Von Anton Gentzen
Der kalendarische Frühling hat begonnen, auch wenn es noch einige Wochen dauern wird, bis Wege und Felder ausreichend trocknen, um schwere militärische Technik tragen zu können. Zeit für einen Rückblick auf den Winter und einen Ausblick darauf, was die nächsten drei Monate im Ukraine-Krieg bringen könnten.
Im Großen und Ganzen haben beide Seiten im Winter auf groß angelegte Offensiven verzichtet. Hoffnungen, die einige Beobachter auf den vermeintlich russischen "General Frost" gesetzt hatten, haben sich nicht bewahrheitet. Das lag daran, dass der Westen – NATO und USA – große Anstrengungen unternommen haben, um die ukrainische Armee "winterfest" zu machen, aber auch daran, dass der Winter in diesem Jahr relativ mild ausgefallen ist. Den strengen Frost gab es weiter nördlich, die Ukraine und Europa blieben von winterlichen Wetterexzessen weitgehend verschont.
Es lag jedoch nicht am Wetter allein: Offensichtlich hat keine der Konfliktparteien in den zurückliegenden drei Monaten ein ausreichend großes Kräfteübergewicht an irgendeinem Abschnitt der Front aufbauen können, um eine Offensive zu riskieren. Dabei waren die ukrainischen Bemühungen, ein solches Offensivpotenzial zu schaffen, für jedermann offensichtlich. Moskau ist entweder in der Geheimhaltung seiner Aktivitäten geschickter oder weiterhin (politisch) nicht bereit, aufs Ganze zu gehen. Klar ist, dass die etwa 300.000 Soldaten und Offiziere, die in Russland im Herbst mobilisiert wurden, inzwischen ausgebildet und an oder in der Nähe der Front eingesetzt sind. Ob sie jedoch nur die im September offenbar gewordenen Lücken in den russischen Reihen schlossen oder tatsächlich irgendwo offensivbereit gehalten werden, ist anhand offener Quellen nicht festzustellen.
Vor einigen Tagen preschte gar der britische Auslandsgeheimdienst mit der (aus ukrainischer Sicht frohen) Kunde vor, dass der Kreml alle Offensivplanungen des Generalstabs in Moskau für den Frühling abgelehnt habe. Nun ist der Begriff "britischer Geheimdienst" aufgrund zahlreicher Fehleinschätzungen inzwischen zu einem Meme für Wunschdenken verkommen, sodass man nicht allzu viel auf derartige "Spionageerkenntnisse" geben sollte. Die neueste Einschätzung stimmt jedoch mit dem Eindruck überein, den Beobachter über den Kreml und Moskaus Militärstrategen in dem zurückliegenden Jahr gewinnen konnten: politisch übervorsichtig, militärisch glücklos und immer noch auf einen potenziellen Ausgleich mit dem Westen bedacht.
Umso transparenter sind die ukrainischen Planungen, wenn es auch diesbezüglich einige Unbekannte und eine gewisse Variabilität gibt. Es ist kein Geheimnis, dass die Ukraine aktuell zwei Offensiven plant: eine kleine, die bereits in der kommenden Woche starten könnte, und eine große für die wärmeren Monate.
Die Idee der kleinen Offensive ist noch ganz jung. Der Vorschlag stammt von General Alexander Syrski, einem internen Konkurrenten des obersten Befehlshabers der ukrainischen Armee Waleri Saluschny. Syrski hat Wladimir Selenskij, der aus Imagegründen ohnehin gegen eine Aufgabe der hart umkämpften Stadt Artjomowsk (Bachmut) eintrat, in einer Beratung in der zurückliegenden Woche für seine Pläne gewinnen können, Teile der Reserven, die für die große Frühlingsoffensive aufgestellt wurden, in den Donbass zu verlegen. Diese frischen und gut ausgerüsteten Einheiten, die Rede ist von zwölf Brigaden, sollen die in Artjomowsk eingedrungenen Wagner-Truppen in einer Zangenbewegung von drei Seiten einkesseln und vernichtend schlagen bzw. zum Rückzug aus der Stadt zwingen.
Andrei Jermak, der Chef der ukrainischen Präsidialverwaltung, der als graue Eminenz hinter Selenskij gilt, hat dem Nationalen Sicherheitsberater der USA Jake Sullivan versichert, dass der Gegenschlag bei Bachmut erfolgreich verlaufen und sich das Szenario der Niederlage der russischen Armee, wie es sich im Herbst im Gebiet Charkow abgespielt hat, wiederholen werde. Er stellte auch die Widersprüche zwischen der Wagner-Truppe und dem Verteidigungsministerium in Moskau heraus, die sich seiner Einschätzung nach begünstigend auf die Umsetzung von Syrskis Plan auswirken werden. Die Niederlage der russischen Truppen, so Jermak weiter, werde der Ukraine helfen, die große Offensive im Frühjahr zu starten und den Feind zu demoralisieren.
Dabei ist die Disposition von gleich zwölf der am besten ausgebildeten Brigaden, die extra für die große Frühlingsoffensive aufgestellt und bislang entsprechend geschont wurden, in den "Fleischwolf von Bachmut" vordergründig eine Gefahr für die weitergehenden Offensivpläne der Ukrainer. Sollte Syrskis Plan misslingen oder zumindest auf genügend russische Gegenwehr stoßen, sodass die geplante kleine Offensive sich nicht als der leichte Ausflug erweist, als der er auf dem Papier aussieht, wäre die ukrainische Offensivkraft erheblich geschwächt. Deshalb ist es kein Wunder, dass Jermak gerade die angeblichen Vorteile für die Großoffensive (an deren Planung USA und NATO im Gegensatz zu Syrskis Bachmut-Improvisation beteiligt sind) in den Vordergrund rückt. Ob er Sullivan hat überzeugen können, wurde nicht überliefert.
Was sind das aber nun für Offensivpläne, die je nach Darstellung ukrainischer Sprecher die Wende im Krieg bringen oder gar Russland bereits das militärische Rückgrat brechen sollen?
Bekannt ist, dass die Ukraine seit Monaten für diese Großoffensive zunehmend rücksichtslos und rabiat Manneskraft mobilisiert und der Westen seine immer zahlreicheren Waffenlieferungen auf sie ausrichtet. Kein großes Geheimnis ist auch, wo die für die Durchführung der Offensive offenbar vorgesehenen Einheiten aufgestellt, ausgebildet und kampfbereit gehalten werden: in den Steppen der ukrainischen Regionen Dnjepropetrowsk, Saporoschje und Nikolajew unmittelbar westlich des Dnjepr. Diese Aufstellung, aber auch die Art von militärischer Technik, die in zunehmender Anzahl aus dem Westen geliefert wird, spricht dafür, dass die ukrainische Frühlingsoffensive über den Dnjepr in Richtung Krim und/oder Küste des Asowschen Meeres führen wird.
Der Westen stellt zahlreich Ponton-Baumaschinen zur Verfügung, die zur Überbrückung von Flussläufen eingesetzt werden sollen. Natürlich können so keine besonders breiten Wasserläufe überbrückt werden, Kiew hat aber eine Möglichkeit, den Dnjepr im Süden zu einem überwindbaren Gewimmel kleiner Flussarme mit zahlreichen Inseln zwischen ihnen werden zu lassen, indem er die Wasserdämme oberhalb für einige Tage sperrt. Insbesondere im Gebiet Cherson gibt es viele seichte Stellen und Inseln, die hervortreten, sobald die Wassertiefe sinkt. Für Armeepioniere ist es dann kein großes Kunststück mehr, mithilfe aus dem Westen gelieferter Technik zahlreiche Pontonübergänge auf das derzeit von Russland kontrollierte östliche Flussufer zu schaffen.
Die Bundeswehr hat am 9. März die Übergabe zweier weiterer Gepard-Flugabwehrkanonenpanzer (insgesamt sind es inzwischen 36 Stück, die in die Ukraine gelangten), zweier Fahrzeuge für den Grenzschutz sowie 13 Biber-Brückenlegepanzer zusätzlich zu den bereits vorhandenen sieben an die Ukraine bekannt gegeben. Insgesamt haben allein die Deutschen 20 solcher "Spielzeuge" transferiert. Je mehr solcher technischen "Spielzeuge" vor Ort sind, desto mehr Übergänge kann die ukrainische Armee für das Übersetzen nutzen.
Dafür, wie es nach dem Übersetzen weitergehen kann, stehen zwei Varianten zur Diskussion. Die Minimalvariante geht von einem Schlag bis an die Küste des Asowschen Meeres aus, der die russische Landbrücke zur Halbinsel Krim, die wohl wichtigste Errungenschaft Russlands bislang, durchschneiden könnte. Zugleich könnten in diesem Fall die provisorischen Hauptstädte der neuen russischen Regionen Cherson und Saporoschje eingenommen werden, was ein schwerer Imageschaden für Russland wäre. Auch das AKW in Energodar könnte auf diesem Weg unter ukrainische Kontrolle gelangen. Die Maximalvariante wäre ein Schlag direkt auf die Krim, die nach Durchbrechen der russischen Verteidigungslinien an ihrem Nordkopf im Nu eingenommen wäre: ein noch schwererer Imageschaden für Moskau.
Zuletzt sind aber auch Spekulationen darüber aufgetaucht, dass die Ausrichtung des ukrainischen Offensivpotenzials auf das linke Dnjepr-Ufer und die Südküsten zu offensichtlich ist, um russischen Militärplanern zu entgehen. Diese Beobachter sehen darin ein Täuschungsmanöver und die tatsächlichen Pläne der Ukraine sowie ihrer westlichen Berater und Unterstützer in der entgegengesetzten Himmelsrichtung.
In der Tat haben die aus Kiew gesteuerten terroristischen Überfälle auf russische Grenzdörfer in den vergangenen Wochen gezeigt, dass es keine durchgehenden Verteidigungslinien an der russisch-ukrainischen Grenze gibt. Eine ukrainische Offensivarmee kann die Grenze offenbar jederzeit an jeder beliebigen Stelle überschreiten, ohne auf größeren Widerstand zu stoßen, und hat von dort bis Moskau freien Raum zu manövrieren. Hinzu kommt, dass gerade die um Moskau stationierten "Eliteeinheiten" der russischen Armee in der ersten Phase der militärischen Sonderoperation sich nicht gerade mit Ruhm bekleckert haben. Dass sie mehr sind als nur beim Paradieren glänzende Sybariten, dass sie bereit sind, für die Heimat ihr Leben zu opfern, müssen diese Einheiten erst noch beweisen.
So fantastisch es auch klingt, ausgeschlossen ist nach dem bisherigen Kriegsverlauf gar nichts mehr: Die Aussicht, Russland direkt ins Herz zu treffen und den Krieg mit der größten Blamage, die Russland erleiden kann, für sich zu entscheiden, könnte für Kiew, Brüssel und Washington zu verlockend sein. Klar ist bislang nur: Kiews Offensiven werden kommen. Was Russland ihnen entgegenzusetzen vermag, steht bislang in den Sternen.
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