Von Roberto Geier
Wenige Wochen nach der Eskalation des Krieges in der Ukraine durch den Beginn der militärischen Sonderoperation Russlands stellte der ehemalige Bundesinnenminister Gerhart Baum (FDP) gemeinsam mit der ehemaligen Bundesjustizministerin, seiner Parteikollegin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Strafanzeige gegen den russischen Präsidenten Wladimir Putin. Mit seiner Anzeige wollte Baum nach eigenen Angaben sichtbar machen, dass man in Deutschland ein rechtliches Instrument habe, um Kriegsverbrecher auch außerhalb Deutschlands zu verfolgen. Die Anzeige sei fundiert und werde durch weitere Fakten beständig angereichert. Zudem habe sie zu Ermittlungen beim Generalstaatsanwalt geführt, der durch das BKA Zeugen unter ukrainischen Flüchtlingen vernommen habe. Zusätzliche Hilfe erhalte man aus der Ukraine.
Im Sommer 2002 wurde in Deutschland das Völkerstrafgesetzbuch in Kraft gesetzt, das sich am Römischen Statut des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH) orientiert. Seitdem gilt das sogenannte Weltrechtsprinzip, also ein Universalitätsprinzip, das besagt, dass eine mögliche Straftat unabhängig vom Recht des Tatorts und der Nationalität des Täters verfolgt werden kann. Dies gilt besonders bei möglichen Delikten gegen das Völkerstrafrecht. Dass der Chefankläger des IStGH, der britische Jurist Karim Ahmad Khan, bisher noch keine Anklage gegen Putin erhoben hat, kritisierte Baum zugleich. Gegenüber dem Deutschlandfunk sagte er:
"Ich kann mir überhaupt nicht vorstellen, dass man nicht aus der Fülle dieser Informationen auch jetzt rechtliche Schritte ableitet. Das erste wären natürlich Haftbefehle."
Gleichzeitig müsse man natürlich aufpassen, so Baum, dass sich der "Diktator" [gemeint ist der russische Präsident] nicht durch eine negative Reaktion eines Gerichts bestätigt fühle, etwa durch eine ungenügende Klageschrift.
"Hybrides" Tribunal? Die falsche "Signalwirkung"
Nüchtern betrachtet ist es natürlich zweifelhaft, welchen Sinn eine Anklage gegen Mitglieder der russischen Regierung vor einem deutschen Gericht hätte. Aufgrund von Bestimmungen zur Immunität wäre ein Anklage Putins erst nach seiner Amtszeit als Präsident theoretisch möglich. Doch selbst dann wäre der Fall ausgesprochen unwahrscheinlich, dass Putin vor einem deutschen Gericht erscheint. Beim IStGH, der für sich beansprucht, die politische Immunität auch von Staatsoberhäuptern nicht berücksichtigen zu müssen, würde das anders aussehen. In der Tat beschloss der IStGH kurz nach Beginn der russischen Militäroperation, eigene Untersuchungen in der Ukraine einzuleiten. Dabei haben weder Russland noch die Ukraine das Römische Statut ratifiziert, das die rechtliche Grundlage für den IStGH bildet. Khan selbst sagte, dass es zwar besser wäre, Verdächtige vor ein ukrainisches Gericht zu bringen. Trotzdem gebe es rechtlich kein Hindernis für eine Anklage in Den Haag, so Khan. Um den Tatbestand "Angriffskrieg" untersuchen zu können, bräuchte der IStGH jedoch die Zustimmung des UN-Sicherheitsrats, dem Russland angehört. Nur Anklagen wegen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit wären möglich. Eine Veränderung des Statuts werde aktuell aber betrieben, so Baum.
Da es also so gut wie ausgeschlossen ist, Putin vor den IStGH zu bringen, sind alle diese Überlegungen reine Gedankenspiele. Das hält aber offenbar deren Befürworter nicht davon ab, diese Phantasien noch weiterzuspinnen. So kam ersatzweise die Idee auf, den russischen Präsidenten stattdessen durch ein internationales Sondertribunal anklagen. In ihrer "Grundsatzrede" Mitte Januar in Den Haag sprach sich die deutsche Bundesaußenministerin Annalena Baerbock für ein "hybrides Sondertribunal" aus, das die russische Führung für das Verbrechen der "Aggression" zur Verantwortung ziehen solle. "Hybrid" solle dabei bedeuten, dass dem Tribunal internationale Richter vorstehen sollten, die aber nach ukrainischem Recht entscheiden würden. Die Idee für solch ein Tribunal stammte – wenig überraschend – vom ukrainischen Außenminister Dmitrij Kuleba, und Frau Baerbock ließ sich – offenbar von der Genialität dieses Vorschlags umgehend überzeugt – prompt darauf ein.
Verschiedene Experten kritisierten zwar nicht etwa fehlenden Realitätssinn eines solchen Unterfangens, dafür aber immerhin Zweifel an der Legitimität einer solchen Anklage und Verurteilung der russischen Staatsführung nach ukrainischem Recht. So sprach sich der Völkerrechtler Claus Kreß von der Universität Köln gegen das "hybride Modell" aus. Kreß begrüßte laut eigenen Angaben zwar, dass sich die Bundesregierung für die Einrichtung eines Sondertribunals einsetze. Vor einem ukrainischen Tribunal wäre Putin aber nach dem geltenden Völkerrecht ebenfalls immun. Dies sei laut Kreß "kein kleiner Punkt", da Putin der Hauptverdächtige sei. Zudem wäre die erwünschte Signalwirkung, die von einem solchen ukrainischen Tribunal ausgehe, weitaus geringer als die Signalwirkung eines internationalen Tribunals "mit dem Segen der UN-Generalversammlung". Für eine entsprechende Mehrheit solle die Bundesregierung werben. Laut Kreß habe der Generalbundesanwalt die Situation in der Ukraine schon 2015 ins Visier genommen. Man wolle vorbereitet sein für den Fall, dass ein Verdächtiger seinen Fuß auf deutschen Boden setzt. Zudem könne man sich auch vorstellen, dass es einmal zu einem deutschen Auslieferungsersuchen kommt.
Auch der seit 15 Jahren emeritierte Professor Gerd Seidel von der Humboldt-Universität zu Berlin kritisierte Baerbocks Vorschlag. Auch er ist offenbar auf die richtige Signalwirkung bedacht, allerdings sieht Seidel ganz andere Defizite. Ein "hybrides" Tribunal könnte, so Seidel, zumindest außerhalb Europas der Eindruck einer "selektiven Justiz" erzeugen. Bei anderen Kriegen, etwa im Jemen oder beim Irakkrieg von 2003, habe es schließlich auch keine Forderung nach Sondertribunalen gegeben.
Rules for thee but not for me
Eine gewisse derartig "selektive Justiz" des ganzen Vorschlags muss selbst Baum eingestehen. Dem Vorwurf der Doppelmoral könne er laut eigenen Angaben schwer etwas entgegnen. Es sei eine "Schwierigkeit", dass man in der Menschenrechtspolitik Freunde anders behandle als Gegner. So würde heute niemand mehr über das US-Gefangenenlager Guantanamo auf Kuba sprechen, in dem noch immer die Gefangenen "sozusagen gesetzlos" festsäßen. Das müsse man, um glaubwürdig zu sein, thematisieren. Es habe mal den Versuch gegeben, Menschrechtsverletzungen der USA im Irakkrieg zum Gegenstand von Untersuchungen des IStGH zu machen. In Washington, D.C. akzeptiere man aber dessen Statut aber genauso wenig wie in Moskau. Die jetzigen Ermittlungen in Den Haag gegen Russland würden die USA zwar unterstützen, jedoch "mit einer gewissen Distanz", so Baum, etwa indem man Hinweise auf mögliche russische Kriegsverbrechen zurückhalte. Dies täten die USA womöglich "aus der Furcht, selbst in den Fokus des Gerichts zu kommen – in anderen Fällen".
Glaubt Baum wirklich, dass sich die USA vor dem IStGH fürchten und deswegen Beweise für russische Kriegsverbrechen zurückhalten würden? Oder würde Baum den gleichen rechtsstaatlichen Eifer auch in anderen Fällen zeigen? In jedem Fall scheint Baums Verhältnis zum internationalen Recht von großer Vertrauensseligkeit geprägt.
Die Kritik an der selektiven Anwendung des liberalen Völkerrechts ist berechtigt. Um das Völkerecht beanspruchen zu dürfen, etwa um ein Mitglied der UN-Generalversammlung zu sein, muss man erst von anderen Staaten anerkannt werden. So sollen etwa nach deutscher Vorstellung die Mitgliedsstaaten der UN-Generalversammlung über ein Sondertribunal über Russland entscheiden dürfen. Die Volksrepubliken Donezk und Lugansk erhielten seit dem Ausbruch des Bürgerkriegs 2014 aber nicht die Möglichkeit, sich gegen die Aggression Kiews, das vom Westen unterstützt wurde, zur Wehr zu setzen. Souveränität und internationale Rechte? Fehlanzeige. Ebenso kommen allen Staaten formal die gleichen Rechte zu, obwohl die Unterschiede zwischen zwei Staaten erheblich sein können. Dies nützt vor allem mächtigen Staaten wie den USA.
Dies schadet natürlich auch dem Vertrauen in das internationale Recht. Nicht nur haben mit den USA, Russland und China drei Ständige Mitglieder des UN-Sicherheitsrates das Statut des IStGH nicht anerkannt. Auch Staaten wie Indien und die Türkei akzeptieren den IStGH nicht oder haben, wie die Ukraine, ihren Beitritt bisher nicht ratifiziert. Die Philippinen sind vor vier Jahren offiziell aus dem IStGH wieder ausgetreten. Die Afrikanische Union kritisierte mehrmals die Einseitigkeit der Verfolgung von Verbrechen, da sich die Mehrheit der bisherigen Strafverfahren gegen Afrikaner richtete.
Mehr noch: Das "liberale" Völkerrecht, das der IStGH vertritt, trug wesentlich zum Ausbrechen des Ukrainekriegs bei, weil es den USA erlaubte, als raumfremde Macht in der Ukraine Fuß zu fassen und die Region durch Angebote zur künftigen Mitgliedschaft in der NATO zu destabilisieren. Diese entsprechende Vorgehendweise basierte ja auf der "freien" Entscheidung des "ukrainischen Volkes" für den Westen, wie immer wieder erklärt wurde. Mit dieser Auslegung von Völkerrecht hat Moskau also eher schlechte Erfahrungen gemacht.
Die richtige Signalwirkung
Für das "Putin-Tribunal", das Baum vor Augen hat, bräuchte man die Zustimmung durch die UN-Generalversammlung. Die Frage ist, wer von den 193 Mitgliedsstaaten dem zustimmen würde. Im Februar hatten zwar 141 Staaten der UN-Resolution zugestimmt, die den Rückzug russische Truppen aus der Ukraine fordert. Ob dieselben Staaten auch der Einsetzung eines "Putin-Tribunals" zustimmen würden, würde sogar Baum bezweifeln. Wie ernst konnte es diesen Staaten dann mit der Befürwortung der Resolution gewesen sein, wenn sie sofort abspringen, sobald es um konkrete Maßnahmen geht? Dieses Signal dürfe es nicht geben, so Baum. Ebenso dürfe es kein westlich dominiertes Gericht sein, das Putin anklagt. Allgemein bestehe keine große Chance, die Immunität Putins mit einem Sondergericht zu überwinden. Auch dass die möglichen Haftbefehle dazu führen, dass die Angeklagten vor Gericht erscheinen, nehme man nicht an, resümiert Baum. Wozu also dann der ganze Aufwand?
Bemerkenswert ist, dass in all diesen Spekulationen schon vorab gar kein Zweifel an der Schuld des bisher noch nicht einmal "Angeklagten" besteht. Auch die Unrealisierbarkeit des Unterfangens lässt offenbar niemanden in diesen Kreisen zurückschrecken. Die "Signalwirkung", von der beständig die Rede ist und um die es eigentlich gehen dürfte, richtet sich weniger gegen die russische Regierung, sondern vielmehr an die nationale Presse, die die Vorverurteilung durch das Publikum schüren soll. Denn wenn überhaupt jemand der Kriegsverbrechen beschuldigt wird und sogar von Beweisen die Rede ist, muss doch schließlich auch etwas dran sein. Es ist eine Art medialer Schauprozess mit Vorverurteilung.
Dies wird auch deutlich an Äußerungen Baums, wonach man den "Hauptverdächtigen", den russischen Präsidenten, nicht vor Gericht stellen könne. Die deutsche und internationale Rechtssphäre könnte jetzt schon etwas tun, was "auf Putin zurückfällt". So gebe es die Kommandanten, die "die Zivilbevölkerung angegriffen" hätten. Auch hier könnte man ein Signal aussenden, indem man Haftbefehle gegen sie ausstellte:
"Die können jetzt schon in Verfahren gezogen werden, und wir mahnen also, dass das jetzt auch geschieht. Denn wir sollten deutlich machen, dass nicht nur Waffen, also Panzer, eine Waffe sind, sondern auch das Recht."
In Wirklichkeit geht es Baum also nicht um Recht, sondern darum, dass "Putin den Krieg nicht gewinnen darf", wie es in der deutschen Propaganda einstimmig heißt. Das internationale Recht ist nur ein weiterer Kriegsschauplatz.
An dieser Stelle ist Baums Rechtsaufassung richtig. Das Recht kann tatsächlich eine Waffe sein, die auch in internationalen Konflikten regelmäßig zum Einsatz gebracht wird. Der Westen, der das internationale Recht erfunden hat und die Institutionen zu dessen Wahrung beherrscht, ist besonders geübt im Umgang mit dieser Waffe. Der Hass im Westen auf Russland, der auch vor solchem Unsinn wie einem "Putin-Tribunal" nicht zurückschreckt, rührt hingegen daher, dass Moskau beschlossen hat, die Wahl der Waffen nicht mehr allein dem Westen zu überlassen.
Mehr zum Thema – Die Spaltung Europas und die Frage von Friedensverhandlungen