Von Susan Bonath
Mit Corona wurde manchem klar, was Willkür ist: Ein Flickenteppich schwammiger Verordnungen durchzog Deutschland. Kaum jemand wusste noch, was in welchem Bundesland verboten war. Die Härte einer Strafe korrelierte mehr denn je mit der privaten Einstellung einzelner Beamter. Ein Novum? Keineswegs: Wer als Armutsrentner, Behinderter, Geringverdiener oder Erwerbsloser auf Grundsicherung angewiesen ist, kennt eine ähnliche Willkür. Unklare Rechtsbegriffe und kommunale Eigenbrötelei machen Existenzfragen zum Glücksspiel, dessen Erfolg von regionalen Richtlinien und vom Wohlwollen einzelner Sachbearbeiter abhängt.
Das betrifft auch den Umgang mit den rasant gestiegenen Lebenshaltungskosten. Während die vom Bund verfügte elfprozentige Pauschalerhöhung der Sozialhilfe und des sogenannten Bürgergeldes als Hartz-IV-Nachfolger die Inflation nicht ansatzweise abfedert, müssen Betroffene – insgesamt rund sieben Millionen – zudem noch fürchten, auf einem Teil der explodierten Heizkosten sitzen zu bleiben. Denn in welchem Umfang Sozialämter und Jobcenter diese anerkennen, entscheiden die Kommunen selbst. Ein einheitliches Vorgehen gibt es nicht. Das legt eine Antwort des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales (BMAS) an die Autorin nahe. Sorgen über mögliche Willkür und unzureichende Grundsicherung macht man sich dort nicht.
Was ist "angemessen"?
Zunächst: Viele Sozialbehörden erkennen offenbar die explodierten Heizkosten zumindest vorläufig an. Doch es gibt auch andere Fälle. So haben sich mehrere Betroffene bei der Autorin gemeldet, deren Erlebnisse von Willkür zeugen. Sie kämpfen wie alle Mieter mit massiv erhöhten Heizkostenvorauszahlungen. Teils haben sie sich verdoppelt oder verdreifacht, in einem Fall sogar fast verfünffacht. Doch sie hatten Pech und sollen künftig zum Teil beachtliche Beträge davon aus ihrem völlig unzureichenden Regelsatz stemmen.
Die Begründungen sind so verschieden wie die Behörden. Mal unterstellten sie den Betroffenen "unangemessenes Heizverhalten", ohne diesen Vorwurf konkret zu belegen, mal beriefen sie sich auf eine Richtlinie für die "Kosten der Unterkunft" von 2021 oder früher, mit Mietobergrenzen, die mit den heutigen nichts mehr zu tun haben. Die Betroffenen sind verzweifelt, denn es drohen ihnen letztendlich Wohnungsverlust und Obdachlosigkeit.
Der Teufel steckt im Detail, genauer gesagt: im Wörtchen "angemessen". So heißt es im Bundesgesetz zwar, dass die Grundsicherungsträger, – also Sozialämter oder Jobcenter, – die Wohnkosten vollständig übernehmen sollen, allerdings nur, sofern sie angemessen seien. Und was angemessen ist, bestimmt jede Kommune für sich. Diese haben dafür eigene Richtlinien, offiziell basierend auf den Mietpreisen vor Ort für die einfachsten Wohnungen. Hier rechnen finanzklamme Kommunen aber gerne klein. Schon einige solcher Vorgaben wurden in den letzten 18 Jahren von Sozialgerichten kassiert.
Kommunaler Alleingang
Das BMAS schiebt jede Verantwortung von sich und lobt das neue Bürgergeld. Die Erhöhung um etwas mehr als elf Prozent betrifft auch die Grundsicherung im Alter oder bei Erwerbsminderung sowie die Sozialhilfe. Alleinstehende erhalten damit 502 Euro monatlich zum Leben, etwaige Angehörige zwischen 60 und 80 Prozent davon, je nach Alter. Nur diese Sätze schreibt der Bund vor. Darüber hinaus sollen die Kommunen, wie gesagt, die "angemessenen Kosten der Unterkunft" übernehmen.
"Zur Auslegung des Begriffs der Angemessenheit gibt es in der Regel Vorgaben der kommunalen Träger, die gegenüber den Jobcentern weisungsbefugt sind", erklärte eine BMAS-Sprecherin auf Nachfrage. Mit anderen Worten: Damit habe das Ministerium nichts zu tun. Sie fügt an: Die Höhe der von Betroffenen verlangten Heizkostenabschläge solle vor Ort "verbrauchsabhängig geprüft" werden, "sodass eine Kostensteigerung bei gleichem Verbrauch nicht zur Unangemessenheit führt".
Doch wie sollen Sozialämter und Jobcenter den aktuellen Verbrauch überhaupt überprüfen? Da es um Vorauszahlungen geht, ist das kaum möglich. Auch können Vermieter spekulativ viel höhere Verbräuche annehmen, als tatsächlich erfolgen. Dies würde sich dann erst später in der Endabrechnung zeigen. Es gibt weder konkrete Verbrauchsvorgaben noch berechenbare Werte – ein Einfallstor für amtliche Willkür.
BMAS kennt eigene Gesetze nicht
Wer einen Teil der Heizkosten aus dem Regelsatz bezahlen soll, kommt schnell in Existenznot. Denn die Inflation betrifft ja auch die Preise für Lebensmittel, den öffentlichen Verkehr und die Energie. Sozialverbände beklagen seit Langem eine unzureichende Abdeckung der realen Stromkosten. Wie für alle anderen Bedarfe ist dafür im Regelsatz ein fester Betrag veranschlagt.
Wie zum Beispiel die Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg darlegt, sind im Salär für Alleinstehende genau 174,19 Euro für Nahrungsmittel einkalkuliert. Für "Wohnen, Energie und Wohninstandhaltung" dürften sie demnach nicht mehr als 42,55 Euro ausgeben. Davon sollen sie also nicht nur ihre Stromrechnung bezahlen, sondern auch noch Geld für Reparaturen im Haushalt ansparen.
Offenbar hat man das im BMAS jedoch vergessen. So behauptete die Sprecherin ungeachtet der Realität, die monatlich gezahlte Gesamtpauschale für Betroffene enthalte "keine konkreten Beträge für bestimmte Positionen" wie etwa Strom. Das ist schon deshalb falsch, weil die Sozialhilfesätze vor allem ein fortgeschriebenes Berechnungsprodukt aus der fünfjährlich vom Statistischen Bundesamt erhobenen Einkommens- und Verbrauchsstichprobe (EVS) sind. Herangezogen werden hier die ermittelten Ausgaben von 15 Prozent für dies und das, einschließlich einige für nicht lebensnotwendig erklärte Positionen, wie etwa Zimmerpflanzen oder Malstifte für Kinder, wieder herausgerechnet.
Berechnung fernab der Realität
Die 42,55 Euro für Strom und Wohnungsinstandhaltung pro Monat spotten freilich der Realität. Viele Stadtwerke, auf die viele Arme oft angewiesen sind – zum Beispiel wegen Verschuldung –, haben ihre Preise schon verdoppelt. Wer also vorher mit 40 Euro hinkam, bezahlt jetzt um die 80 Euro. Schon das alleine verschlingt die Erhöhung der Grundsicherung fast vollständig. Da bleibt für die Teuerung fürs Essen und Bahnfahren nicht mehr viel übrig.
Die Sprecherin wiegelte ab und verwies auf die Strompreisbremse. Die tritt im März in Kraft, hat aber ihre Tücken. Der auf 40 Cent pro Kilowattstunde gedeckelte Preis liegt erstens schon rund sieben Cent über dem bereits im ersten Halbjahr 2022 stark gestiegenen, vom Statistischen Bundesamt bezifferten Durchschnittspreis. Außerdem gilt der Deckel ähnlich wie bei der sogenannten "Gaspreisbremse" lediglich für 80 Prozent der im Vorjahr verbrauchten Energiemenge.
Doch gerade arme Menschen sparen notgedrungen schon lange an allem – auch am Stromverbrauch. Weitere Einschränkungen sind für sie kaum möglich. Von dieser "Preisbremse" profitieren also vor allem Vielverbraucher mit jeder Menge Einsparpotenzial, nicht die Bedürftigsten. Andererseits nutzen arme Menschen meist veraltete Geräte, die mehr Strom verbrauchen, weil sie sich keine neuen leisten können.
Soziale Probleme vorprogrammiert
Das Ministerium ficht das nicht an. Ein Abgleich mit der Realität existiert nicht, die Leute sollen eben sehen, wie sie klarkommen. So wurde es schon mit Hartz IV gehandhabt. Die Sprecherin erklärte unbeeindruckt: "Vor diesem Hintergrund sind laufende Abschlagszahlungen sowie Nachzahlungen für Haushaltsstrom grundsätzlich aus dem monatlichen Regelsatz zu finanzieren."
Es ist also abzusehen, dass die Armen nicht nur zahlreicher, sondern auch ärmer werden. Mehr soziale Verwerfungen sind damit vorprogrammiert. Wo Armut wächst, steigt meistens auch die Kriminalitätsrate, das ist bekannt. Mit unzureichender sozialer Sicherung, jeder Menge Willkürparagrafen und Kannbestimmungen fördert die Ampelregierung das Problem nun weiter – übrigens mit Unterstützung der Oppositionsparteien CDU und AfD, die für Arme auch noch nie viel übrig hatten.
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