Von Dagmar Henn
Wer die Hoffnung hegte, die Pentagon-Leaks würden zumindest zu einer etwas realistischeren Sicht auf den Krieg in der Ukraine führen, wurde in der gestrigen Sendung von Maybrit Illner schwer enttäuscht. Die Runde war mit Verteidigungsminister Boris Pistorius und dem CDU-Verteidigungspolitiker Roderich Kiesewetter hochkarätig genug besetzt, sodass vorgeführt wurde, was in der deutschen Politik von diesen Papieren angekommen ist; die begleitenden transatlantischen Propagandisten, Alice Bota von der Zeit, Pleitgen von CNN und der Bundeswehr-Politologe Sauer, gaben schlicht das wieder, was ihre Rolle vorgibt.
Zwischendrin kam irgendwann die unverzichtbare Phase der Mutmaßungen über Russland, in der von internen Auseinandersetzungen orakelt wurde, unterbrochen von Botas Bemerkung, früher hätte man wenigstens an der Aufstellung des Politbüros ablesen können, was geschehe; aber die Pentagon-Leaks wurden kreuzbrav dem 25-jährigen Herrn Texeira in die Schuhe geschoben, als wäre die Behauptung, dass er Zugang zu Papieren aus den Joint Chiefs of Staff haben könnte, auch nur ansatzweise glaubwürdig.
Dabei sind es diese massiven Anzeichen innerer Auseinandersetzungen in der US-Regierung, die unterfüttern, dass die euphorische Darstellung der Ukraine nicht stimmen kann. Wenn Teile des Pentagons versuchen, die Notbremse zu ziehen, dann hat das etwas zu bedeuten, und man sollte darauf ein oder zwei Gedanken verschwenden. Das lag allen Anwesenden fern; die einzigen Sorgen, die man sich machte, war, ob diese Papiere vielleicht die Unterstützung für die Ukraine beeinträchtigen könnten.
Boris Pistorius belegte, dass er entweder tief in der Hemdtasche der Neokons steckt oder aber unfähig ist, Bedeutungen zu lesen. "Lloyd Austin hat sehr schnell den Kontakt gesucht", erzählte er; für denkende Menschen besagt das, dass die Blase der Neokons, zu denen Lloyd Austin gehört, durchaus durch diese Papiere in eine gewisse Panik versetzt wurde. Für Pistorius signalisierte das wohl nur, die Papiere nicht zur Kenntnis zu nehmen zu müssen.
Was Kiesewetter mühelos übertraf, indem er erklärte, die Veröffentlichung sei "ein Weckruf an uns Europäer, mehr zu tun, weil die Ermüdung bei den Amerikanern nicht auch noch bei uns greifen sollte". Das ist ein Tonfall, der gegen Ende der Runde wieder auftauchte, als ebendieser Kiesewetter für das Treffen in Ramstein von einem deutschen Führungsanspruch sprach, der eingelöst werden müsse, damit die Amerikaner für Taiwan frei würden.
Wäre wenigstens ein Militär in der Runde gewesen, der gelegentlich die Mythen durchbohrt hätte. Pleitgen behauptet, es sei jetzt bewiesen, dass "die westlichen Waffen den östlichen meilenweit überlegen sind"; die Berichte selbst aus der Ukraine deuten in eine andere Richtung, aber die kennen die deutschen Zuschauer ja nicht. Außerdem wäre das von Pistorius, "das, was jetzt nachgeschoben wird, aus den Depots" bei der russischen Armee "in erbärmlichem Zustand". Und produzieren könne Russland auch nicht: "Was wir nicht genau abschätzen können, ist, wie hoch ist die Produktionskapazität für neues Gerät, da spekuliert man über Zahlen im Dutzend- oder Zwanzigerbereich."
Es gibt einen Beitrag von Brian Berletic, in dem dieser die Produktionskapazitäten für Panzer in Russland schätzt; die liegen um zwei Zehnerpotenzen darüber. Alexander Mercouris von "The Duran" hat das einmal erläutert, dass die sowjetischen und heute auch die russischen Fabriken auf Redundanz gebaut sind, mit der Anforderung, jederzeit die Produktion massiv erhöhen zu können. Allein die Tatsache, dass Russland bis heute die Lenkraketen nicht ausgegangen sind, obwohl im Verlauf des letzten Jahres mehr davon verfeuert wurden, als die USA in der gesamten Zeit, seit Lenkraketen erfunden wurden, eingesetzt haben, sollte Zweifel an Pistorius’ Darstellung wecken. Doch nicht im deutschen Fernsehen.
Die russische Armee sei desorganisiert und ineffizient, da sind sich die Herren einig, und sie führen dazu an, dass schließlich bereits seit Monaten um Artjomowsk/Bachmut gekämpft werde. Dass das Ziel dieser Kämpfe ebenso die Vernichtung der ukrainischen Armee wie die Einnahme der Stadt ist, ist bei ihnen immer noch nicht angekommen.
Auch die Frage der industriellen Kapazitäten liegt weitgehend außerhalb des Blickfelds dieser Gesprächsrunde, auch wenn Pistorius zwischendrin einwirft, das Pulver für Granaten müsse ein halbes Jahr trocknen. Sie haben die Zahlen nicht im Kopf und fantasieren, man müsse die Ukraine womöglich über Jahre hinweg weiter unterstützen und dafür die Produktion hochschrauben. Dass das, was an Hochschrauben möglich ist, immer noch bei Weitem nicht ausreicht, wird übergangen. Man lobt sich dafür, ein Patriot-System mit einhundert Lenkflugkörpern geliefert zu haben. Einhundert! Und da wird es auch keinen weiteren Nachschub geben, weil selbst die USA keine Raketen haben …
Nein, die Illusion muss aufrechterhalten werden. Da erklärt Herr Sauer, die Ukraine habe zwei Wunderwaffen, "die eigene Kampfmoral und die russische Inkompetenz". Natürlich muss er keines von beidem belegen, wir sind im deutschen Fernsehen, da gibt es nur Nachfragen wie "müssen wir nicht mehr tun", eine realistische Sicht wird jedoch keinesfalls eingefordert.
Wie sehr die Beteiligten in ihren Festlegungen gefangen sind, zeigte Alice Bota, die platterdings die vermeintlichen Geständnisse von Wagner-Kämpfern anführte, die bereits vor Tagen als Produkte von Erpressung widerlegt wurden. Es passt zu gut in das etablierte Schema der barbarischen Russen, selbst wenn die Zahl der zivilen Opfer seit Februar ein harter statistischer Beweis dafür ist, dass die russische Armee gegen die ukrainische Armee kämpft und nicht gegen die ukrainische Zivilbevölkerung; etwas, was man von den NATO-Armeen nicht wirklich behaupten kann.
Sauer bringt das hübsche Wort "Erwartungsmanagement" ins Spiel, um mögliche negative Meldungen von vorneherein abzupuffern. Die Zuschauer sollten sich eben schon einmal auf Bilder von brennenden Leopards einstellen. Dennoch – sie alle erwarten nach wie vor, dass die ukrainische Offensive erfolgreich wird und dass Russland dann zu Verhandlungen gezwungen werden könne. Dann müsse die Ukraine NATO-Mitglied werden und man müsse sie dauerhaft militärisch aufrüsten und ausstatten, so Sauer. Als wäre das nicht genau das, was in den Jahren zwischen 2015 und 2022 geschehen ist, anstelle einer Umsetzung der Minsker Abkommen …
Nein, sie sind alle viel zu stolz darauf, "Welchen Weg die deutsche Gesellschaft zurückgelegt hat". Und reden völlig unbeeindruckt davon, dass man jetzt über Flugzeuge reden müsse, ohne auch nur eine Sekunde lang zu bemerken, dass sie sich diesen antirussischen Rausch an einem Datum gönnen, das von ihren ukrainischen Freunden sicher gefeiert wird. Die Pentagon-Leaks haben in dieser Runde nicht einen Hauch von Erkenntnis erzielt, im Gegenteil; solche wie Kiesewetter sähen einen Rückzug der USA geradezu als gute Gelegenheit, um unter deutscher Führung … "as long as it takes", wie Pistorius brav vorbetete.
In der ganzen Sendung von einer Stunde Länge gab es einen einzigen Satz, der unstrittig die Wirklichkeit wiedergab, und Maybrit Illner wird mit Sicherheit jederzeit bereit sein, Abbitte dafür zu leisten, ihn gesagt zu haben: Die Ukraine "ist überhaupt nicht souverän, weil sie von unseren Hilfen abhängt."
Das tat sie schon seit 2014. Weshalb ungeachtet der wahnhaften Ideologie, die in Kiew herrscht, eine Umsetzung der Minsker Abkommen zu haben gewesen wäre. Aber diese Politiker und ihre medialen Anhängsel sind ebenso besessen von der Fantasie, Russland niederzuringen, wie die Neokons in Washington. Damit sie anerkennen, dass die Wirklichkeit anders aussieht, würde vermutlich nicht einmal ein Verschwinden der Ukraine von der Landkarte genügen. Da bräuchte es ein neues Modell auf einem Sockel im Tiergarten. Wirklich schlechte Aussichten für die Vernunft in Deutschland.
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