Zeichen der Schwäche: Westen hält irrtümlich Gesprächsverweigerung für ein Mittel der Diplomatie

Russland wird immer häufiger damit konfrontiert, dass westliche Diplomaten den Saal verlassen, wenn ein russischer Vertreter spricht – jüngst auch bei einem Treffen im UN-Sicherheitsrat. Was als "starkes Signal" gedacht war, ist ein Zeichen der Schwäche und verspielt jede Einflussnahme.

Von Gert Ewen Ungar

"Wenn dir was nicht passt, steh einfach auf und geh!" Diese offenbar um sich greifende Praxis im Umgang mit Russland, die auf im zivilen Leben auf einen unausgereiften Charakter hindeutet, scheint mittlerweile zum zentralen Prinzip westlicher "Diplomatie" erhoben zu werden.  

Solch kindisches, wenig souveränes und erst recht nicht "diplomatisches" Verhalten westlicher Vertreter im Umgang mit Russland wiederholt sich seit geraumer Zeit immer öfter, jüngst sogar im UN-Sicherheitsrat. Dort wurde per Video die russische Kinderrechtsbeauftragte Marija Lwowa-Belowa einem informellen Treffen des UN-Sicherheitsrates zugeschaltet. Daraufhin verließen die Vertreter Großbritanniens und der USA den Sitzungssaal. Obendrein wurde auf Betreiben Großbritanniens auch die Live-Übertragung dieser Sitzung im offiziellen Web-Kanal der Vereinten Nationen unterbrochen. Was Lwowa-Belowa zu sagen hatte, sollte offenbar gleich auch für die ganze Weltöffentlichkeit unterdrückt werden.

Dagegen wird vom Westen öffentlich und lautstark Lwowa-Belowa persönlich die angebliche massenhafte Deportation von ukrainischen Kindern nach Russland zur Last gelegt. In Den Haag wurde durch den Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) in diesem Zusammenhang sogar einen Haftbefehl gegen sie ausgestellt. Lwowa-Belowa versicherte wiederholt und öffentlich, die damit gemeinten Kinder seien lediglich aus umkämpften Kriegsgebieten an sichere Orte evakuiert worden und könnten jederzeit zu ihren Familien zurückkehren.

Das Ereignis im UN-Sicherheitsrat reiht sich ein in eine Kette von ähnlichen Vorfällen. Bereits im Februar verließen einige Mitglieder der OSZE demonstrativ den Raum, als der russische Abgeordnete Pjotr Tolstoi seine Rede beginnen wollte. Zuvor war der russischen Delegation die Ausstellung der Visa zur Einreise nach Polen verweigert worden, das damals Gastgeberland für die OSZE war. Vor einem Jahr verließen auch zahlreiche Delegierte den UN-Menschenrechtsrat, als der russische Außenminister Sergei Lawrow dort seinen Redebeitrag hielt. 

All diesen Formaten – der OSZE, dem Sicherheitsrat und dem UN-Menschenrechtsrat – ist gemeinsam, dass sie diplomatische Gesprächsmöglichkeiten selbst zu Krisenzeiten gewährleisten sollen, um Möglichkeiten für eine Konfliktlösung auf diplomatischem Weg zu suchen und offen zu halten. Aber auch aus dem Europarat wurde Russland nach allen Regeln der Kunst hinausgeekelt. Russland wurde kurzerhand das Stimmrecht entzogen. Russland hat sich daher inzwischen vollständig zurückgezogen und fühlt sich an die Beschlüsse dieses Rates und seiner nachgeordneten Institutionen wie etwa des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte nicht mehr gebunden.

Mit dem Boykott und der aktiven Sabotage dieser Formate macht der kollektive Westen deutlich, dass er an Konfliktlösungen und Diplomatie nicht mehr interessiert ist, und er zerstört damit zugleich Grundelemente der internationalen Ordnung. 

Ganz deutlich erläuterte diese Absicht die UN-Botschafterin der USA Linda Thomas-Greenfield. Sie begründete ihren Boykott des Auftritts von Lwowa-Belowa im Sicherheitsrat damit, man dürfe Russland keine Gelegenheit zur Verbreitung von Falschinformationen geben. Damit hat sie das aktuelle Kernproblem der internationalen Diplomatie treffend umrissen. Der Westen hat Recht – und zwar immer.

Der Westen beharrt auf seiner alleinigen Sicht der Dinge und zeigt keinerlei Diskussionsbereitschaft. Damit verbunden ist sein Anspruch auf seine unantastbare Dominanz in der Welt. Es geht nicht um gegenseitiges Verstehen, um Ausgleich und Verständigung, um Fakten und Wahrheitsfindung, es geht nicht um das Ausloten von Kompromissen, sondern stets um Unterordnung unter den Hegemon. Daher versucht der Westen mit aller ihm zur Verfügung stehenden Macht die Länder der Welt zur Übernahme seiner Sicht und Unterordnung zu zwingen. Diese Macht ist aber im Schwinden begriffen. Der Boykott wirkt daher zunehmend kindisch und hilflos wie eine trotzige Geste, die an den geopolitischen Verschiebungen und dem Einflussverlust des Westens nichts ändern wird. 

Der kollektive Westen ist unter Führung der USA offenbar bereit, alle mühsam errungenen Prinzipien aufgeklärter Zivilisation über Bord zu werfen. Unschuldsvermutung, Bereitschaft zum Dialog und Suche nach Konfliktlösung – all diese Errungenschaften der Zivilisation gibt er preis.  

Der Westen, die USA und ihre Satellitenstaaten fallen damit auch hinter den Gründungsgedanken der Vereinten Nationen zurück, wenn sie sich dem Gespräch ohne Vorbedingungen entziehen. Geistig ist dieser Westen längst wieder in der Zeit vor 1939 angekommen. Seine Macht wird das allerdings nicht stabilisieren, sondern lediglich die internationale Ordnung weiter erodieren lassen.

Dadurch gewinnen jene Kräfte an Stärke, die eine neue, stabile Ordnung auf Basis des Völkerrechts und demokratischer Prinzipien unter Umgehung des Westens etablieren wollen. Das scheinbar nur "kindisch-bockige" Verhalten des Westens ist ein Zeichen seiner Schwäche. Wer über gute Argumente verfügt, verweigert sich nicht dem Gespräch. Der Westen weiß, dass ihm die guten Argumente längst ausgegangen sind.

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