Von Dagmar Henn
Es ist tatsächlich schon neun Jahre her, dass der "Übergangspräsident" der Kiewer Putschregierung die "Antiterroristische Operation" (ATO), also den Einsatz von Militär gegen den Aufstand im Donbass und damit den Beginn des ukrainischen Bürgerkriegs befahl.
Anfang April 2014 war es in Charkow, in Donezk und Lugansk zu Besetzungen von Verwaltungsgebäuden gekommen; darin gipfelten die wochenlangen Proteste, die sich als Anti-Maidan gegen die Machtübernahme durch ukrainische Nationalisten in Kiew richteten. Im Grunde keine sensationellen Handlungen, denn genau solche Besetzungen, einschließlich der Erstürmung des einen oder anderen Waffenlagers, hatten als Teil der Maidan-Proteste in den Wochen davor in der Westukraine zu Dutzenden stattgefunden. Diese Besetzungen wurden allerdings in den westlichen Medien, in denen die Erzählung vom "friedlichen Protest" gepflegt wurde, nie berichtet.
Eine der ersten Handlungen der Putschregierung in Kiew bestand darin, sowohl die Partei der Regionen, der der gewählte ukrainische Präsident Janukowitsch angehörte, als auch die Kommunistische Partei der Ukraine zu verbieten. Damit wurden genau die zwei Parteien attackiert, die im russischsprachigen Osten der Ukraine die meisten Stimmen bekamen. Und bereits am Tag der Verkündigung der ATO fand der erste Angriff auf die Städte Slawjansk und Kramatorsk durch Spezialeinheiten der ukrainischen Armee statt. Berichte von damals belegen, dass schon an diesen Angriffen westliche Vertreter beteiligt waren; "die ukrainischen Spezialeinheiten würden dabei von Kollegen aus den USA beraten," schrieb damals die Deutsche Welle, die wie alle anderen deutschen Medien kein Problem damit hatte, dass die angeblich so friedlichen Maidan-Vertreter selbst, kaum an die Macht gelangt, politische Auseinandersetzungen mit Waffengewalt führen wollten.
Turtschinow wurde damals vom Deutschlandfunk mit der Aussage zitiert: "Wir lassen nicht zu, dass Russland das Krim-Szenario in den östlichen Regionen der Ukraine wiederholt." Die Proteste im Donbass wurden gewissermaßen von der Rhetorik zur Krim verschlungen; in keinem der beiden Fälle waren die westlichen Medien und Politiker bereit, auch nur zur Kenntnis zu nehmen, dass hier die Bevölkerung ihrem Unwillen Ausdruck verlieh. Dabei war es nicht zu übersehen – in den ersten Nächten nach den Besetzungen am 6. April hatten sowohl in Donezk als auch in Lugansk jeweils Tausende über Nacht ausgeharrt, um die besetzten Gebäude zu bewachen, und tagsüber verwandelten sich die Vorplätze in eine Mischung aus politischer Demonstration und Volksfest.
Wäre es im Frühjahr 2014, beim Maidan-Putsch, tatsächlich um Demokratie gegangen, es hätte Verhandlungsbereitschaft geben müssen und keine "Anti-Terror-Operation." Eine Macht, die selbst eine ausgesprochen schwache Legitimität besitzt, kann es sich eigentlich nicht leisten, ihr politisch anders orientiertes Gegenbild zu Terroristen zu erklären. Die Regierung Turtschinow konnte das aus einem einzigen Grund – weil der gesamte Westen fraglos hinter ihr stand, und die mindestens ebenso legitimen politischen Proteste im Südosten der Ukraine sofort mit dem Etikett "russischer Einflussnahme" versehen wurden.
Im Grunde nahm die westliche Reaktion bereits die Haltung vorweg, die sich heute in Bezug auf die Ukraine findet. Denn was mit dieser Unterstützung für die ATO stattfand, war die Übernahme eines Begriffs der Ukraine, der die innere Vielfalt des Landes ignorierte und die Bandera-Ideologie zur einzigen ukrainischen Wahrheit erklärte. Die russischsprachigen Ukrainer wurden behandelt, als seien sie keine originären Bürger dieses Staates. Es ist dieser Schwenk hin zu den Anhängern der Nazi-Kollaborateure, der damals bereits sehr eigenartig war, weil er von vorneherein erkennen ließ, dass es gar nicht um die Ukraine ging, sondern einzig um die Möglichkeit, eine Front gegen Russland zu eröffnen.
Dabei war die Behauptung, Russland stecke hinter dem Aufstand im Donbass, tatsächlich an den Haaren herbeigezogen. Die allerersten Schritte in Richtung der Besetzungen im April fanden zwar Anfang März in Moskau statt, aber nur deshalb, weil die beteiligten ukrainischen Organisationen sich in der Ukraine bereits nicht mehr sicher fühlten; der Ort des Treffens war ein Internet-Sender namens Krasnoje TV, weit abseits russischer Regierungsstrukturen. Tatsächlich war die Reaktion auch in russischen Medien auf die Besetzungen erst einmal überrascht und ein wenig ratlos.
Aber davon wollte man im Westen nichts wissen; vielmehr musste die gewünschte Erzählung mit allen Mitteln aufrechterhalten werden. Auch wenn die Ergebnisse sämtlicher Parlamentswahlen der Ukraine seit 1992 die zwei unterschiedlichen kulturellen Lager so deutlich kennzeichneten, dass jeder Außenstehende sie erkennen konnte.
Wären die Proteste im Donbass im Jahr 2014 vom Westen als legitime Meinungsäußerungen aufgegriffen worden, es hätte keine ATO gegeben, und in der Folge keinen Bürgerkrieg. Die russische Regierung protestierte gegen die Gewaltanwendung, nicht anders, als die westeuropäischen Regierungen während des Maidan von Janukowitsch forderten, nicht mit Gewalt gegen die Demonstranten vorzugehen, und Russlands Außenminister Sergei Lawrow erklärte, es sei nun am Westen, einen Bürgerkrieg zu vermeiden; eine Reaktion, die nicht überrascht und völlig normal und nachvollziehbar ist, wenn im Nachbarland gerade politische Spannungen eskalieren. Nein, der Westen wollte den Bürgerkrieg. Und es gab nicht das mindeste Erschrecken oder auch nur Innehalten. Dabei hätte es Gründe genug dafür gegeben. Am zweiten Mai 2014 beispielsweise. Oder am neunten.
Die Liste der Augenblicke, an denen eine Umkehr möglich gewesen wäre, ist endlos. Damals, als die ATO begonnen wurde, hätte mit Sicherheit eine einzige Kritik aus westlichen Ländern genügt, um die Spirale der Gewalt aufzuhalten. Hätte man eine lebendige ukrainische Demokratie gewollt, das Abgleiten in den Krieg hätte verhindert werden müssen. Es gab keine einzige Stimme aus dem Westen, die eine angemessene politische Vertretung des Südostens einforderte oder davor warnte, den Konflikt zu eskalieren. Stattdessen wurde die Kiewer Position fraglos übernommen. Und der damalige US-Vizepräsident Joe Biden reiste am 22. April in die Ukraine und erklärte noch vor der Abreise, dort "seien prorussische Kräfte am Werk, die mit Hilfe aus Moskau in einer koordinierten Kampagne die Ukraine sabotierten und destabilisierten." Und auch die EU legte sich auf diese Lesart fest. Damit war deutlich genug signalisiert, dass auf die Menschen dort keinerlei Rücksicht genommen werden müsse.
Es war diese Festlegung, die für das Massaker am 2. Mai 2014 in Odessa den Weg bahnte. Bei jedem einzelnen Schritt, mit dem in der Ukraine der Handlungsrahmen eines demokratischen Staates verlassen wurde, gab es den Segen des Westens. Dass Organisationen wie der Rechte Sektor vor den Wahlen Ende Mai einen Terror ausübten, der ohne weiteres mit dem der SA 1933 vergleichbar war, hinderte weder die EU noch die Vereinigten Staaten daran, das Ergebnis dieser Wahlen anzuerkennen, und als der frischgewählte Präsident Petro Poroschenko erklärte, für jeden gefallenen ukrainischen Soldaten müssten hunderte Separatisten mit dem Leben bezahlen, wurde das höflich in deutschen Medien zitiert, als wäre das ein ganz normaler Satz, den ganz normale Politiker sagen, und nicht eine Wiederkehr des Partisanenbefehls der Wehrmacht.
Mit hundert kleinen Billigungen, Verleugnungen und Verniedlichungen hat der Westen, eingeschlossen die deutsche Bundesregierung, die Strecke hin zu dem Krieg bereitet, der bis heute dort tobt. Es gab nie eine politische oder moralische Rechtfertigung, die Bevölkerung des Staates Ukraine in einen Teil mit und einen Teil ohne Rechte zu spalten, die Proteste des einen Teils in den Himmel zu heben und die des anderen zu verdammen. Der 14. April 2014 ist einer der unzähligen Tage, an denen das Verhängnis hätte aufgehalten werden können. Man sollte all diese kleinen Schritte im Gedächtnis behalten; denn nur, wenn man sich an sie erinnert, kann man das wahre Ausmaß der westlichen Arroganz erkennen, mit der heute Russland Vorhaltungen für einen Konflikt gemacht werden, an dem so eifrig mitgestrickt wurde.
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