Von Elem Chintsky
Die Aussagen Macrons über "europäische Eigenständigkeit", mit denen er seine Reise nach China Revue passieren ließ, sorgten für Furore in der EU und den USA. Alle möglichen "Wegweiser für Irrende" scheiterten an einer konstruktiven Deutung der Aussagen des französischen Staatsoberhaupts. Auch dämmert es, dass es nicht wirklich lediglich Lippenbekenntnisse waren – sondern echte Pariser Versuche, sich aus der sonst immer fest geschnürten, westlichen Zwangsjacke etwas Bewegungsfreiheit zu entlocken. Das jüngste Beispiel ist wohl der LNG-Handelsdeal mit Peking, den Paris im chinesischen Renminbi Yuan (CNY) abgeschlossen hatte.
Des Weiteren schlug Macron vor, dass sich Europa nicht in die zwischen Peking und Washington, D.C. ausgefochtene Eskalation um Taiwan einmischen solle. Besonders empört darüber zeigte sich der US-Senator für Florida, Marco Rubio.
Rubio entgegnete, dass falls Europa in der Causa Taiwan Neutralität wahren wollen würde, es auch zusehen müsse, wie es selbst aus dem osteuropäischen Krieg herauskomme, in den es die USA "hineingezogen" habe. So konstruieren sich regionale, republikanische US-Politiker also ihre Wahrnehmungen. Plötzlich hatten die Amerikaner nichts mit dem "Demokratieexport" in die Ukraine zu tun.
Selbst der zurzeit in der Opposition aktive Ex-Präsident Donald Trump äußerte Missbilligung in Bezug auf die Aussagen seines "engen Freundes" Macron. Hier sehen wir also einen überparteilich geäußerten Kummer in der US-amerikanischen Machtsphäre.
Wer war aber sofort zur Stelle, als Paris kürzlich in Ungnade geriet? Die mittlerweile stark ausgehungerte "Hyäne" Europas, wie Winston Churchill die polnische Republik in seinem Büchlein "The Gathering Storm" auf Seite 311 betitelte. Damals suchte er Worte, um die Gefräßigkeit Warschaus – sechs Monate vor der eigenen, tragischen Nazi-Invasion im September 1939 – bei der Demontage des tschechoslowakischen Staates in Worte zu fassen.
Würde man eher eine Bezeichnung verwenden, die näher am heutigen Selbstverständnis Warschaus angelehnt ist, so hieße das so: Der aufstrebende Regional-Hegemon Polen, in der Form seines höchsten Regierungsvertreters Mateusz Morawiecki, sprach in den USA vor. Morawiecki musste man nicht zweimal bitten, in den Flieger zu steigen und die durch Macron verursachten US-Tränen eilend abzutupfen.
Die Ereignisse der letzten Woche – also Macrons geopolitische Trotzigkeit und Berlins Hörigkeit samt der ausnahmslosen Abschaltung der eigenen atomaren Infrastruktur – zeigen, dass die ehemals harmonische Berlin-Paris-Machtachse im europäisch-kontinentalen Wirtschaftsraum vollkommen irritiert, zerbröselt und sogar passé ist. Ähnlich, wie es vor 26 Jahren Zbigniew Brzeziński seinem Expertenpublikum aus der US-amerikanischen Sicherheitspolitik gegenüber empfohlen hat, dieses deutsch-französische Bündnis vorsorglich und stufenweise abzuschwächen.
In den westlichen Massenmedien wird Warschau mit Lorbeeren überschüttet, während Paris ermahnt und getadelt wird. Wenn schon die deutsche Führung bereit ist, nukleares Harakiri – zugunsten einer ruhigen Entlassung der USA in die Multipolarität – zu begehen, dann könnte doch Macron sich zumindest zurückhalten, vor unberechenbaren "Autokraten" vorzusprechen. Immerhin steht doch der einst uneinnehmbare, westliche Wertekanon auf dem Spiel.
Wie ein erkrankter Komparse in einem Zombiefilm wird dieser von einem ehemals extrem benachteiligten Kollegen aus den hinteren Reihen ersetzt. Dieser habe gefühlt eine halbe Ewigkeit auf einen solchen Durchbruch seiner Karriere als Untoter gewartet. Die Warschauer PiS-Oligarchie sieht, dass Berlin heruntertaktet auf Sparflamme und Paris seine Republik durch die Hintertür energiepolitisch diversifizieren möchte. Noch mal: Die europäisch-dualistische, horizontale Machtachse zwischen Berlin und Paris ist nicht mehr. Lange lebe der vertikale, polnische Prometheismus.
Wer ist Prometheus im polnischen Wunschtraum?
Jeder kennt den Mythos des Prometheus, der sich selbst aufopferte, um von den Göttern das Feuer stehlen zu können und es den Menschen zu übergeben. In diesem archetypischen Bild sieht sich der polnische Freiheitskämpfer als der metaphysische Herausforderer eines vermeintlich üblen, ungerechten Herrschergottes im eisig-wehenden Osten.
In der geopolitisch-historischen Wahnvorstellung polnischer Eliten repräsentiert Moskau das "Mordor des bösen Demiurgen", den es gilt, mit allen Mitteln zu besiegen. Ein scheinbar unbezwingbarer Bösewicht, der eigentlich verwundbar sein könnte, würde man nur endlich den grellen, voller Tugenden beladenen Atlas des Westens zu mehr Anteilnahme verpflichten können: den imperialen Nachfolger des Römischen Reichs, also die in polnischen Augen galanten, unfehlbaren Vereinigten Staaten von Amerika. Das "gute" Babylon, sozusagen. Die Formel lautet, um genügend Segen zu bitten – um die unmögliche Aufgabe zu erfüllen. Einem mutigen polnischen Bellerophon gleich, der die russische, fauchende Chimäre nach einem ganzen, frustrierenden Jahrtausend endlich dezidiert erlegt oder domestiziert.
Die pragmatische, geostrategische Manifestation dieser politischen Märchen ist das sogenannte "Intermarium", das der polnische Staatsmann und Putschist Józef Piłsudski vor knapp über 100 Jahren als Projekt gegen Russland vorschlug. Ein Landgürtel, der breitflächig die Ostsee mit jeweils dem Adriatischen Meer im Südwesten und dem Schwarzen Meer im Südosten verbinden sollte. Das supranationale, politische Gerüst hierfür solle unter polnischer Führung zu stehen haben.
Dass die römisch-katholische, also scheinbar christliche, Oligarchie in Polen nicht begreift, dass sie sich – zu Ende gedacht – einer luziferischen Metapher bedient, um die eigene russophobe Sache und ihre Rechtmäßigkeit zu begründen, scheint das letzte Jahrhundert hinweg egal gewesen zu sein. Selbst die russlanddeutsche, theosophische Mystikerin Helena Blavatsky hat in ihren esoterischen Schriften die nicht schwer zu erfassende Parallelität zwischen Luzifer und Prometheus offen propagiert und glorifiziert. Auch für sie war der Akt Satans, seinem Schöpfergott zu trotzen, um den ersten Menschen "verbotenes Wissen" über eigene Autonomie und persönliche Souveränität zu transferieren, eine barmherzige Selbstaufopferung, die aus Liebe zum selbigen Menschengeschlecht geschah. Das Kleingedruckte badet das Menschengeschlecht dann später aus. So auch die polnische Republik. Ein junger Józef Piłsudski kanalisierte Prometheus schon sehr früh, als er zusammen mit dem älteren Bruder von Wladimir Lenin, Alexander Uljanow, einen Anschlag auf den russischen Imperator und Zaren Alexander III. im Jahr 1886 in Sankt Petersburg plante.
Die polnische Elite versucht sich in einer neuen, geopolitischen "Gnostik": Sie plädieren dafür, verdecktes "Wissen" über die Russen zu haben, das alle übrigen Parteien "blauäugig" die letzten Jahrzehnte ignoriert hätten – geblendet von billiger, russischer Energie. Nun sehen sich dieselben Eliten bestätigt und stilisieren sich als die eigentlichen Russlandexperten und slawischen Propheten über die "Bedrohung aus dem Osten".
Der moderne "Prometheismus" Piłsudskis baut auf dem metaphysischen, und durch die romantische Literaturepoche verstärkten, "polnischen Messianismus" auf. Dieses Konzept beschreibt Polen als den singulären "Christus unter den Völkern". Ewig leidend, "für unsere und eure Freiheit". Diese Periode hatte seine Blütephase vom Novemberaufstand in den Jahren 1830 bis 1831 bis zum Januaraufstand in den Jahren 1863 bis 64, beide Male – wie denn sonst? – gegen das Russische Kaiserreich.
Sicherlich sind einige dieser Aspekte der polnischen Volksseele rührend und aufregend nachzuempfinden und zu erforschen. Aber jegliche Sentimentalitäten schwinden selbst beim befangensten und voreingenommensten Studenten polnischer Geschichte, wenn die blanke, zynische Instrumentalisierung – von inneren sowie äußeren Kräften – dessen entblößt wird. Gepaart wird das mit der unbußfertigen Einstellung der polnischen Eliten, die ihnen bei politischen Entscheidungen nie von der Seite zu weichen scheint.
Wahrnehmungen und Fakten
Erinnert sich jemand an Dudas Besuch in Peking letztes Jahr? Kurz vor den Olympischen Spielen zu Beginn des Jahres 2022? Da war der Spieß noch umgedreht. Es wurde etwas Kritik geübt, dass Polen seine eigene, autonome, souveräne Außenpolitik verfolge. Da war noch nicht so scharfe Rede von "autoritären Regimen", denen man sich in Peking beugt. Der Beginn der militärischen Sonderoperation Russlands in der Ukraine stand kurz bevor, und die vollkommen evidente US-angezettelte Eskalationsspirale zwischen Washington und Peking, mit Nancy Pelosi an der Spitze, war noch ein halbes Jahr hin.
Polen ist normalerweise ausgesprochen bemüht um sehr gute Beziehungen zur Volksrepublik China. Selbstverständlich geht es um die kostbaren Handelsbeziehungen. Es erscheint eher als scheinheilig, dass Warschau in den letzten Tagen so sehr an den öffentlichen Anfeindungen gegen Macron kapitalisiert hat. Warschau versteht Chinas Wunsch für Frieden in der Ukraine, da Peking diesen Frieden für die Neue Seidenstraße auch braucht. Aber die polnische Führung scheint erpicht darauf, dass die Ukraine im Rahmen eines bald installierten Intermariums der Neuen Seidenstraße die Pforten öffnet – anstelle als neutraler, demilitarisierter Staat, wo die historisch russischen Territorien der Russischen Föderation angehören würden und gänzlich denazifiziert wurden.
Die "prometheische" Brigade
Seit den ersten Monaten des Ukraine-Krieges kursierten schwach verschleierte Anspielungen aus der polnischen Führungsschicht über vermeintliche "NATO-Friedensmissionen", die von Polen aus prophylaktisch in die Westukraine gehen sollten, um den Ukrainern "zu helfen" und den "endlosen Expansionsgelüsten" der Russen etwas entgegenzuhalten. Wenn es nämlich nach der polnischen Führungsschicht gehen würde, macht Putin erst in Lissabon halt.
Es gibt da diese litauisch-polnisch-ukrainische Brigade (LITPOLUKRBRIG) zu Ehren des Großhetmans von Litauen und ruthenischen Fürsten, Konstantin Ostroschski, der im 14. und 15. Jahrhundert aktiv war. Ebendiese Brigade könnte eine der ausführenden Kräfte bei einer solchen Aktion sein. Sofern die Brigade klassische Manneskraft besitzt, so ist die Rede von circa 1.500 bis 5.000 Soldaten. Tendenz ist sicherlich steigend.
Im Falle von der LITPOLUKRBRIG ist es eine Brigade mit drei Regimentern aus dem sogenannten Lublin-Dreieck. Dieses regionale Bündnis wurde im Jahr 2020 von Polen, Litauen und der Ukraine gegründet, um die politische, wirtschaftliche, soziale und militärische Zusammenarbeit zu vertiefen und die Integration der Ukraine in die Europäische Union und die NATO zu unterstützen. Es handelt sich um eine energische Fortsetzung des Prozesses, über den die USA bereits Anfang der 1990er Jahre Herrn Gorbatschow belogen hatten.
Die Brigade, die angeblich an internationalen, friedenserhaltenden und humanitären Operationen teilnehmen soll, wurde schon 2014 in der polnischen Hauptstadt gegründet – aufgestellt wurde sie im Raum Lublin. Im Jahr 2015 unterzeichneten die Verteidigungsminister Litauens, Polens und der Ukraine im westukrainischen Lemberg ein technisches Abkommen über die Führung und den Betrieb der Brigade. Das Timing war ausgezeichnet, da 2015 bereits seit einem Jahr die "richtige" Regierung in Kiew für solche Projekte beherbergt war.
Im Jahr 2016 fanden dann schon in Lublin die ersten Militärübungen mit Beteiligung der Brigade statt. Das Glück bestand darin, dass US-amerikanische Militärausbilder Zeit und Muße hatten, an der Ausbildung von neuen Offizieren teilzunehmen. Seit dem Jahr 2018 steht die Brigade unter dem Kommando des ukrainischen Oberst Dmytro Bratischko. Offenen Quellen zufolge verfügte sie noch 2021 über 4.500 Angehörige.
Es ist also sehr wahrscheinlich, dass sich die Truppen der LITPOLUKRBRIG darauf vorbereiten, in die Ukraine einzumarschieren und sich an der viel zitierten und im Westen mit großer Hoffnung behafteten Gegenoffensive der ukrainischen Streitkräfte zu beteiligen. Laut offiziellen polnischen Quellen sollen im Laufe des Jahres 2022 knapp 9.000 und allein im Januar 2023 nochmal 4.392 Berufssoldaten die Ränge der Polnischen Armee verlassen haben.
Selbige polnische Medien stellen dies als "fatale" Tendenz dar und sind vollkommen ratlos, wo diese Kämpfer nur hin sein könnten.
Die Vermutung, dass diese erfahrenen Soldaten sich der ukrainischen Armee als "Freiwillige" – de facto Söldner – anschließen, streift nicht einmal die Wahrnehmung der Berichterstattung.
Hinzu kommt, dass mit einer solchen Brigade die empfindliche Frage der offiziellen Beteiligung einer NATO-Armee am Ukraine-Krieg rechtlich zumindest verschleiert wäre. Ein ähnliches Prinzip der "Freiwilligen" müsste für fähige Piloten der in die Ukraine zu liefernden F-16-Kampfflugzeuge angewandt werden. Wer soll sonst diese Maschinen in kürzester Zeit effektiv fliegen?
In all diesen Jahren hat Polen – als ob es sich kurioserweise auf einen Krieg vorbereiten würde – die Zahl seiner Streitkräfte kontinuierlich aufgestockt: von 95.000 auf 164.000 Mann in acht Jahren. Das sind knapp über 53 Prozent Wachstum.
Außerdem sind ab März 2023 etwa 11.000 NATO-Truppen in Polen stationiert, davon 10.000 aus den USA. Sie sollen für die Sicherheit Polens sorgen. Aber Warschau wird auch bei sich einen gemeinsamen Militärstützpunkt mit den Vereinigten Staaten und Lager für US-amerikanische Ausrüstung und Waffen bauen. Grob erfasst, wird ein leistungsfähiges, logistisches Rückgrat für die Ostflanke der NATO geschaffen. Im April trafen zudem moderne F-22 Raptor-Kampfflugzeuge der Firma Lockheed Martin aus den USA in Polen ein.
Ministerpräsident Morawiecki war also neulich in den USA zu Besuch und sagte, die USA hätten der Entsendung mehrerer tausend zusätzlicher Soldaten nach Polen zugesagt. Wie man sieht, scheut Polen keine Mühe, so weit wie möglich weiter aufzurüsten. Nicht nur in Vorbereitung darauf, seine eigene Sicherheit zu gewährleisten. Viel mehr sieht es danach aus, auch der Ukraine Sicherheitsgarantien im Rahmen einer künftigen konföderalen Union – einer "Warschauer Union" – zu geben. Dabei werden auch mit Sicherheit historische Forderungen an Gebiete geltend gemacht, die Polen seit über 80 Jahren als seine eigenen, verlorenen versteht. Ganz zu schweigen davon, dass auch Ungarn oder Rumänien herbeieilen würden bei einer künftigen territorialen "Neuevaluierung" des ukrainischen Staatsgebietes.
Deswegen war der polnische Regierungschef Morawiecki eigentlich in Washington, D.C. Um von den US-Amerikanern gesagt zu bekommen, dass man im Falle eines "freundlichen Einmarschs" in die Westukraine den Rücken gedeckt bekomme. Und das könnte unter gewissen Umständen, die das Wahren einer Grauzone des internationalen Rechts voraussetzt, außerhalb der NATO- und EU-Verträge geschehen. Alles hängt jedoch davon ab, wie der Kreml solche Züge deuten würde und welche Antwort er sich entscheidet, daraufhin in die Tat umzusetzen.
Elem Chintsky ist ein deutsch-polnischer Journalist, der zu geopolitischen, historischen, finanziellen und kulturellen Themen schreibt. Die fruchtbare Zusammenarbeit mit RT DE besteht seit 2017. Seit Anfang 2020 lebt und arbeitet der freischaffende Autor im russischen Sankt Petersburg. Der ursprünglich als Filmregisseur und Drehbuchautor ausgebildete Chintsky betreibt außerdem einen eigenen Kanal auf Telegram, wo man noch mehr von ihm lesen kann.
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