Von Dagmar Henn
Jedes Jahr ist sie wieder zu hören, die Klage vom Fachkräftemangel. Und meistens ist die Antwort darauf so banal wie falsch: mehr Einwanderung. Dabei müsste schon der Vergleich der Ausbildungszeiten erkennen lassen, dass das nicht funktionieren kann.
Nicht viele wissen es, aber es ist so – das deutsche System der Berufsausbildung ist weltweit einzigartig. Das ist es nicht nur, weil jeder Berufsabschluss eine Ausbildung von drei Jahren voraussetzt, mit minimalen Kürzungsmöglichkeiten – in Berufen, die in anderen Ländern eher Anlernberufe sind, genügt ein halbes Jahr Praxis, und gut ist's. Das ist es auch, weil es eben nicht eine Ausbildung für eine bestimmte Stelle in einer bestimmten Firma ist, sondern sie eine universelle Einsetzbarkeit in einem bestimmten Bereich ermöglicht. Und es ist der staatlich, über die Berufsschulen, garantierte theoretische Teil, der dieses besondere Niveau der Ausbildung sichert, aber eben auch dafür sorgt, dass entsprechende Kräfte nicht importiert werden können.
Es gab immer wieder Anläufe, die Qualität dieser Ausbildung abzusenken, zuletzt im Zusammenhang mit dem Bologna-Prozess. Jeder Azubi solle nur noch die Module lernen, die er unbedingt brauche, das ist das Ziel dieser Angriffe bereits seit 40 Jahren. Letztlich ist es meist die Großindustrie, die das dann doch nicht klug findet, weil die Anpassungsfähigkeit an technologische Veränderungen verloren geht.
Aber betrachten wir einmal, auf welchen Feldern jetzt wieder ein Fachkräftemangel konstatiert wird. Die Medien berufen sich auf eine Studie eines Ablegers des arbeitgebernahen Instituts der deutschen Wirtschaft (IW), des Kompetenzzentrums Fachkräftesicherung (KOFA). Das erste Mal seit mindestens 2005 liegt die Zahl der offenen Stellen mit Berufsabschluss seit 2021 deutlich über der Zahl der möglichen Bewerber. Bei Stellen für An- und Ungelernte ist dies nach wie vor anders; da treffen 244.211 offene Stellen auf 1.278.000 Bewerber, also fünf Bewerber auf eine Stelle.
Nun könnte man ganz nüchtern sagen, das gibt diesen Bewerbern eine bessere Marktmacht und sorgt für vernünftigere Bezahlung. Und wenn das Angebot so weit nicht ausreicht, dass es zu tatsächlichen Problemen führt, gibt es immer noch die Möglichkeit, aus der großen Menge der An- und Ungelernten jemanden auszubilden. Inzwischen wäre das sogar technisch möglich – all die Jahre hinweg seit 2005 war eines nach den Regeln von Hartz IV völlig unmöglich: Ausbildung. Jede Form von Abstieg, von Qualifizierungsverlust war möglich, aber kein Qualifizierungsgewinn. Auch diese Regel hat dazu beigetragen, dass wenig nachholende Ausbildung möglich war.
Woran man bereits sehen kann, dass die Probleme wirklich hausgemacht sind. In jedem Bereich ein wenig anders, aber samt und sonders selbstverschuldet.
Nehmen wir einmal die Bauwirtschaft. Das KOFA, jenes IW-Tochterunternehmen, bemisst die Lücke an Fachkräften bei Bau, Architektur, Vermessung und Gebäudetechnik auf 57.657. Es fehlen vor allem Techniker und Meister, nachdem die Stellen für Gesellen nach wie vor gerne mit importierten billigeren Kräften besetzt werden. Der Ursprung des Problems ist sehr einfach zu erkennen: Über Jahrzehnte hinweg wurde in diesem Bereich zu wenig ausgebildet, und es braucht nun einmal eine ganze Reihe von Gesellen, um in deren Reihen einen Meister zu finden ... Die Meister und die Techniker sind unverzichtbar, weil irgendjemand die Umsetzung der Baupläne kontrollieren und die Arbeiten beaufsichtigen muss, der sich mit den deutschen Normen auskennt, die eingehalten werden müssen, damit der Bau abgenommen wird. Aber es ist schlicht nicht möglich, die Spitze einer Pyramide zu halten, wenn man die Basis fortnimmt.
Der Grund für den ebenfalls beklagten Fachkräftemangel in der Pflege liegt etwas anders. In diesem Bereich werden an sich Jahr für Jahr genug Kräfte ausgebildet; der Mangel entsteht dadurch, dass viele diesem Beruf sehr bald wieder den Rücken kehren. Dabei ist vor allem der Anteil der Frauen hoch, die aus der Familienzeit nicht mehr zurückkehren. Dieses Problem findet sich ähnlich bei Kinderbetreuung und -erziehung; der entscheidende Hebel dabei wären die Arbeitsbedingungen.
Handel? Lasst uns einmal über die Einkommen reden. Physiotherapie? Nach wie vor ein Beruf, in dem die Ausbildung bezahlt werden muss, um am Ende dank jahrzehntelanger Kürzungen durch die Krankenkassen gerade so über die Runden zu kommen ... Informatik? Wer kommt eigentlich auf die brillante Idee, Fächer, deren Absolventen Mangelware zu sein scheinen, mit einem Numerus clausus zu versehen? Gibt es noch irgendjemanden, der bei solchen Dingen auch nur einen halben Schritt vorausdenkt? Buchhaltung? Früher konnte man davon gut leben; heute endet man auch damit in der Großstadt in einer Existenz von der Hand in den Mund. Und eines ist absolut klar – Buchhalter aus dem Ausland zu importieren, ist so gut wie unmöglich. Das Steuerrecht, auf dem diese Tätigkeit beruht, unterscheidet sich zu sehr.
Andrea Nahles, inzwischen Chefin der Bundesagentur für Arbeit, gab sich bei der Vorstellung der KOFA-Zahlen alle Mühe, arbeitgeberfreundliche Begleitmusik dazu anzustimmen: "Selbst wenn wir alle inländischen Potenziale heben, wird das auch aus demografischen Gründen nicht ohne weitere Zuwanderung gehen." Dabei haben die letzten Einwanderungswellen belegt, dass nur das Angebot an ungelernten Kräften steigt.
Zum Jahresende 2022 befanden sich in Deutschland noch 1,216 Millionen junger Leute in einem Ausbildungsverhältnis. Damit wurde der letzte Stand der Westrepublik 1989 unterschritten. Es wird allgemein konstatiert, die duale Berufsausbildung befinde sich in einer Krise.
Das tut sie seit Langem, seit auf vielen Ebenen die Anreize so gesetzt sind, dass das Angebot an Ausbildungsplätzen in vielen Bereichen kontinuierlich zurückgeht (siehe Bauwirtschaft). Und rein grundsätzlich – Ausbildungsvergütungen sind ihrer Höhe nach ursprünglich danach bemessen, dass 14-, 15-Jährige, die noch bei ihren Eltern wohnen und dort versorgt werden, etwas auf die Hand bekommen. Inzwischen sind Lehrverträge mit nicht Volljährigen bereits selten geworden, aber die Höhe der Ausbildungsvergütungen hat sich an diese völlig veränderte Lage nicht angepasst.
Nichts davon ist ein unlösbares Problem, und nichts davon bräuchte tatsächlich die von Nahles betonte Zuwanderung. Was es aber bräuchte, wäre eine Politik, die sich über solche Dinge Gedanken macht, statt überall Heizungserneuerungen ohne Installateure vorzuschreiben. Oder man kann den Markt das regeln lassen. Das ist aber in diesem Fall nicht gewünscht, denn das hieße, dass in allen Mangelbereichen die Einkommen deutlich steigen müssten. Und es gibt eine Sache, die in Deutschland bekanntermaßen um jeden Preis vermieden werden muss – höhere Löhne.
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