Von Elem Chintsky
Das Gemunkel über einen Szenenwechsel auf dem großen geopolitischen Schachbrett wird immer bemerkbarer. Gemeint ist der Entzug des internationalen Rampenlichts, das das Kiewer Regime seit über einem Jahr mit seinem Hauptdarsteller Wladimir Selenskij genießt. Stattdessen soll die Aufmerksamkeit der NATO-Leitmedien, aber auch des US-amerikanischen, militärisch-industriellen Komplexes bald auf das Südchinesische und Ostchinesische Meer ausgerichtet werden – und so eigentlich auf den globalen Widersacher der angelsächsischen Weltpolizei: die Volksrepublik China.
Zumindest informierte uns darüber kürzlich schon lauthals die Washington Post. Erst mit einer gewagteren Schlagzeile wie "Aus Furcht vor China verstärken die USA und ihre Verbündeten die Verteidigung im Pazifik", um dann doch den vernünftigeren Titel "Von China überrumpelt: USA und Verbündete rüsten Verteidigung im Pazifik auf" zu wählen. Im Artikel selbst wird China als unbelehrbarer Aggressor geführt, den man mit aller Vernunft und dem üblichen "demokratischen Feingefühl" militärisch beschwichtigen müsse. Die Biden-Regierung sei bemüht um einen "freien und wohlhabenden indopazifischen Raum, der durch stetigen Aufbau von Partnerschaften zu schaffen ist", so das Blatt.
Es wurde auch noch eine ganz andere Sau durch globale Dorf gejagt: Das mittlerweile viel zitierte "Bauchgefühl" des US-Generals Michael "Mike" Minihan, der einen US-amerikanisch-chinesischen Krieg bis zum Jahr 2025 prognostizierte. Wenn diese Aussagen tatsächlich den aufrichtigen US-Konsens im Washingtoner Regierungsestablishment darstellen, dann haben die Amerikaner allerdings verlernt Staatsgeheimnisse zu hüten. Oder – gemessen an der Tatsache, dass jedes englischsprachige NATO-Medium diese Aussagen sofort dankbar aufgriff – die Verbreitung solcher Einschätzung waren eher im Pentagon und in Langley gewollt.
Verschiedene Hypothesen
Es gibt eine Öffentlichkeit im Wertewesten, gegenüber der es als Elite zumindest oberflächlich gilt, Rechenschaft zu leisten. Man kann keinen "Überraschungskrieg mit China" entfachen und davon ausgehen, dass das eigene Volk sich als moralisches Rückgrat anbietet. An ein solches Vorhaben muss man eine aufgeklärte Gesellschaft erst heranführen. Über Methoden, die schon Leute, wie Edward Bernays (in seinem Buch "Propaganda") oder Gustave Le Bon (in seinem Werk "Die Psychologie der Massen") klar und deutlich aufgeklärt haben. Die gezielten Medienkampagnen, die nun eine immanente kriegerische Auseinandersetzung mit China heraufbeschwören sind bereits im letzten Jahr spürbar gewesen. Dass es sich aber bei weitem nicht nur um warme Luft handelt, sondern um sich zuspitzende Provokationen der Welteninsel und ihres wichtigsten Spielers, China, ist länger klar. Nancy Pelosi, mit ihrem August-Besuch in Taipei letztes Jahr, ist das Paradebeispiel für den US-Wunsch, die Beziehungen mit Peking zu strapazieren und aus dem Ruder geraten zu lassen.
Nach dem Koreakrieg, dem Vietnamkrieg, den drei Golfkriegen und der Demokratie-Impfung, die man Afghanistan für zwei Dekaden verabreicht hatte, bemühten sich die USA eigentlich immer dann doch, wo es nur ging, andere ihre Kriege ausfechten zu lassen. Das mittlerweile transparente Betriebsgeheimnis dabei ist stets immer, die eigenen Handlanger glauben zu lassen, sie seien selbst auf die Idee gekommen, vors Messer zu marschieren. Deutschland, die baltischen Staaten und Polen zeigen darin einen reichen, nicht reformierbaren Erfahrungsschatz.
Ein großes Aber
Bei einer direkten Konfrontation mit China gelten sehr ähnliche Überlegungen der allgemeinen nuklearen Abschreckungstheorie, wie die der letzten 14 Monate mit Russland: eine direkte Konfrontation der USA bzw. NATO mit Peking hätte einen begrenzten bis unbegrenzten Einsatz von Atomwaffen von beiden Seiten zur Folge.
Dieses jüngste "kontrollierte Durchsickern" von Informationen über einen umfassenden US-amerikanisch-chinesischen Krieg in den traditionellen Medien müsste mit Vorsicht genossen werden.
Der US-Modus Operandi müsste also heißen, Verbündete in den chinesischen Fleischwolf vorzuschieben – nach ukrainischer Schablone. Und zwar wieder so, dass die US-Subjekte selbst sich bei dieser Gelegenheit der Deindustrialisierung Industrieflucht, Inflation, Energie- und Migrationskrise vor Freude nur schütteln – wieder ähnlich, wie die europäische NATO-Flanke auf dem alten Kontinent gegen Russland.
Sehr wichtig dabei ist, dass keines der im Chinesischen Meer regional anfälligen US-Verbündeten eine Atommacht darstellt. Und da ist man fein heraus, weil weder Japan noch Südkorea, noch das sich selbst verwaltende Taiwan über ein eigenes Atomwaffen-Arsenal verfügen. Diese Länder können also getrost für die USA in den Krieg gegen China ziehen.
Was Peking hat, aber Russland im Hinblick auf die Ukraine nicht hatte, ist die allseits bekannte Ein-China-Politik. Eine durch internationales Recht, durch einen UNO-Beschluss, und hier vor allem direkt durch die USA bestätigtes Prinzip, das China weitaus mehr Hebelkraft gibt, als Russland seit der Ukrainekrise 2013/2014 zur Verfügung hatte. Eine "Ein-Russland"-Politik musste sich Moskau manuell, militärisch und durch schwer zu organisierende Plebiszite vor Ort erarbeiten und erschließen.
Aus der Sicht des internationalen Rechts müsste Peking nicht erst ein Referendum in Taiwan abhalten, bevor es Taiwan "demilitarisiert", "de-amerikanisiert" und – aus trotziger Sicht des Westens – "annektiert". Es ist de jure bereits Bestandteil eines "Chinas" unter Peking. Der Anspruch Pekings auf diese Insel wurde in den letzten zwölf Monaten besonders oft hervorgehoben. Wird dieser ab einem gewissen Moment stark genug streitig gemacht, bekommen die USA ihren lang ersehnten Krieg im Pazifik.
Miserable Wirtschaftslage, eher gut für Start eines globalen Kriegs – oder eher schlecht?
Hier spalten sich die Geister. Wenn man aber die Kriege der letzten 100 Jahre begutachtet, waren sie stets extrem fruchtbare Katalysatoren, um die Wirtschaft der Kriegstreiber nicht nur zu reanimieren, sondern auf eine neue Ebene des “ewigen Wachstums” und Fortschritts zu befördern. Entscheidend ist die Voraussetzung, dass die eigene Vorherrschaft in internationaler Geldpolitik bereits besteht, oder in naher Zukunft von “den alten, internationalistischen Gönnern” in Aussicht gestellt wird. Als die Briten im 19. Jahrhundert ihren Hegemonie-Status widerwillig an die US-Amerikaner abtreten mussten, ging es genau darum. Der verlorene Kampf der britischen Zentralbank – Bank of England–, geldpolitisch auf die Vereinigten Staaten Einfluss zu nehmen und sie zu geißeln, mündete Anfang des 20. Jahrhunderts in die Gründung der US-amerikanischen Zentralbank, U.S. Federal Reserve (Fed). Diese wurde anschließend buchstäblich der geldpolitische Motor der Weltkriege in diesem Jahrhundert: Staaten verschuldeten sich und nahmen Kredite auf, die auf die eine oder andere Art und Weise von der Fed und ihrem internationalen Finanznetzwerk abhängig war.
Zweiter Aspekt sind westliche Staatsschulden. Diese wurden extrem selten über einen geregelten Langzeitprozess zu Friedenszeiten getilgt. Stattdessen wurden große Kriege genutzt, die zu Schuldenerlass, Schuldentransfer, dem Raub und der Aneignung neuer Rohstoffquellen in den erstrebten Kriegsgebieten, der florierenden Rüstungsindustrie und Eigentumstransfer oder Enteignung führten.
Wie die kürzlich mundtot gemachte Akademikerin und Historikerin Ulrike Guérot schon in einer wichtigen TV-Talkrunde im Juni 2015 (u.a. mit dem 2017er SPD-Kanzlerkandidaten Martin Schulz) bei Maybrit Illner nochmal im Streitgespräch mit dem slowakischen Politiker Richard Sulík unterstrichen hat:
"Ich bin Historikerin. Und in 5.000 Jahren sind Schulden in regelmäßigen Abständen immer wieder gestrichen worden – entweder durch Krieg, oder durch Revolution. [...] Es ist einfach eine empirische Evidenz. [...] Schulden, wenn sie zu heavy geworden sind, sind immer gestrichen worden."
Also Schuldenstreichung, ja, aber nicht wirklich ohne Weiteres, sondern eben durch Krieg oder durch Revolution. Genau diese Art des Kleingedruckten kann einen Hinweis darauf geben, weshalb die Kriegstreiberei und schiere Lust am Krieg im Wertewesten so synchron zur Staatsverschuldung wächst.
Um nur ein anschauliches Beispiel zu nennen: die Zinskosten für die Staatsverschuldung der Bundesrepublik Deutschland sind von 4 Milliarden Euro (2021) auf heutige 40 Milliarden Euro gestiegen – eine Erhöhung von 1000 Prozent in knapp über einem Kalenderjahr. Im Jahr 2021 belief sich die gesamte Staatsverschuldung auf 2.320 Milliarden Euro (also 2,3 Billionen Euro), was also gegenwärtig eine viel höhere Staatsverschuldung implizieren lässt. Man bedenke dabei, dass so dramatisch erhöhte Zinskosten unter anderem verbunden sind mit einer ausartenden Schuldenlast.
FDP-Finanzminister Christian Lindner führte das an anderer Stelle auf COVID-19 zurück. Nun muss genau dort, wo die Ampel 2021 ihre Wahlversprechen machte, auch wieder eingespart werden: Bildung (SPD), Klimaschutz (Die Grünen) und Digitalisierung (FDP). Wo wird nicht gespart? Beim Krieg.
Was sind einige der Indizien für asiatische Pazifik-Eskalation?
Russland bleibt ein wichtiger Akteur, auch in dieser Region. Die kürzlich geäußerte Entscheidung, Friedensvertragsgespräche mit Japan in absehbarer Zeit nicht aufzugreifen, ist ein wichtiger politologischer Indikator. Nämlich, dass Russland von seiner fernöstlichen Grenze aus handeln wird, sofern die USA es schaffen sollten, die ohnehin hörige Führung in Tokio gegen China zu mobilisieren.
Davon, dass dieser Prozess bereits läuft und Japan sich als brandaktueller Wirt der dortigen US-Aufrüstung anbietet, zeugt die Verlegung von Tomahawk-Raketensystemen auf die japanische Insel Kyūshū. Auch die neuen, wenig getesteten, US-amerikanischen Hyperschall-Waffen sollen ausgerechnet dorthin verfrachtet werden. Die Prioritäten sind klar: Nicht einmal die heimische US-Armee hat Zugang zu dieser Waffentechnologie. Innenpolitisch hat Japan eine dramatische Erhöhung seines Kriegsbudgets veranlasst – solche Ausmaße gab es seit 1960 nicht mehr, eigentlich seit dem Kriegsende 1945. Als Rechtfertigung wird das vermeintlich aggressive Verhalten Chinas, Russlands und Nordkoreas in der Region genannt.
Das einzige relevante Land in der Region, außer China und Russland, das über ein Atomwaffenarsenal verfügt, ist Nordkorea – kein Verbündeter der NATO oder Washingtons. Eher sollte man also seitens Pjöngjangs Beistand für Peking erwarten. Es ist auch Nordkorea, das aktiv an seinen eigenen Hyperschallraketen arbeitet und sowieso bekannt ist für das regelmäßige Testen seiner Raketensysteme. Das Jahr 2022 soll dahingehend auch einen Rekord dargestellt haben – mit insgesamt über 90 abgefeuerten Raketen. 23 davon seien an einem einzigen Tag abgeschossen worden. Unter den Testschüssen war auch die nordkoreanische Rakete namens "Hwasong-12", die im letzten Oktober 4.500 km zurückgelegt und Japans Luftraum durchquert hat – die Japaner sind also nicht grundlos besorgt.
China wurde jüngst unterstellt, dass es Russland im Krieg mit der NATO in der Ukraine mit Waffenlieferungen versorgt. Gleichzeitig soll laut iranischen Geheimdienstquellen Peking große Drohnen-Käufe bei Teheran getätigt haben.
Wie man es auch dreht, eine "multivektorielle" Aufrüstung im Rahmen einer Kriegsvorbereitung kann mit jeder verstreichenden Woche immer schwieriger geleugnet werden. Dass das alles in ein harmloses Orchester aus hermetisch voneinander abgeriegelten Militärübungen mündet, erscheint mittlerweile auch dem Laien unwahrscheinlich. Der oben erwähnte 4-Sterne-US-General könnte also Recht behalten, egal aus welchen Gründen er damit an die Öffentlichkeit gegangen ist.
Auch das Pazifik-Gebilde der USA, nämlich die AUKUS-Allianz zwischen sich, Großbritannien und Australien, wird bei diesem Spektakel eine Rolle spielen müssen. Der Bau neuer Atom-U-Boote und die Lieferung von Hyperschallraketen ist geplant, deren Drehscheibe Australien bald sein soll. Bei der australischen Zivilgesellschaft ist die Frage, ob AUKUS eher die Abhängigkeit von den USA steigert oder tatsächlich die eigene Sicherheit stärkt, umstritten. Die Arbeit des Independent and Peaceful Australia Network (IPAN) zeigt, dass eine Ambivalenz zu AUKUS besteht. London und Washington, D.C. haben natürlich die gewohnte geografische Distanz zum geplanten Brennpunkt, nicht aber Canberra.
Aber die Rhetorik aus der US-amerikanischen Hauptstadt ist stattdessen einheitlich, mit unbedingter Dringlichkeit gefüllt und sehr um die übliche "Freiheit und Demokratie" beim Leben der Anderen bemüht. So hatte kürzlich der Republikaner Mike Gallagher, Vorsitzender des überparteilichen Sonderausschusses des US-Repräsentantenhauses zur Kommunistischen Partei Chinas, folgende Warnung geäußert:
"Dies ist ein existenzieller Kampf um die Frage, wie das Leben im 21. Jahrhundert aussehen wird, und es stehen die grundlegendsten Freiheiten auf dem Spiel. [...] "Ich glaube, unsere Politik der nächsten 10 Jahre wird die Weichen für die nächsten 100 Jahre stellen."
Wann war das aber jemals nicht so? Es gibt nichts Neues unter der Sonne.
Wie bereits weiter oben von Guérot ausgelegt – Krieg oder Revolution sind historisch sehr bewährte zivilisatorische Phänomene, die einen sonst unmöglich zu tilgenden Staatsschulden-Moloch zum Erlegen bringen können. Es ist aber kein Entweder-oder. So wie auch ein solcher "Schuldenerlass" nicht ohne eine enorme Zahl an Geschädigten zu vollstrecken wäre. Ein Opfer aber, was die heutige Klasse an fremdbestimmten Volksvertretern im Westen sicherlich bereit wäre zu bringen. Die Verlockung ist zu groß, die Gelegenheit ist zu rar, alternative Optionen gibt es keine mehr.
Die Mittelschicht der EU-Gesellschaft ist ja ohnehin bereits in ihrer Verwundbarkeit fast vor der Auflösung stehend. Außerdem: Wer sagt denn, dass nicht beide Prozesse auch parallel verlaufen könnten? Ein gewaltsamer Umsturz einer supranationalen Regierungsstruktur, wie sie die EU-Kommission – und etwas verdeckter – die US-Administration darstellen, zeitgleich samt Überwindung ihrer auf obsoleten Werten gestützten "sozialen" Ordnung – zugunsten eines neuen Systems.
Ist die EU mit ihrer in ihrem Herzen – also Deutschland – nun entfachten Deindustrialisierung nicht ein Kandidat für ein solches Schicksal geworden? Während gleichzeitig mehrere Kriege laufen würden – und immer wieder neue hinzukommen? Während die EU-Bürger in der "Angst vorm Russen" erwarten, dass Moskau den destabilisierenden Faktor ausmacht, betreibt eigentlich der selbst auch gefährdete, aber lachende Atlantiker in Washington, D.C. eine wirkliche, moderne "Revolutionierungspolitik" auf dem europäischen Kontinent – ganz besonders gegen Berlin. Das ist eine intensive Unterwanderungsstrategie, wie sie noch vor über hundert Jahren die deutschen Eliten im zaristischen Russland verfolgten. Direkt danach aber, also nach dem Ersten Weltkrieg, wurde das Deutsche Kaiserreich trotz aller geopolitischen List mit dem desaströsen Versailler Vertrag abgefertigt. So schließen sich nun die Kreise, mit gespiegelten Absichten der Staatsakteure – bemüht, sich nicht einzugestehen, dass Geschichte sich reimt.
Elem Chintsky ist ein deutsch-polnischer Journalist, der zu geopolitischen, historischen, finanziellen und kulturellen Themen schreibt. Die fruchtbare Zusammenarbeit mit RT DE besteht seit 2017. Seit Anfang 2020 lebt und arbeitet der freischaffende Autor im russischen Sankt Petersburg. Der ursprünglich als Filmregisseur und Drehbuchautor ausgebildete Chintsky betreibt außerdem einen eigenen Kanal auf Telegram, wo man noch mehr von ihm lesen kann.
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