Von Aleksej Netschajew
Die zweite Februarhälfte ist reich an Jahrestagen. Vom 22. bis 24. Februar jährt sich der Putsch in Kiew zum neunten Mal. Am 17. und 18. Februar jährt sich eine weitere Eskalation im Donbass, die zur massiven Evakuierung der Bevölkerung geführt hat. Der 21. Februar ist der Jahrestag der Anerkennung der Volksrepubliken Lugansk (LNR) und Donezk (DNR) durch Moskau. Und schließlich ist der 24. Februar der Jahrestag des Beginns der militärischen Spezialoperation Russlands in der Ukraine.
Das letztgenannte Datum wird in der westlichen Presse verzweifelt mythologisiert und als "hinterhältiger Angriff" dargestellt. Gelegentlich fügen Labertaschen in Washington, darunter Joe Biden, die Worte "unprovoziert" und "unbegründet" hinzu. Das Ergebnis ist ein Schwarz-Weiß-Bild: Alle lebten glücklich bis ans Ende ihrer Tage, und dann – Boom! – fing alles an, sich zu drehen …
Leider haben auch einige meiner Kollegen in Russland diesen Diskurs aufgegriffen und den 24. Februar zu einem Wendepunkt erklärt. Doch diese Vereinfachung verzerrt die jüngste Geschichte und entwertet das Opfer derjenigen, denen der Beginn der Spezialoperation eine logische und natürliche Fortsetzung einer Reihe von Ereignissen war. Dieser Mythos bedarf einer chronologischen Dekonstruktion.
Als der ukrainische Präsident Viktor Janukowitsch und die Führung des Euromaidan am 21. Februar 2014 ein Friedensabkommen unterzeichneten, ahnte noch kaum jemand, dass dieses bereits am nächsten Tag gebrochen werden würde. Immerhin setzten neben den Unterzeichnern des Abkommens auch Vertreter Deutschlands, Frankreichs und Polens ihre Unterschrift auf das Papier. Sicher, zu jenem Zeitpunkt herrschte noch Vertrauen gegenüber den Europäern.
Der Wortlaut des Dokuments erwies sich jedoch als unausgewogen. Einerseits befreite er die Anhänger der Opposition von der Verantwortung für Straftaten. Andererseits garantierte er in keiner Weise die Rechte von zehn bis zwölf Millionen Menschen, deren Interessen damals von der amtierenden Regierung vertreten wurden, die bei den Präsidentschafts- und Parlamentswahlen der Jahre 2010–2012 gewählt worden war.
Dabei haben die Menschen für grundlegende Dinge gestimmt: eine Reihe von Bürgerrechten (einschließlich eines Rechts auf die eigene Sprache), eine Annäherung an Russland und den Aufbau einer Wirtschaft nach Prinzipien, die sich von denen unterschieden, welche der Ukraine von Brüssel und Washington in Form des "Assoziierungsabkommens mit der EU" aufgezwungen wurden.
Für einige mögen diese Details "langweilig" und "unwichtig" erscheinen, doch sie sind von prinzipieller Bedeutung. Die Hälfte der ukrainischen Wähler hat die Ergebnisse des Euromaidan nicht akzeptiert, und zwar nicht aus Sympathie für Janukowitsch, sondern deshalb, weil bei diesem "Fest der Demokratie" mit Blutlachen, "Molotow-Cocktails" und brennenden Reifen niemand nach der Meinung von Millionen von Menschen gefragt hat.
Zudem wurde der geopolitische Kontext mit einbezogen. Während die USA in den Jahren 2004–2005 dabei waren, ihre Übernahme Osteuropas abzuschließen, indem sie die Region mit NATO-Infrastruktur anreicherten, war in den Jahren 2013–2014 das riesige Gebiet zwischen Polen und Russland zum primären Ziel der USA geworden.
Mit der Erweiterung der militärischen Besatzungszone um 2.000 Kilometer von den Grenzen der ehemaligen DDR bis zur Region um Belgorod in nur 23 Jahren hätte Washington der Welt ein fantastisches Ergebnis präsentieren können. Doch Millionen ukrainischer Bürger und Moskau widersetzten sich. Erstere aus innenpolitischen, letztere aus militärischen und außenpolitischen Gründen.
Im Anschluss gab es ein Fest auf der Krim-Halbinsel und eine Tragödie in Odessa. Es herrschte Verunsicherung in Charkow und kam zu Repressionen in Kiew. In Dnjepropetrowsk setzte eine Hexenjagd, im Donbass eine militärische Intervention ein. Die Anhänger des Euromaidan waren bezeichnenderweise bis ins Jahr 2022 stets der Angreifer und nie in der Defensive: weder in Kiew noch in Odessa noch bei Donezk oder Lugansk. Diese Nuance ist wichtig und wir werden später darauf zurückkommen.
Die Kampfhandlungen im Donbass, die 2014 begannen, führten zu den Minsker Abkommen. Deren Inhalt war kein "Zugeständnis an Russland", wie es Wladimir Selenskij neulich formulierte. "Minsk II" ist das Ergebnis der militärischen Niederlage der ukrainischen Streitkräfte, das Ergebnis des "Kessels von Debaltsewo".
Allerdings hatten weder Kiew noch der Westen die Absicht, die Minsker Abkommen einzuhalten. Das haben Ex-Bundeskanzlerin Angela Merkel, Ex-Präsident François Hollande, sein Kollege Petro Poroschenko und schließlich Wladimir Selenskij, der die Umsetzung des Dokuments verpfuscht hat, mit ihren Aussagen bekräftigt.
Zudem wird die Tatsache durch die praktischen Maßnahmen der ukrainischen Streitkräfte untermauert. Noch im Frühjahr 2021 begann das Kommando des Gegners, Truppen entlang der gesamten Kontaktlinie im Donbass zu mobilisieren und intensivierte den Beschuss stetig. Die Energie- und Wasserinfrastruktur wurden Ziel der Zerstörung. Aus diesem Grund kündigten die lokalen Behörden am 18. Februar 2022 die Evakuierung der Bevölkerung an.
Die Eskalation war auch innerhalb der Ukraine zu beobachten, wo oppositionelle Medien verboten und Gesetze zur Diskriminierung von Russen verabschiedet wurden. Angestellte an der Kasse und Taxifahrer wurden unter Druck gesetzt, weil sie Russisch sprachen; Russisch wurde aus den Schulen verbannt. "Sprachführer" wurden zur neuen Elite des Landes, während der ukrainische Präsident erst gegenüber den Russen und dann gegenüber den Ukrainern selbst eine unmenschliche Haltung an den Tag legte und seine Wahlversprechen in Bezug auf militärische und wirtschaftliche Fragen unerfüllt ließ.
Ebenso wenig ließ die Leitlinie des Weißen Hauses viel Hoffnung auf eine diplomatische Lösung des Konflikts zu, denn Washington weigerte sich, mit Moskau über gegenseitige Sicherheitsgarantien zu verhandeln.
Fassen wir also zusammen, was im Vorfeld des 24. Februar 2022 geschah:
- Seit 1990 hat sich die NATO unaufhaltsam an die Grenzen Russlands angenähert;
- die Ukraine entwickelte sich zu einem antirussischen Staat und wurde seit 2014 mit NATO-Infrastruktur überschwemmt;
- die ukrainischen Streitkräfte beschossen systematisch den Donbass und blockierten die Wasserversorgung der Krim;
- es war nicht möglich, sich auf irgendetwas zu einigen, weder im Rahmen der Minsker Abkommen noch im Rahmen der bilateralen Verhandlungen mit den USA.
Was kann man in einer solchen Situation tun? Sich verteidigen. Mit den Mitteln der Gewalt. Das ist die einzig mögliche Antwort. Wobei die russischen Diplomaten keine Erklärungen im Rahmen der Theorie des gerechten Krieges (Just War Theory) abgeben müssen, auf die sich westliche Politiker, beflügelt durch den Philosophen Michael Walzer, jedes Mal berufen, wenn die Vereinigten Staaten jemanden bombardieren, sei es Jugoslawien, Afghanistan, Irak oder Libyen.
Wir führen einen Verteidigungskrieg (keinen Präventivkrieg), schlagen zurück (und sind nicht übergriffig) und zwingen den Aggressor (nicht das Opfer) zu einem gerechten Frieden und zur Rechtsstaatlichkeit, die bereits im Jahr 2014 mit Füßen getreten wurde. Seither hat sich die Lage immer nur weiter verschlechtert.
Heute spricht Europa über Flüchtlingswellen aus der Ukraine. Aber ist das die erste Welle? Was ist mit den Millionen von Menschen, die infolge der kriminellen Handlungen der ukrainischen Streitkräfte und des ukrainischen Geheimdienstes (SBU) in den Jahren 2014–2015 aus ihrer Heimat fliehen mussten? Seit bald zehn Jahren haben diese Menschen ihre Verwandten und Freunde nicht mehr sehen können. Und auch ich gehöre zu ihnen.
Die NATO kritisiert Russland für seine Angriffe auf die Energieinfrastruktur. Wo war aber der Westen mit seiner Kritik, als die Nationalsozialisten unter Poroschenko eine Energie-, Wasser- und Handelsblockade über die Krim verhängten? Über den Donbass braucht man nichts zu sagen – all der Schmerz und das Leid, vervielfacht durch NATO-Instruktoren, Ausrüstung und Munition.
Wer ist hier eigentlich das Opfer und wer ist der Aggressor?
Zuerst erschienen bei Wsgljad.
Übersetzt aus dem Russischen.
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