Von Dagmar Henn
Man kann den Aufbruch sehen. Wenn man beispielsweise den Empfang betrachtet, der dem brasilianischen Präsidenten Lula in den Vereinigten Arabischen Emiraten zuteilwurde. Nichts wurde ausgelassen, was einem Staatsgast zeigen kann, wie willkommen er ist. Kampfflugzeuge, die den Himmel in den Farben der Landesflagge färben, Böllerschüsse aus Kanonen, Ehrenformation – dieser Empfang wurde zelebriert, wie ein solcher Empfang nur zelebriert werden kann. Und kein westlicher Staatsgast kann noch auf eine derart euphorische Begrüßung hoffen; nicht nur Bundesaußenministerin Annalena Baerbock wird mit dem Minimum des diplomatisch Gebotenen abgespeist.
Diese Veränderung hat in ganz nüchternen, ökonomischen Vorgängen ihre Grundlage; in dem sich entwickelnden Projekt, den US-Dollar als Weltreservewährung durch ein neues System abzulösen. Und zwar nicht eine Währung durch eine andere, wie es nach dem Zweiten Weltkrieg geschah, als das britische Pfund durch den Dollar abgelöst wurde, sondern durch ein Bündel von Währungen und eine neue Struktur des internationalen Handels, die sicherstellen soll, dass kein einzelnes Land mehr Dominanz über andere erringen kann.
Wenn man wissen will, wie sich das jetzige, das untergehende System für die Länder des Südens angefühlt hat, kann man sich in Erinnerung rufen, was Deutschland während der Eurokrise mit Griechenland, Spanien, Italien angestellt hat. Der Euro war als Währung unter der Kontrolle der stärksten Wirtschaft des Euroraums, und als die südlichen Euroländer durch die Bankenrettung überschuldet waren, schickte ihnen die Bundesregierung nette Briefe, in denen vorgegeben wurde, um wie viel die Renten zu kürzen seien, wie viele Krankenhäuser zu schließen hätten und um wie viel die Gehälter der Lehrer gesenkt werden müssten. In Griechenland war der Einschnitt ins Leben der Mehrheit derart katastrophal, dass im ersten Winter der Troika-Diktate ein Kochbuch aus dem Zweiten Weltkrieg zum Bestseller wurde.
Das, was damals innerhalb der Eurozone passierte, war eine europäische Re-Inszenierung dessen, was der Internationale Währungsfonds und die Weltbank über Jahrzehnte hinweg auf dem gesamten Planeten trieben. Staaten wurden gezielt in den Bankrott gestürzt, um ihnen dann Auflagen zu erteilen, die sicherstellten, dass der Reichtum des Landes in den Westen abfloss. Der zentrale Trick dabei war immer, dass internationale Kredite nie in den Landeswährungen aufgenommen werden konnten, sondern in US-Dollar fixiert waren. Damit hatten die Kreditnehmer keinerlei Einfluss auf die Entwicklung, die die Höhe dieser Kredite umgerechnet in die eigene Währung nahm, und waren daher vom Wohlwollen der Besitzer dieser Währung abhängig. Was natürlich in voller Entfaltung erst nach dem Ende der Sowjetunion galt – diese hatte mit ihrem Außenhandel immer einen Wirtschaftsraum gebildet, der sich dem Dollar entzog, und ihren Handel vielfach ganz ohne Währungsbeteiligung durch Gütertausch abgewickelt.
Wenn man die Handelsbilanz der USA betrachtet, kann man sehen, dass ihre Stabilität völlig von der Aufrechterhaltung des Dollar-Systems abhängt. Sie importieren weit mehr als sie exportieren, sie wenden einen extrem hohen Teil ihres Staatshaushalts für unproduktive Ausgaben, wie den weltgrößten Rüstungshaushalt, auf, und ein großer Teil der Gewinne von US-Konzernen beruht auf immateriellem Eigentum, wie Patenten und Marken. Das ist eine Ökonomie, die ohne ständige Zuflüsse von außen kollabiert. Und der Kern des Petrodollars, jenes Abkommens zwischen Saudi-Arabien und den USA, das zu Beginn der 1970er geschlossen wurde (und das jetzt beendet ist), war letztlich, dass die Saudis mehr Geld für ihr Öl verlangen durften, wenn sie das eingenommene Geld anschließend brav in die USA tragen und es dort investieren.
In den letzten Monaten erfolgte nun die große Herausforderung. Saudi-Arabien und China vereinbarten, ihren Handel in heimischen Währungen abzuwickeln. Brasilien und China ebenso. Der brasilianische Präsident Lula hinterfragte bei der Amtseinführung von Dilma Rousseff als Chefin der BRICS-Entwicklungsbank: "Wer hat eigentlich beschlossen, dass der Dollar die Währung ist?". Unbeabsichtigt haben die Länder des Westens mit den Sanktionen gegen Russland, insbesondere dem Ausschluss von SWIFT, einen Impuls gegeben, der die Bewegung weg vom US-Dollar deutlich beschleunigt hat.
Welche Bedeutung diese Entwicklung für die Länder des globalen Südens hat, zeigt sich in Momenten wie der Begrüßung Lulas in den Arabischen Emiraten. Es zeigt sich auch im plötzlichen Ausbruch unerwarteten Friedens, wie im Jemen. Für die überwiegenden Teile der Welt wäre ein Ende des Dollar-Regimes endlich eine Chance zu eigenständiger Entwicklung, ohne beständig durch Eingriffe seitens des IWF oder gar Regimewechsel immer wieder zurück auf Los gesetzt zu werden.
Der Westen, so die indische Politikwissenschaftlerin Radhika Desai jüngst im Gespräch mit Michael Hudson, hat ein Problem: "Alles, was der Westen anzubieten hat, sind Stöcke [Das englische Gegenstück zum deutschen 'Zuckerbrot und Peitsche' lautet 'carrots and sticks', 'Karotten und Stöcke']. Und China kommt beladen mit allen Karotten, die man sich vorstellen kann. Mit den saftigsten Karotten, die man sich denken kann."
Ein afrikanischer Staatschef formulierte das vor einigen Tagen so: "Die Chinesen kommen und bringen einen Flughafen. Der Westen bringt Belehrungen." Augenblicklich sind das vor allem Belehrungen, sich nicht auf Geschäfte mit China oder Russland einzulassen.
Die Auseinandersetzungen, die derzeit zwischen dem IWF und China stattfinden, sind, so Desai, ein Teil dieses Kampfes. Der IWF verlangt, dass China seinen Schuldnern gegenüber auf Teile der Kredite verzichtet, während er selbst und kommerzielle westliche Kreditgeber ihre Kredite garantiert bekommen. Klar, an chinesischen Krediten hat der IWF kein Interesse, seine Aufgabe ist es ja, die Länder beim Westen verschuldet und damit unter Kontrolle zu halten. Aber China lässt sich auf das Spiel nicht ein und fordert, alle müssten gleichermaßen ihre Kredite abschreiben.
"Und das", sagt Desai, "ist ein Teil des Untergrabens. Das ist eine der größten Veränderungen seit dem Ersten Weltkrieg. Und ein Teil dieser Veränderungen ist, dass die Welt, die die imperialistischen Mächte am Ende des Zweiten Weltkriegs schufen, die immer noch sehr mächtig sind, jetzt zunehmend verschwindet."
Aber es geht nicht nur darum, dass die Dominanz des Westens endet. Es geht auch um ein Ende der neoliberalen Wirtschaftsordnung, die sich seit den 1970ern im Westen durchgesetzt hat und deren Kern die Betonung einer auf Verschuldung beruhenden Finanzwirtschaft ist. Michael Hudson: "Offensichtlich ist die eine Sache, die die neue globale Weltmehrheit kennzeichnet, eine gemischte Wirtschaft, in der andere Länder das tun, was China getan hat. Sie werden Geld und Land, genauer, Wohnung und Beschäftigung, zu öffentlichen Rechten, öffentlichen Dienstleistungen machen, statt sie in Waren zu verwandeln, zu privatisieren und zu finanzialisieren, wie das im Westen geschehen ist. (…) Das wird nicht die Frage sein, ob der chinesische Yuan und der russische Rubel und andere Währungen den Dollar ersetzen. Das ist ein völlig anderes Wirtschaftssystem."
Eine Währungsordnung, die es unmöglich macht, dass ein Land andere unterordnet, war bereits nach dem Zweiten Weltkrieg im Gespräch. Es war ein Vorschlag des britischen Ökonomen Maynard Keynes namens "Bancor". Dabei sollte über Kapitalkontrollen und ein System des Zahlungsausgleichs sichergestellt werden, dass weder Defizite noch Überschüsse unbegrenzt wachsen können, und auf diese Weise wirtschaftliche Ungleichgewichte begrenzt werden (für die die gegenwärtige US-Handelsbilanz ein Extrembeispiel ist). Ähnliche Überlegungen gab es auch noch auf der Wirtschaftskonferenz in Moskau 1952. Aber den Vereinigten Staaten gelang es, das System von Bretton Woods durchzusetzen, das den Dollar im Westen in die Stellung brachte, die zuvor das britische Pfund eingenommen hatte.
An diesem Punkt ist sich Desai mit Hudson einig – das neoliberale Wirtschaftsmodell wird abgelöst; nicht aus ideologischen Gründen, sondern schlicht aus Notwendigkeit. "Ich denke, die meisten Länder werden herausfinden, dass sie, wenn sie irgendeine Art Entwicklung schaffen wollen, eine anti-neoliberale Entwicklungspolitik annehmen müssen. Auf diese Weise gibt es zwar Wirkungen von Überresten des Neoliberalismus, aber die Umstände stellen sicher, dass der Neoliberalismus im Kern erledigt ist, denn jeder erfolgreiche Versuch, Entwicklung zu schaffen, wird die Art von Staatseingriffen beinhalten, die gerade 'ein Stückchen' vom Sozialismus entfernt sind."
"Man stelle sich einmal vor", so Hudson, "die Vereinigten Staaten hätten das 1945 getan und die Pläne von Keynes akzeptiert. Man stelle sich einmal vor, wie anders die Entwicklung der Welt in den letzten 75 Jahren gewesen wäre."
Eine Welt ohne Austeritätsprogramme, ohne Farbrevolutionen und Putsche, ohne Kolonialkriege und ohne ständige Lohndrückerei? Selbst für die Bevölkerungen des Westens, die in den letzten vierzig Jahren gewaltig an Lebensstandard eingebüßt haben, wäre das eine gewaltige Verbesserung. Genau darum ist es so wichtig, den Krieg in der Ukraine am Laufen zu halten. Es könnte sonst noch jemand dort bemerken, dass gerade wirkliche Freiheit im Angebot ist.
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