Von Dora Werner
Bereits vor seiner Veröffentlichung war das PC-Spiel Atomic Heart das weltweit meistdiskutierte Projekt in der Spielwelt. Wenige Tage vor der Vorstellung wurde das Spiel geleakt, auf Torrents publiziert – und von Zehntausenden von Nutzern heruntergeladen. Damit wurde Atomic Heart zu einem der größten Hits unter den Piraten – nach Angaben der großen Torrent-Tracker. Und dann, in den ersten 24 Stunden nach seiner Veröffentlichung, am Abend des 21. Februar, wurde es von über 38.000 Nutzern auf der Internet-Vertriebsplattform Steam gekauft – beträchtlich für ein neues Spiel.
Schon am nächsten Tag, als Atomic Heart zum meistverkauften Spiel wurde, erklärte der stellvertretende Minister für digitale Transformation der Ukraine, Alexander Bornjakow, dass die ukrainischen Behörden die großen Unternehmen aufforderten, den Vertrieb des Spiels zu verweigern. Der Grund dafür waren die russischen Wurzeln der Macher des Spiels sowie der Vorwurf, dass sie mit den russischen Behörden in Verbindung stehen. Das Spiel sei "toxisch" und könnte Informationen über die Daten der Nutzer sammeln und an Dritte in Russland weitergeben, so Bornjakow. Er schloss auch nicht aus, dass das durch den Verkauf des Spiels eingenommene Gelder dazu verwendet werden könnten, Russland bei der Militäroperation in der Ukraine zu helfen.
Und natürlich gehört zu den zentralen Vorwürfen gegenüber Atomic Heart auch die erfolgreiche Nutzung der sowjetischen Umgebung. Die amerikanischen und japanischen Shooter, die bisher den Markt beherrschten, hatten sich so etwas selbstverständlich nicht erlaubt.
Doch was ist nun dieses erfolgreiche "toxische" Videospiel aus Russland?
Atomic Heart, von dem jungen kleinen Designstudio Mundfish entwickelt, ist ein atmosphärischer Adventure-Shooter, eine Mischung aus Tarkowski-Filmen, sowjetischem Kino und Science-Fiction-Literatur des zwanzigsten Jahrhunderts. Die Entwickler des Spiels haben selbst einmal zugegeben, dass sie von Science-Fiction-Autoren der Vergangenheit inspiriert wurden. Robert Bagratuni, Geschäftsführer und Spieldirektor des Studios Mundfish, sagte gegenüber Journalisten, dass man sich bei der Entwicklung von Atomic Heart von großen Autoren wie Orwell, Huxley, Strugatsky und Lem sowie von berühmten und erfolgreichen Spielen wie BioShock, Half-Life und sogar Portal inspirieren ließ.
Auf dem Internetportal hi-tech.mail.ru ist zu lesen:
"Das Atomic Heart Universum ist die Welt des siegreichen Kommunismus. Dank der Errungenschaften der sowjetischen Wissenschaft, der Entdeckung der Polymere und der Entwicklung der Robotik beherrscht die UdSSR (ab 1936) die Welt. Zum Beispiel schließt die Sowjetunion die Deutsche SSR ein und Gagarin ist bereits zehn Jahre früher, am 12. April des Jahres 1951, ins All geflogen. Ihre Bürger widmen sich der Wissenschaft und der Kunst, während die harte Arbeit von Robotern erledigt wird. Außerdem werden sowjetische Roboter sogar in die USA exportiert, die zwischen den Interessen der Kapitalisten, die kostenlose Arbeitskräfte wollen, und denen der einfachen Bürger, die Angst vor dem Verlust ihres Arbeitsplatzes haben, lavieren müssen."
Doch eines Tages geht etwas schief und die Roboter geraten außer Kontrolle und revoltieren. Major Sergei Netschajew, in dessen Rolle jeder Spieler schlüpfen kann, muss mit den rebellischen Robotern fertig werden und die Ordnung wiederherstellen. Rezensenten, Kritiker und Nutzer loben nicht nur die beeindruckende Atmosphäre und Ansteckungskraft der utopischen sowjetischen Welt von Atomic Heart, sondern auch die Nachdenklichkeit der einzelnen Charaktere – ob Roboter oder Wissenschaftler. Und dann sind da noch die philosophischen Untertöne. "Ab Mitte des Verlaufs entwickelt Atomic Heart eine tragische Geschichte über die realen Beziehungen aller Charaktere und ihre Handlungen und wird die Spieler dazu bringen, einige ihrer Entscheidungen zu überdenken", so Gazeta.ru. "Das Spiel entpuppt sich wirklich als eine Geschichte über moderne Technologie, die für verwerfliche Zwecke eingesetzt wird, und statt einer guten Sache für die Menschheit zu ihrem Albtraum wird."
Auch westliche Spielehersteller versuchten bereits, sich Elemente der sowjetischen Geschichte zunutze zu machen, aber im Fall von Atomic Heart ist es wahrscheinlich das erste Mal, dass der Spieler in die geistige und materielle Atmosphäre der Sowjetära voll und ganz eintaucht. Das Setting, der Rahmen der sowjetischen Ära und sogar die Musik sind so gestaltet, dass die Illusion entsteht, sich in einer utopischen Sowjetunion zu befinden. Die Zeitung Iswestija erzählt:
"Das Studio Mundfish hat beschlossen, sich auf die sowjetische Kultur zu konzentrieren. Die 'sozialistische' Zeit wird hier in Form einer technologisch fortgeschrittenen Anti-Utopie gezeigt. Laut Robert Bagratuni, dem Leiter von Atomic Heart, wurden viele der Entwickler des Spiels in der UdSSR geboren und ließen sich von Kindheitserinnerungen und Büchern inspirieren, mit denen sie aufgewachsen sind, und zwar nicht nur von sowjetischen Büchern: Dazu gehören Strugazki, Stanisław Lem und Harry Harrison.
Die leuchtend roten Fahnen, die Wandmalerei und sogar die Plattenbauten sind alle im sowjetischen Stil gehalten. Auch der Gigantismus der stalinistischen Periode mit den riesigen Statuen des Arbeiters und des Kolchosbauern, die in den Himmel starren, begleitet von Alla Pugatschewas Lied 'Eine Million Rosen', ist unverkennbar. Das Spiel kombiniert den sowjetischen architektonischen Modernismus mit moderner Technologie."
Hochwertige technische und grafische Umsetzung, eine clevere und interessante Geschichte, eine fesselnde utopische Welt, lebendige Charaktere – alles in allem ist klar, warum das Spiel einen so guten Start hinlegte – und warum westliche Unternehmen bereits in der Produktions- und Werbephase des Spiels mit dem russischen Studio zusammengearbeitet haben.
Das französische Unternehmen Focus Entertainment ist für die internationale Promotion des Spiels verantwortlich. Diese geizt nicht mit schlagkräftiger Werbung für das ehrgeizige Projekt: Unter anderem hat es für Atomic Heart den prominentesten Werbeplatz auf dem zentralen Platz von Manhattan in New York gekauft. Playground.ru schrieb dazu:
"Atomic Heart wird jetzt überall am Times Square zu sehen sein, wo auf einem der großen Bildschirme einer der Trailer des Spiels zu sehen ist. Für den Herausgeber könnte eine solche Werbung mehrere zehntausend US-Dollar kosten. Aus öffentlichen Quellen ist zu erfahren, dass die Schaltung von Anzeigen am Times Square zwischen 5.000 und 50.000 US-Dollar pro Tag kosten kann, wobei der endgültige Betrag von verschiedenen Marktfaktoren abhängt."
Wenige Tage vor der Veröffentlichung des Spiels haben die Entwickler einen spektakulären Trailer mit realen Schauspielern veröffentlicht. Der amerikanische Darsteller Jensen Ackles übernahm die Rolle des Protagonisten des Spiels, Major Netschaew. Der Schauspieler ist vielen aus Fernsehserien wie "The Boys" und "Supernatural" bekannt.
Und nur ein paar Tage nach dem Verkaufsstart wurde ein neues Werbekarussell in Gang gesetzt: Es werden Merchandise-Artikel zu den Spielfiguren vorbereitet und interessante Kooperationen ins Leben gerufen. Manchmal sind sie sogar bizarr. So hat VIZIT, ein russischer Kondomhersteller (der seine Artikel übrigens in Fabriken in Deutschland produziert), die Einführung einer Atomic-Heart-Linie in limitierter Auflage angekündigt. VIZIT ist bekannt für seine provokanten Werbekampagnen – und im Fall von Atomic Heart kann das Unternehmen mit Sicherheit so einiges liefern.
Experten sagen, dass das Spiel gute Chancen hat, nicht nur in der westlichen Spielewelt und in Russland, sondern auch in Asien ein echter Hit zu werden. Vor allem in China. Vielleicht ist das der Grund, warum Kiew nun fest entschlossen ist, den Erfolg des Spiels zu verhindern.
Das ukrainische Ministerium für digitale Transformation fordert derzeit nicht nur, dass das Spiel im Land nicht mehr vertrieben werden darf, sondern ruft auch die ukrainischen Nutzer auf, es zu ignorieren. "Wir fordern auch, die Verbreitung dieses Spiels in anderen Ländern einzuschränken", sagte außerdem der stellvertretende Minister für digitale Transformation der Ukraine, Alexander Bornjakow, in einem Interview mit dem Onlineportal Dev Ukraine. Das Spiel verherrliche "den Kommunismus und den KGB", und seine Schöpfer seien noch dazu Russen, die sich noch nicht öffentlich zu den Geschehnissen in der Ukraine geäußert hätten. Man solle das Spiel weltweit unbedingt verbieten, da "dem russischen Staat nahestehende Strukturen und Unternehmen" bei der Finanzierung des Projekts im Spiel waren, so Bornjakow.
Radio FM4 von dem österreichischen Rundfunkkorporation ORF schreibt dazu:
"Ukrainische Aktivist*innen und sogar der ukrainische Minister für digitale Angelegenheiten rufen leidenschaftlich zum Boykott des Spiels auf; und tatsächlich ist die altbekannte Behauptung, hier gäbe es nur Unterhaltung und keine Politik, in diesem Fall besonders wackelig. Die Retro-Sowjet-Nostalgie und Ästhetik haben angesichts der realen Geschichtsfälschung russischer Propaganda einen bitteren Beigeschmack, genau wie unsere Rolle als heroischer russischer Spezialagent. Atomic Heart ist auch abseits seiner Macher trotz Robotern und Science-Fiction-Story durch und durch mit politischen Symbolen und Problemen behaftet."
Und auch die deutsche Zeitschrift Stern gibt die ukrainische Sichtweise wider:
"Die Kritik an Atomic Heart geht derweil nicht spurlos an Mitwirkenden vorbei. Der Komponist Mick Gordon, dem das Spiel seinen Soundtrack verdankt, erklärte via Twitter, die Einnahmen dem Roten Kreuz spenden zu wollen. Die Zusammenarbeit mit Mundfish beschreibt er als 'absolutes Vergnügen' und er freue sich darauf, sein Werk im Rahmen des fertigen Spiels erleben zu können.
Alexander Bornyakov hat derweil noch ganz andere Probleme mit dem Spiel. Seiner Meinung nach romantisiere es die kommunistische Ideologie, die Sowjetunion und den KGB, was aktuell zur absolut Unzeit käme, da das Spiel unmittelbar vor dem Jahrestag der russischen Invasion in der Ukraine erschienen sei. Für einen Zufall hält er dies offenbar nicht."
Dabei hat das Spiel jedoch nichts mit den aktuellen Ereignissen in der Ukraine zu tun – es wurde bereits im Jahr 2018 angekündigt. Ansonsten sieht es so aus, dass die Gründer von Mundfish tatsächlich Russen sind. "Artjom Galeew, Robert Bagratuni, Ewgenija Sedowa und Oleg Gorodischenin haben ein unglaubliches Team von 130 Kreativen aus zehn Ländern zusammengestellt, darunter Polen, die Ukraine, Österreich, Georgien, Israel, Armenien, die Vereinigten Arabischen Emirate, Serbien und Zypern", heißt es jetzt auf der Webseite des Studios. Das Unternehmen selbst sei in Zypern registriert, so die Zeitung Wsgljad, aber zumindest bis zum Jahr 2019 habe es eine juristische Person LLC Mundfish in Russland gegeben.
Laut der Webseite des Unternehmens gehören zu den Investoren die chinesische Holding Tencent, der ungarische Verlag Gaijin Entertainment und die in Zypern ansässige Investmentgesellschaft GEM Capital, die sich im Besitz von Anatoli Palij, einem ehemaligen Gazprom-Mitarbeiter, befindet. Letzteres ist der Grund für den Vorwurf einer möglichen Zusammenarbeit mit dem staatsnahen Unternehmen Gazprom.
Ein weiterer Vorwurf, der gegen Mundfish erhoben wurde, ist der Verdacht der Zusammenarbeit mit der russischen Holding VK, die von Wladimir Kirijenko, dem Sohn des ersten stellvertretenden Leiters der Präsidialverwaltung, Sergei Kirijenko, geleitet wird. VK ist tatsächlich an der Verbreitung des Spiels beteiligt. Zumindest in den GUS-Staaten hat die Plattform VK Play die Exklusivrechte für den Vertrieb der PC-Version von Atomic Heart erhalten.
Allerdings klingen alle Vorwürfe gegen das Spiel selbst und seine Entwickler äußerst weit hergeholt. Seine Politisierung scheint fast ein Element der ukrainischen und westlichen Propaganda zu sein – und Teil eines neuen Versuchs, die Politik von Cancel Culture in Richtung Russland auszuüben, oder auch einfach als Versuch, einen erfolgreicheren Konkurrenten aus dem Weg zu räumen. Wenn man die ständigen Bemühungen der ukrainischen Führung beobachtet, die Probleme ihres Landes in der Unterhaltungsbranche zu monetarisieren – von Bildern in der Zeitschrift Vogue bis zu verschiedenen Comics über den ukrainischen Präsidenten – dann wirken die Behauptungen Kiews zu Atomic Heart eher zynisch.
"Atomic Heart will den Spieler in erster Linie unterhalten und nicht zum Nachdenken über das Schicksal der Welt anregen", meint die Zeitung Gazeta ru. Es geht hier also bestimmt nicht um Politik oder dergleichen. Und weiter: "Gerade in der heutigen Zeit, in der viele Spiele versuchen, schlauer zu machen, den Spielern beizubringen, 'besser zu sein' und so weiter, schlägt Atomic Heartvor, die Tür einzutreten und einfach mit allen Feinden fertig zu werden, ohne sich Gedanken zu machen. Die Hauptsache ist, zuerst das schwierige sowjetische Schloss zu knacken".
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