den Weg zum Weltfrieden öffnen, wie ihn sich die Sieger damals erhofften.
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