Von Dagmar Henn
War ja klar, wenn es einen Punkt gibt, an dem aus dieser Koalition etwas Positives herauskommen kann, dann wird der versenkt. Und genau so entwickelt sich jetzt die Debatte zur Kindergrundsicherung, bei der es, wie oft bei Fragen der Sozialpolitik, wieder nicht um das geht, was das eigentliche Problem ist.
Bundesfinanzminister Christian Lindner hat wieder einmal das Lohnabstandsgebot hervorgekramt, um anzumahnen, dass die Leistungen durch die geplante Kindergrundsicherung nicht steigen sollen. Das beweist nicht nur, wie sehr ihm jede Kenntnis abgeht, es beweist auch den tiefen Zynismus der ganzen Debatte, denn nicht einmal in den Erwiderungen auf seine Sätze werden die richtigen Zusammenhänge benannt.
Alleinerziehende. Das ist und bleibt der Kernpunkt. Ein Wort, das seit 2005 aus der Öffentlichkeit verschwunden ist, zusammen mit den Lebensumständen. Denn die meisten armen Kinder sind Kinder Alleinerziehender. Und da redet Linder mit seinem Lohnabstandsgebot schon allein deshalb Unfug, weil die meisten davon arbeiten, aber mit ihrer Arbeit nicht genug verdienen, um mit ihren Kindern über die Runde zu kommen.
Dafür gibt es nach wie vor zwei Gründe. Der eine sind die in Deutschland immer noch niedrigeren Fraueneinkommen, und der andere sind die hohen Mieten. Denn ein Kind braucht nicht nur Nahrung und Kleidung, es braucht auch Raum. Und wenn in vielen deutschen Großstädten die Mieten bereits so hoch sind, dass die Hälfte eines Medianeinkommens in der Miete verschwindet, dann ist klar, dass allein die zusätzliche Miete für das zusätzliche Zimmer genügt, um die Mittel unter die Aufstockungsschwelle zu drücken.
Was dann der Quell für ganz viel Vergnügen ist. Denn dann muss auch noch Unterhaltsvorschuss beantragt werden, zusätzlich zur Grundsicherung, und jede Kindergelderhöhung rauscht an einem vorbei, weil sie von der Leistung wieder abgezogen wird. Eine Quälerei, die nicht erforderlich wäre, wenn der Lebensunterhalt des Kindes abgesichert wäre.
Selbstverständlich hatte jemand wie Christian Lindner nie das Vergnügen, dank der hohen Mieten in die Mühlen der Sozialbürokratie zu geraten. Er hat sich ein Bild zurechtgelegt, wie die Betroffenen aussehen, das nicht allzu weit von jenem entfernt ist, mit dem einst Ursula von der Leyen in ihrer Zeit als Sozialministerin das Bürokratiemonster Teilhabepaket ersann. Lieber zwanzig Seiten Antragsformular und einen gigantischen Verwaltungsaufwand, als den Alleinerziehenden Geld zur Verfügung zu stellen. Die sind schließlich hinter dem Bild des Langzeitarbeitslosen verschwunden, dem man gern unterstellt, Geld ohnehin nur für Kippen und Alkohol zu brauchen.
Früher gab es wenigstens im Vorlauf zu Ostern und Weihnachten den einen oder anderen Artikel, der in Erinnerung rief, welche Kinder arm sind, und darauf aufmerksam machte, wie ihre Mütter leben. Für die die Einführung von Hartz IV, nebenbei bemerkt, damals eine deutliche Verschlechterung war, weil gerade bei Kindern, die alle halbe Jahre eine neue Garderobe brauchen, die Umstellung von halbjährlichen Pauschalen auf die neuen Regelsätze eine Katastrophe war. Bis heute sind die Bedarfe von Kindern nicht wirklich Teil der Berechnung, und der reale Wert der Leistungen hat sich in den letzten Jahren massiv verschlechtert. Lohnabstandsgebot?
Überhaupt, mit diesem vermeintlichen Gebot kann man auf zwei verschiedene Weisen umgehen. Eigentlich müsste man realistisch betrachten, was ein Mensch zum Leben braucht, und wenn diese Berechnung zu nahe an den Löhnen liegt, dann sind die Löhne zu niedrig. Man kann es nicht oft genug wiederholen: Die Geburtenrate in Deutschland ist ein manifester Beweis, dass sie schon länger zu niedrig sind. Das ist auch kein Wunder, beim "größten Niedriglohnsektor Europas".
Solche wie Lindner sehen das aber andersherum und meinen, wenn schon der Lohnempfänger nicht von seinem Einkommen leben kann, dann dürfe der Sozialleistungsempfänger das erst recht nicht. Tatsächlich war es das Ziel von Hartz IV, die Löhne zu senken, und dieses Ziel wurde auch erreicht; das Resultat ist dann eine Spirale nach unten. Günstig für jene, die Löhne zahlen, aber auf Dauer sehr ungesund für jene, die Löhne erhalten.
Aber noch einmal – die meisten Alleinerziehenden arbeiten bereits und brauchen dafür auch keine Arbeitsmarktförderung. Wäre nicht – auch dank der niedrigen Löhne – der Kindesunterhalt in Deutschland eine Fiktion, weil kaum ein Vater ihn zahlen kann, von Unterhalt für die Mütter ganz zu schweigen – das Problem mit aufstockendem Hartz IV gäbe es nicht. Tatsächlich zeigt gerade die Scheidungsfolge Armut, dass wir hier von einer sozialen Folge langfristiger Lohndrückerei reden.
Aber zurück zu den Alleinerziehenden. Über viele Jahrzehnte wurden sie in Deutschland (nein, man muss genau sein: in Westdeutschland) behandelt wie Unmündige; die Kinder standen unter Amtsvormundschaft. Anfang der 1990er ist diese ständige Beobachtung beendet worden. Aber spätestens mit der Einführung von Hartz IV wurde sie zwar nicht de jure, aber de facto wieder eingeführt. Selbst die Zeugnisse der Kinder sind vorzulegen, und die Behörden mischen sich in die Schulwahl ein. Und das alles, weil die Mieten...
Für sich selbst können Alleinerziehende aufkommen. Gäbe es eine Kindergrundsicherung, die ohne allzu großen bürokratischen Aufwand gezahlt wird und an die Stelle des Monsteraufwands aus Grundsicherung, Kindergeld, Unterhaltsvorschuss, Teilhabepaket und all dem anderen tritt, wäre es endlich möglich, ein einigermaßen normales Leben mit dem Kind oder den Kindern zu führen. Das wäre noch immer keine gesellschaftliche Anerkennung dessen, was Alleinerziehende so stemmen, aber zumindest ein Ende der permanenten Demütigung.
Es gibt übrigens ein ganz besonderes juristisches Schmankerl, das seit Jahren (ich glaube, das stand in der dritten Regierung Merkel) beseitigt werden sollte. Der Unterhaltsvorschuss, der von den Behörden gezahlt und dann eventuell beim Vater wieder eingetrieben wird, liegt um das halbe Kindergeld unter dem Mindestunterhalt, obwohl Väter, die zahlen, vom Mindestunterhalt diese Hälfte nicht abziehen dürfen. Das Ergebnis? Die Kommunen klagen bei den Vätern genau das Geld ein, das sie gezahlt haben. Die Mütter könnten ja selbst auf dieses halbe Kindergeld klagen. Abgesehen davon, dass das so gut wie nie geschieht, haben damit letztlich die Väter, die nicht zahlen, gegenüber jenen, die zahlen, einen materiellen Vorteil. Das ist juristisch wie sozial absurd, und diejenigen, die am Ende mit leeren Händen dastehen, sind wieder einmal die Mütter.
Wie man an der jetzigen Debatte sieht, wird am Ende nicht mehr viel übrig bleiben von der Kindergrundsicherung. Schon gar keine wesentliche Erleichterung für Alleinerziehende, die diese Republik mit Leidenschaft stiefmütterlich behandelt. Vielleicht würde sich das ändern, würde man endlich einmal die grundlegende Tatsache aussprechen, dass es die Lebenslage von Alleinerziehenden ist, die entscheidenden Einfluss darauf hat, ob Frauen Kinder bekommen oder nicht. Denn in Beziehungen gibt es keine Garantie. So sind die Alleinerziehenden und ihre Kinder, die geopfert werden, um auf der einen Seite so tun zu können, als wolle man Kinder, und auf der anderen dafür zu sorgen, dass es sie dennoch nicht gibt. Denn, das zeigt sich mit Lindners Verweis auf das Lohnabstandsgebot, das Ziel deutscher Politik sind nicht Familien oder die Zukunft des Landes; das Ziel sind immer nur möglichst billige Arbeitskräfte.
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