Von Timofei Bordatschow
Das deutsche Auswärtige Amt hat die vorzeitige Beendigung der diplomatischen Akkreditierung von rund 20 Mitarbeitern der russischen Vertretung im Lande verkündet. Medienberichten zufolge könnte daher im Gegenzug etwa auch ein Drittel des gesamten Personals der deutschen Vertretung in Russland demnächst Moskau verlassen müssen, und das sind mehr als 30 Personen.
Unter diesen Umständen ist die Chance groß, dass die Ankunft eines neuen Botschafters der Bundesrepublik Deutschland, des erfahrenen Politikers und Diplomaten Alexander Graf Lambsdorff, ihren Sinn verlieren könnte. Im Prinzip könnten die Beziehungen weiter eingefroren werden, worauf die deutsche Bundesministerin des Auswärtigen Annalena Baerbock offensichtlich hinarbeitet. Der Kampf gegen Russland ist für sie zum zentralen Anliegen ihres hohen Amtes geworden. In Russland selbst herrscht darüber keine besondere Verbitterung mehr, aber auch kein Schuldgefühl als Gegenseite.
Die Herabstufung des Stellenwerts der diplomatischen Beziehungen zwischen Russland und Deutschland dürfte keine Tragödie von globalem Ausmaß mit sich bringen und keine historische Bedeutung für unsere Völker und Staaten besitzen. Erstens, weil jedes Modell der Interaktion zwischen zwei großen Mächten nicht ewig halten muss, solange sie als formal unabhängige Teilnehmer an der internationalen Politik existieren.
Und es ergibt jetzt keinen Sinn, über das Schicksal der "besonderen Beziehungen" zwischen Russland und Deutschland zu wehklagen, die unter einmaligen historischen Umständen entstanden und nun unter ganz anderen Bedingungen, nämlich im Jahr 2023 unter den Bedingungen der heutigen Zeit enden. Einen Grund zur Sorge sollte es nicht geben, denn jede Beziehung resultiert aus der Fähigkeit der Vertreter verschiedener Kulturen, sich miteinander zu arrangieren, sowie aus den grundlegenden Interessen, die sich aus der beiderseitigen geopolitischen Lage und den daraus resultierenden Möglichkeiten ergeben.
Die Russen und die Deutschen scheinen sich durchaus verständigen zu können: Über mehrere Jahrhunderte enger Nachbarschaft, beginnend in der Mitte des 16. Jahrhunderts, hatten wir eine sehr fruchtbare Zusammenarbeit. Und auch einen Krieg gegeneinander können wir führen: Im letzten Jahrhundert gab es zwei heftige Zusammenstöße. Einmal war der Krieg die Folge der Entwicklung europäischer Imperien, die dazu verdammt waren, früher oder später aufeinander zu prallen. Beim zweiten Mal musste Russland gegen Deutschland kämpfen, als die Deutschen infolge der Niederlage und der Demütigung von 1918 vom kollektiven Wahnsinn erfasst wurden und mit dem ihnen stets eigenen Eifer die grausamsten Gräueltaten der Menschheitsgeschichte begingen.
Dabei hat es zwischen Deutschland und Russland niemals diese schleichende Konkurrenz gegeben, die seit jeher die Beziehungen beider Völker zu den Franzosen und den Briten prägt. Folglich ist der Konflikt zwischen Russland und Deutschland eher ein zufälliges, durch besondere Umstände bedingtes Phänomen, und die Kooperation stellt eigentlich ein objektives Erfordernis ihrer Lebensinteressen dar. Dies bedeutet aber nicht, dass der sich jetzt verschärfende Konflikt nur von kurzer Dauer sein wird; er kann wird durchaus eine ganze Generation andauern. Aber natürlich sind beide Mächte nicht zu einer ewigen Konfrontation verdammt.
Das vorherrschende Gefühl in den russisch-deutschen Beziehungen ist derzeit das der Enttäuschung. Wir sind zutiefst enttäuscht darüber, wie willenlos sich die Deutschen gegenüber der Einflussnahme der USA auf europäische Angelegenheiten verhalten haben. Man hatte von Deutschland viel mehr erwartet, und seine wirtschaftliche Stärke wäre auch eine reale Grund für diese Erwartungen. Mittlerweile haben die deutschen Behörden nicht einfach nur die Basis der wirtschaftlichen Beziehungen zu Russland zerstört, sondern sie entwickeln Deutschland allmählich auch zu einem der wichtigsten Sponsoren Kiews.
Deutschland ist darüber enttäuscht, dass Russland unbeabsichtigt auch das Schicksal der friedlichen Vorherrschaft Berlins über das übrige Westeuropa begraben hat. Diese Vorherrschaft wurde ohnehin zunehmend problematisch, da der Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union, die Stärkung der politischen Position Polens und die Sabotage durch das schwächelnde Frankreich ihren Teil dazu beitrugen. Nun hatten die Vereinigten Staaten die einmalige Gelegenheit, all ihre europäischen Reserven zu aktivieren und die Deutschen endgültig in die NATO-Kaserne zu treiben, aus der viele seit dem Ende des Kalten Krieges eigentlich zu entkommen versucht hatten.
Der fundamentale Grund für die gegenseitige Verärgerung ist in beiden Fällen die Zerstörung der idealisierten Zukunftsvision aus dem Blickwinkel des jeweiligen Akteurs. Die Frage ist nur, wie lange die Abkühlung andauern wird und welche Veränderungen sich in der Zwischenzeit ergeben könnten. Es gibt wenige Länder auf der Welt, die eigentlich so gut zueinander passen wie Russland und Deutschland, oder besser gesagt, Völker wie die Russen und die Deutschen. Im Hinblick auf die eurasische Geopolitik bilden die beiden sozialen Gemeinschaften ein Gleichgewicht im Zentrum dieses riesigen eurasischen Kontinents, an dessen Peripherie China und das atlantische Westeuropa, angeführt von Großbritannien (USA) liegen.
Aus wirtschaftlicher Sicht entspricht Deutschland mit seiner dichten Besiedlung und Industrialisierung ideal den Interessen der russischen Energieexporte. In kultureller Hinsicht sind Russen und Deutsche genau die Gegensätze, die sich anziehen. Es ist kein Zufall, dass sich bereits im zaristischen Russland so viele Deutsche im öffentlichen Dienst, in der Kultur und in der Wirtschaft wiederfanden.
Die deutsche Veranlagung zur Bescheidenheit ist genau das, was dem grenzenlosen russischen Naturell fehlt. Und in den letzten zwei Jahrzehnten war es selbstverständlich, einen deutschen Manager irgendwo in Urengoi unermüdlich arbeiten zu sehen. Für die Deutschen sind wir aber auch diejenigen, die nicht wie die Franzosen oder die Angelsachsen voller Überheblichkeit auf sie herabschauen.
Historisch gesehen sind Russland und Deutschland der späten Phase der Industrialisierung zuzuordnen, lange nach Großbritannien, Frankreich, den Vereinigten Staaten und deren logistischer und finanzieller "Drehscheibe", den Benelux-Staaten. Deshalb war das zwanzigste Jahrhundert für beide Völker so grausam: Es hat ganz allgemein die Spitzenposition der führenden kapitalistischen Länder weiter gefestigt und die anderen an den Rand des Überlebens gedrängt.
Für Russland verlief das etwas erfolgreicher, denn Russland verlor nur sein Imperium, behielt aber die volle Souveränität und Kontrolle über sein eigenes Territorium. Deutschland hatte weniger Glück: Infolge der Ereignisse des letzten Jahrhunderts wurde es zugunsten der Vereinigten Staaten faktisch dauerhaft des Rechts beraubt, sein eigenes Schicksal unabhängig bestimmen zu dürfen. Bisher war die deutsche Elite jedoch noch in der Lage, wenigstens über die außenwirtschaftlichen Beziehungen selbst zu entscheiden, und nun ist auch diese Möglichkeit entfallen.
Die allgemeine Krise der Weltwirtschaft und das Ende einer 500 Jahre währenden bedingungslosen Vorherrschaft zwingen den Westens nun, sich auch intern neu zu strukturieren. Zumindest zwingt ihn die Lage zur Suche nach neuen Daseinsformen. An der Spitze Deutschlands stehen dafür geeignete Vertreter: Bundeskanzler Scholz ist ein schwacher Repräsentant einer angeschlagenen Partei, denn die deutschen Sozialdemokraten befinden sich in einer der schlimmsten Verfassungen ihrer gesamten Existenz als politische Kraft.
Die beiden anderen Parteien sind Die Grünen und die Liberaldemokraten. Nach Ansicht anerkannter russischer Experten für das Leben in Deutschland sind Die Grünen eine Ansammlung exaltierter Moralisten, für die der Kampf gegen Russland und die Freundschaft mit den USA eine Glaubensfrage darstellen. Mir persönlich fällt es allerdings schwer, diese Sichtweise zu akzeptieren.
Die Verantwortungslosigkeit eben jener Leiterin des Auswärtigen Amtes Annalena Baerbock scheint nicht anderes zu sein als reines Karrieredenken einer Politikerin, hinter dem sich keine der konservativen Gruppierungen in Deutschland mit klaren wirtschaftlichen Interessen verbirgt. Doch was zum Teufel, wenn das kein Scherz ist, vielleicht gibt es in der deutschen Politik tatsächlich einen Platz für pure Ideologie. Zumal die Größe der angeblich so "kreativen Klasse", die keinen Beitrag zum Gemeinwohl leistet, auch in Deutschland erheblich ist.
So richtet sich die Politik der Grünen nun gleichzeitig sowohl gegen das klassische deutsche Wirtschaftsmodell mit seinem Rückhalt in russischen Energieressourcen als auch gegen Russland selbst, weil es als Symbol der Renitenz gegenüber jeder globalen Agenda des Westens gilt. Die Kehrtwende weg von Russland und hinüber über den Atlantik vollzieht sich ziemlich entschlossen. Und zugleich schrumpfen die Möglichkeiten jeder Eigenständigkeit: Neulich wurde in Deutschland "feierlich" das letzte Atomkraftwerk abgeschaltet.
Die Wähler dieses Landes schweigen wie das Volk in Puschkins Tragödie "Boris Godunow". Die deutschen Normalbürger verspüren zwar keinen Drang, sich in einen Konflikt mit Russland zu begeben. Ganz allgemein vertieft sich aber damit auch die Kluft zwischen den Eliten und der Bevölkerung. Und die sich herausbildende Konstruktion der Beziehungen zum großen östlichen Nachbarn hat einen eindeutig politischen, gekünstelten Charakter.
Auch in Russland sorgen die Deutschen als solche nicht für andauernde Anfeindungen, im Gegensatz zu den Polen oder den Briten beispielsweise. Daher kann man nicht sagen, wie lange die Verschlechterung der Beziehungen andauern wird. Doch ich hege keinen besonderen Zweifel, dass sich Russland und Deutschland bei der nächsten Wende in der Geschichte wieder begegnen und definitiv zu Freunden werden.
Übersetzt aus dem Russischen, zuerst erschienen bei Wsgljad
Timofei W. Bordatschow (geboren 1973) ist ein russischer Politikwissenschaftler und Experte für internationale Beziehungen, Direktor des Zentrums für komplexe europäische und internationale Studien an der Fakultät für Weltwirtschaft und Weltpolitik der HSE Universität in Moskau. Unter anderem ist er Programmdirektor des Internationalen Diskussionsklubs Waldai.
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