Russland hat ein außenpolitisches Konzept, Deutschland hat Baerbock

Das neue russische Dokument ist erfrischend logisch und klar. Die Ziele der Außenpolitik sind definiert, ebenso wie die Grundsätze, von denen sie sich ableiten. Und sie sind konsistent mit den Handlungen. Aus Deutschland kann man das nur mit Wehmut betrachten.

Von Dagmar Henn

Eigentlich war hier beabsichtigt, das neue außenpolitische Konzept der Russischen Föderation dem des Auswärtigen Amtes gegenüberzustellen. Dieser Versuch beginnt mit einer Enttäuschung – es gibt schlicht kein deutsches Gegenstück. Selbst wenn man versucht, auf der Seite des Auswärtigen Amts eine Definition des aktuellen Kernbegriffs der "regelbasierten Weltordnung" zu finden, kann man zwar durch eine Reihe von Themen hüpfen, die eines wie das andere frei von offiziellen Dokumenten sind, und findet darunter so erstaunliche Punkte wie die NATO, aber nirgends gibt es Richtlinien, ein Konzept, eine überprüfbare Ausrichtung.

Das führt unmittelbar zur ersten Feststellung: Die Festlegung der russischen Außenpolitik erfolgt demokratischer als die der deutschen. Warum? Weil ein klares, veröffentlichtes Dokument zum einen ermöglicht, einzelne Punkte konkret zu kritisieren, und zum anderen Rechenschaftslegung und Überprüfung möglich sind. Man würde gerade von einer Nation mit einer derart exportorientierten Wirtschaft wie Deutschland erwarten, dass die außenpolitischen Festlegungen diese Tatsache widerspiegeln; das taten sie in früheren Jahren auch, wenn auch auf eher unangenehme Weise, wie in der Rede des damaligen Außenministers Frank-Walter Steinmeier vor dem Industrieforum der Süddeutschen Zeitung im Jahr 2015 – was natürlich immer noch kein außenpolitisches Grundsatzdokument war, aber zumindest in die Richtung ging. Das Ministerium unter Außenministerin Annalena Baerbock liefert einzig ein Dokument zur "feministischen Außenpolitik", und selbst ihre Aussagen in Reden sind völlig frei von irgendeiner nüchternen Andeutung nationalen Interesses, aber bis zum Rand angefüllt mit "Werten".

Wer immer je in politischen Strukturen tätig war, weiß, dass das Ringen zwischen Unten und Oben, zwischen Parteimitgliedern und Abgeordneten, zwischen Abgeordneten und Regierung, stets eines um Genauigkeit der Formulierung ist. Wenn mir jemand verspricht, 20 Flaschen Wasser zu liefern, kann ich sie nachzählen und monieren, sollten es nur 15 geworden sein. Wenn die Aussage lautet: "Ich werde dir mal was zu trinken vorbeibringen", kann das am Ende auch eine Flasche bedeuten, oder gar keine, weil mit "mal" kein Zeitpunkt festgeschrieben ist. Je nebulöser die Formulierung, desto größer die Handlungsfreiheit außerhalb des demokratisch kontrollierten Rahmens. Man stelle sich einmal vor, es gäbe ein außenpolitisches Grundsatzpapier, in dem wie in Punkt 17.12 des russischen stünde: "Deutschlands Stellung in der Weltwirtschaft stärken, die nationalen Entwicklungsziele erreichen, für wirtschaftliche Sicherheit sorgen, das ökonomische Potenzial des Staates realisieren" – die gute Frau Baerbock hätte doch glatt gegen die Sprengung von Nord Stream protestieren müssen.

Und nein, auf Ebene der EU sieht das nicht besser auch. Wobei die nur scheinbar demokratisch verfasste EU sich schon allein deshalb um solche grundsätzliche Dokumente drücken kann, weil der Kommission eben kein Parlament mit Kontrollbefugnissen gegenübersteht. Wenn man eine prinzipielle Festlegung sucht, muss man bis auf den Lissabon-Vertrag zurückgehen, jenes Dokument, das als Verfassung in mehreren Staaten abgelehnt worden war und darum dann unter Umgehung der Referenden als Vertrag etabliert wurde. Aber leider stammt der Lissabon-Vertrag aus dem Jahr 2007, und das Schlüsselwort der "regelbasierten Weltordnung" kommt in ihm noch nicht vor. Stattdessen wird die Außenpolitik der ökonomisch wie politisch eher nicht friedfertigen EU so definiert: "In ihren Beziehungen zur übrigen Welt schützt und fördert die Union ihre Werte und Interessen und trägt zum Schutz ihrer Bürger bei. Sie leistet einen Beitrag zu Frieden, Sicherheit, globaler nachhaltiger Entwicklung, Solidarität und gegenseitiger Achtung unter den Völkern, zu freiem und gerechtem Handel, zur Beseitigung der Armut und zum Schutz der Menschenrechte, insbesondere der Rechte des Kindes, sowie zur strikten Einhaltung und Weiterentwicklung des Völkerrechts, insbesondere zur Wahrung der Grundsätze der Charta der Vereinten Nationen."

Damit kommt man nicht wirklich weiter, diese Formulierungen sind so viel wert, wie es die Verurteilung des Angriffskriegs im deutschen Grundgesetz seit den Luftangriffen auf Jugoslawien ist. Die Wirklichkeit sieht anders aus, vor allem bei "gerechtem Handel" und "Beseitigung der Armut"; als Beleg dafür reichen die Freihandelsverträge, die die EU so gerne afrikanischen Staaten aufzwingt, deren Landwirtschaft dann mit gefrorenen europäischen Hühnerflügeln geplättet wird. Und ja, dass die Breschen für europäische – und damit auch deutsche – Exportwalzen unter dem Etikett der EU geschlagen werden, kann vorzüglich darüber hinwegtäuschen, dass die deutsche Außenpolitik sehr wohl von ökonomischem Interesse geleitet wird. Die bösen Taten werden nur gerne im europäischen Rudel begangen. Und selbstverständlich wirkt das deutsche Außenministerium in Gestalt des Ministerrats daran mit, auch wenn man über das Interesse an der kolonialen Ordnung in Deutschland so wenig spricht wie im Haus des Gehängten über den Strick.

Ein Wort scheint die deutsche Außenpolitik ganz besonders zu scheuen (außer es geht um die Ukraine, die davon gegenwärtig noch deutlich weniger hat als Deutschland) – Souveränität. Genau das ist der Begriff, der im russischen Dokument eine dominante Rolle spielt. Beziehungen zwischen souveränen Staaten, bei denen die Achtung der Souveränität an erster Stelle steht, das ist im deutschen Außenministerium unmöglich, es werden sofort die Werte ausgegraben und dann die Demokratie. Und man hat sich in ganz EU-Europa so sehr an Demokratie als Worthülse gewöhnt, dass der Widerspruch gar nicht mehr auffällt, der zwischen der ständigen Betonung, wie wichtig Demokratie sei, und der Geringschätzung der Souveränität besteht.

Auch das ist ein Zustand, der sich von den höchsten bis in die niedrigsten Ebenen findet. Man kann Wahlkreuzchen malen, bis die Finger taub sind, das politische System ist voller Mechanismen, die jede Wirksamkeit verhindern. Das beginnt bereits bei den Kommunen, in denen eigentlich das demokratische Leben blühen müsste; aber in Deutschland haben viele davon gar keine frei verfügbaren Haushaltsmittel, über die entschieden werden könnte. Lokale Wirtschaftspolitik ist auch dank der Ausschreibungspflichten kaum möglich, schon gar nicht über längere Zeiträume; Infrastrukturmaßnahmen scheitern an EU-Verordnungen und so weiter und so weiter ... Wobei man bei den Regelungen oft nicht weiß, ob sie aus Versehen oder aus Bösartigkeit die Funktion der lokalen Strukturen untergraben. Aber wenn man, weil das örtliche Handwerk durch die Ausschreibungspflichten dezimiert wurde, bei einem Wasserrohrbruch keinen Klempner mehr bekommt, kann man sich ja mit einem hübschen Faltblatt über LGBTQ-Rechte darüber hinwegtrösten.

In Wirklichkeit ist der Begriff der Demokratie untrennbar mit Souveränität verbunden. Die Souveränität ist die Voraussetzung dafür, dass es etwas zu entscheiden gibt, und die Demokratie ist der Modus, in dem die Entscheidungen getroffen werden sollten. Es gibt zwar Souveränität ohne Demokratie, aber keinesfalls Demokratie ohne Souveränität, denn der zweite Wortteil lautet Herrschaft, und diese kann es ohne etwas, das beherrscht wird, nicht geben. Wenn man nun ernsthaft davon ausgeht, dass alle Menschen gleich sind, kann man für sich selbst nur beanspruchen, was man auch anderen zugesteht; damit wird die Anerkennung der Souveränität anderer notwendiges Gegenstück der eigenen.

Ein Gedankengang, der Baerbock fremd ist. In Ermangelung eines Grundsatzdokuments hier ein Zitat aus ihrer ersten Rede nach Amtsantritt: "Es mag sich zwar gut anfühlen, normativ eine bessere Welt zu beschwören, und Normativität ist wichtig. Sie bringt uns allein aber nicht ans Ziel. Stattdessen müssen wir nüchtern analysieren, dass Akteure wie China, Russland, aber auch andere Staaten, die der Economist kürzlich 'Midsized Meddlers' nannte, ihre Vorteile auf andere Weise suchen, als wir das für tragfähig halten." Diese Sätze stammen sicher nicht von ihr; aber der subtil-koloniale Tonfall ist ihr nicht wesensfremd.

"Normativität" übersetzt sich mit Verbindlichkeit, Geltung. Um die volle Bandbreite dieser Aussage zu verstehen, muss man den Unterton der Formulierung "Midsize Meddlers" offenlegen. Das englische Wörterbuch spricht von Personen, die Dinge verändern oder beeinflussen wollen, die sie nichts angehen. Mittelgroße Störenfriede also, die den wirklich großen ins Handwerk pfuschen wollen. Die großen dürfen, das wird impliziert, selbstverständlich verändern und beeinflussen, und sie dürfen auch darüber entscheiden, was sie "für tragfähig halten" und was nicht, und zwar – hier kommt die "Normativität" ins Spiel – jenseits der völkerrechtlichen Normen. Ganz nebenbei erklärt die Dame auch noch, dass sie selbstverständlich zu den Großen gehört, die den aufmüpfigen Emporkömmlingen mit dem Lineal auf die Finger schlagen.

Damals immerhin sagte sie noch: "Wir können uns einen Zerfall der Weltgemeinschaft in unversöhnliche Lager nicht leisten." Nur, um kurz darauf – wir befinden uns im Herbst 2021 – mit aller Kraft dazu beizutragen, dass ebendies geschah. Ohne dass irgendwo sichtbare Überlegungen stattfanden, ob diese Entwicklung überhaupt im deutschen Interesse liegt. Im Interesse der Bevölkerung jedenfalls nicht.

An einem Punkt gibt es eine Übereinstimmung zwischen beiden Dokumenten; auch Baerbock stellte fest: "In den vergangenen Jahren hat sich die weltpolitische Lage tiefgreifend verändert." Im russischen Papier steht: "Die Menschheit erlebt eine Phase revolutionären Wandels." Nur die Reaktion darauf ist genau entgegengesetzt. Während die russischen Leitlinien die Entwicklung begrüßen und versuchen, den Beitrag zu definieren, den Russland zu einer Welt ohne Kolonialismus leisten kann (und daran erinnern, welchen Beitrag die Sowjetunion in diese Richtung geleistet hat), verfällt Baerbock in die Klage: "Wir leben in einer Welt ohne wirkliche globale Führung", um dann nachzusetzen: "In einer solchen Welt muss die europäische Rolle weiter gestärkt werden." Da ist sie, die Resonanz auf Steinmeiers "Europa führen, um die Welt zu führen".

Das, was auch die deutsche Außenpolitik in diesem Zusammenhang ausmacht, hat das russische Dokument ebenfalls treffend beschrieben: "Eine große Auswahl illegaler Mittel und Methoden wird genutzt, einschließlich des Einsatzes erzwingender Maßnahmen (Sanktionen) unter Umgehung des UN-Sicherheitsrats, der Provokation von Umstürzen, bewaffneten Konflikten, Drohungen, Erpressungen, Manipulation des Bewusstseins bestimmter sozialer Gruppen und ganzer Nationen, offensive und subversive Handlungen im Informationsraum."

Der bewaffnete Konflikt in der Ukraine ist Teil dieser Liste, angerührt und aufgekocht von der EU und den Vereinigten Staaten, unter besonders tatkräftiger Mithilfe der deutschen Außenpolitik, auf die Baerbock mit ihrer Zurückweisung der Minsker Abkommen Ende 2021 nur noch das Sahnehäubchen setzte. "Die Kultur des Dialogs in der internationalen Sphäre zerfällt, die Wirksamkeit der Diplomatie als Mittel friedlicher Beilegung von Disputen nimmt ab", beschreibt das russische Dokument die augenblickliche Lage. Baerbock ist geradezu dieser Satz in Fleisch gegossen.

"Die Bedingungen zu schaffen, dass jeder Staat neokoloniale und hegemoniale Ansprüche zurückweisen kann", das ist eines der Ziele des langen und ausführlichen russischen Dokuments. Und: "Der Mechanismus für die Bildung universeller völkerrechtlicher Normen sollte auf dem freien Willen souveräner Staaten beruhen." Das ist etwas anderes als die "regelbasierte Ordnung", die auch Baerbock gern im Munde trägt und die ihren völlig arbiträren Charakter in den letzten Jahren deutlich genug bewiesen hat. Man könnte fast versucht sein, hinter dieser Geringschätzung des Völkerrechts eine tiefer liegende Ablehnung zu vermuten, die daher rührt, dass beim letzten großen Schritt seiner Entwicklung Deutschland einzig als abschreckendes Beispiel mitwirkte, denn die Wurzel der UN-Charta sind die Nürnberger Prozesse.

In Wirklichkeit rührt ihre Arroganz aber aus einer zerfallenden kolonialen Ordnung, die gerade die deutschen Grünen, aus denen Baerbock stammt, mit einer "raffinierten neokolonialen Politik", in diesem Fall mit dem Etikett "Klimaschutz", zu sichern suchen; einer Ordnung, die Russland, das wird im neuen Dokument in aller Deutlichkeit formuliert, zu beenden sucht. Wobei die deutsche Außenpolitik gerade durch ihre Orientierung auf diese koloniale Ordnung den objektiven deutschen Interessen inzwischen sogar zuwiderhandelt, außer, man hielte eine Handvoll Milliardäre für die einzigen Deutschen, die berechtigt sind, Interessen zu haben.

Richtlinien für eine deutsche Außenpolitik jedenfalls, die nur rein qualitativ mit den russischen mithalten könnten, also auf einer Analyse der eigenen Interessen wie der globalen Situation beruhen und daraus die erforderlichen Schlüsse ziehen, und die tatsächlich, frei vom Bestreben, andere zu unterwerfen, nach Möglichkeiten wechselseitigen Nutzens suchten, kämen zu einem völlig anderen Ergebnis, als es das Auswärtige Amt derzeit liefert. Momentan muss man sich mit dem Versprechen trösten, Russland werde, sofern sie wieder zu Sinnen kommen, "den europäischen Staaten helfen, ihren rechtmäßigen Platz in der Größeren Eurasischen Partnerschaft und der multipolaren Welt finden".

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