Von Dagmar Henn
Manchmal wünscht man sich angesichts des politischen Verhaltens westlicher Führungen die Zeiten des Kalten Kriegs zurück. Denn es gibt immer wieder Punkte, an denen mit einer Bedenkenlosigkeit agiert wird, die damals unvorstellbar gewesen wäre. Schließlich gab es eine Frage, die alles andere beherrschte: MAD, das Gleichgewicht des Schreckens, oder, wörtlich übersetzt, die gesicherte wechselseitige Zerstörung.
Wer auch immer von den beiden damaligen Supermächten eine nukleare Auseinandersetzung begonnen hätte, hätte sicher sein können, günstigenfalls als Zweiter unterzugehen. Nachdem sich einmal durchgesetzt hatte, dass dieser Zustand real ist, war klar, dass einige Dinge für beide Seiten gleichermaßen wichtig sind. So war ein gewisses Vertrauen unverzichtbar, um Fehlerquellen zu begrenzen.
Denn die Wirklichkeit dieses Zustands war, dass das reale Risiko eines Fehlalarms wesentlich höher war als das reale Risiko einer nuklearen Konfrontation, und daher gemeinsame Anstrengungen unternommen werden müssen, um dieses Risiko zu begrenzen. Die ganze dramatische Entwicklung um die Kuba-Krise genannte Entwicklung (die eigentlich eher Türkei-Krise genannt werden müsste, der Auslöser waren nämlich in der Türkei installierte US-Raketen) kreiste um einen einzigen Begriff, die Vorwarnzeit, also den Zeitraum, der zwischen einem möglichen Start nuklearer Raketen durch den Gegner und deren Einschlagzeitpunkt verbleibt. Das Problem der Vorwarnzeit ist weniger deshalb akut, weil die Zeit nicht reichen würde, um die eigene Antwort auszulösen (dafür gibt es sogenannte Totmannschalter), das Problem ist vielmehr, dass die Zeit verringert wird, um mögliche Fehler rechtzeitig zu erkennen.
Die Krise der 1960er Jahre wurde dadurch gelöst, dass die USA ihre Raketen aus der Türkei und die Sowjetunion ihre Raketen von Kuba zurückzogen. Danach wurde das berühmte rote Telefon installiert, das eine sofortige direkte Kommunikation zwischen beiden Staatsoberhäuptern ermöglichte. Dennoch kam es in den folgenden Jahrzehnten zu mehreren Beinahe-Fehlalarmen, bei denen oft die Entscheidungen einzelner Personen eine Eskalation verhinderten.
Nach 1989 wurde dann so getan, als sei die Zeit für MAD vorüber; technisch war sie es allerdings nie. Nur die politische Klasse, insbesondere der westlichen Staaten, machte sich daran, die Spielregeln des Kalten Kriegs zu vergessen, in der irrigen Annahme, dass die USA jetzt alleinige Supermacht seien und für die Zukunft selbst die Spielregeln bestimmen würden können.
Dabei sind die Voraussetzungen für MAD nach wie vor gegeben: Die USA pflegen noch immer ihre Erstschlagsdoktrin, nach der sie Atomwaffen einsetzen, wann sie es für nötig halten. Und das heutige Russland hält sich noch weitgehend an die Doktrin, der auch die Sowjetunion folgte, nicht als Erster zu solchen Waffen zu greifen, allerdings mittlerweile mit einer Einschränkung, wenn die Existenz des russischen Staates gefährdet ist.
Auf das russische Verlangen nach einer Neutralität der Ukraine reagierte der gesamte Westen allerdings mit konsternierter Verwunderung. Wie könne man nur der NATO unterstellen, dass sie sich gegen Russland richte! Die in Polen und Rumänien aufgestellten Raketen sollten nur vor dem Iran schützen, und weiterer Unfug mehr. Wenn man die Rhetorik der heutigen polnischen Regierung betrachtet, muss es nicht verwundern, dass Russland atomwaffenfähige Raketen dort als Problem sieht, gleich, mit welcher Begründung sie auch immer aufgestellt werden. Und dass eine Stationierung solcher Raketen in der Ukraine, mit einer Verkürzung der Vorwarnzeit auf weniger als fünf Minuten, absolut inakzeptabel ist.
Diese Reaktion entspricht genau dem Muster, das zu erwarten ist. Was aber ein Rätsel bleibt, ist, warum alle westlichen Staaten einhellig reagierten, diese Bedenken seien unsinnig. Und das selbst noch zu einem Zeitpunkt, als längst die Schlagzeilen vom finsteren Schurken Putin die Titelblätter der Magazine beherrschten, also die russische Seite bereits rationale Gründe hatte, zu misstrauen.
Misstrauen ist einer der Bausteine, die zu einer unbeabsichtigt gefährlichen Situation führen können. Der andere Baustein ist, wie oben bereits erwähnt, eine kurze Vorwarnzeit. Eigentlich müsste diese Konstellation – selbst jetzt noch – im Westen dazu führen, gegensteuern zu wollen, denn immerhin sind auch die bereits stationierten Raketen in Polen durch die ständige Konfrontationshaltung ein größeres Risiko als zum Zeitpunkt ihrer Installation. Schlimmer noch: Über Jahre hinweg hat sich der gesamte Westen allergrößte Mühe gegeben, noch den letzten Rest Vertrauen zu zerstören und die russische Führung davon zu überzeugen, es mit einem Haufen narzisstischer Irrer zu tun zu haben, denen schlicht alles zuzutrauen ist.
Im Koordinatensystem von MAD ist das genau die Kombination, die um jeden Preis vermieden werden muss. Nähmen wir nur einmal an, dass eine der polnischen Raketen im Rahmen eines NATO-Manövers einen Fehlstart hätte und in Richtung Russland flöge (alle Beteiligten wissen, dass sie in diese Richtung ausgerichtet sind). Die Rakete trüge keinen, genauer gesagt einen konventionellen Sprengkopf. Was würde geschehen, wenn unter den heutigen Bedingungen US-Präsident Joe Biden in Moskau anriefe, um zu erklären, sorry, Leute, das ist kein Angriff, das Ding ist nicht scharf? Würde man ihm glauben? Gäbe es einen Grund, ihm zu glauben?
Die Schäden, die in den vergangenen Jahren mit so viel Energie verursacht wurden, durch den Betrug bei Minsk II beispielsweise, ließen sich unter keinen Umständen während der Flugzeit einer Rakete aus Polen nach Russland korrigieren, nicht einmal während der Flugzeit einer großen Interkontinentalrakete. Sie zu reparieren, bräuchte Monate und Jahre.
Das wirklich Bizarre ist allerdings, dass das Risiko sich vor allem für den Westen erhöht hat. Warum? Weil für Russland das Risiko eines Angriffs seitens der USA zwar gestiegen ist, aber das Fehlerrisiko um ein Vielfaches höher ist als das eines wirklichen Angriffs. Und das Fehlerrisiko trifft logischerweise die Seite, die selbst die Angriffswahrscheinlichkeit heraufgesetzt hat. Oder, um es deutlich zu formulieren: Dank der Tatsache, dass die USA sich das Recht eines Erstschlags zuschreiben, ist das Risiko, dass sie von einem versehentlichen Zweitschlag getroffen werden, wesentlich höher, als das vergleichsweise Risiko Russlands, von einem versehentlichen Zweitschlag der USA getroffen zu werden.
Die gesamte Politik der NATO der letzten zwanzig Jahre hat also nicht nur dafür gesorgt, dass niemand in Russland mehr Aussagen aus diesen Kreisen vertraut, sie hat auch nach den Regeln, die unter den Bedingungen von MAD gelten, das Risiko für den Westen deutlich erhöht. Und das, ohne davon irgendeinen Nutzen zu haben, denn die Kontrolle über die ruinierte Ukraine ist eine Last, kein Nutzen. Noch einmal: die größte Gefahr, die von der globalen Bestückung mit Atomwaffen ausgeht, ist die eines versehentlichen Einsatzes. Hat niemand im Westen die nötigen Hausaufgaben gemacht?
Oder sind sie felsenfest davon überzeugt, dass die Sowjetunion ihre Atomwaffen niemals eingesetzt hätte, und für das heutige Russland gelte das Gleiche? Diese Vermutung übergeht allerdings, wie knapp die Menschheit in der Vergangenheit solchen Fehlern entgangen ist. Das betraf nicht nur falsche Messungen oder Fehlstarts, sondern auch die Frage des Vertrauens. Wenn das Gegenüber schon im höchsten Alarmzustand ist, ist auch die Fehlerwahrscheinlichkeit noch einmal erhöht. Ein solch gefährlicher Moment bestand während des NATO-Manövers Able Archer in den 1980er Jahren. Dank der aggressiven Rhetorik des US-Präsidenten Ronald Reagan und Handlungen wie der sogenannten NATO-Nachrüstung, die ebenfalls die Vorwarnzeit verkürzt hätte, und dem Starwars-Programm, war das Vertrauen auf null gesunken. Eine Situation, die gefährlicher war als die Kuba-Krise.
Rückblickend, in der historischen Bewertung, gibt es sogar Gründe, in Reagan – trotz der extrem aggressiven Rhetorik – einen vergleichsweise wenig aggressiv handelnden US-Präsidenten zu sehen. Ausführlicher haben das jüngst The Duran mit Robert Barnes behandelt.
Die US-Republikaner, so ein Teil der Erklärung, haben weitaus mehr Wähler, die einer interventionistischen Außenpolitik ablehnend gegenüberstehen als die Demokraten. Als weiteres Beispiel wird in diesem Video Donald Trump genannt, der einen Raketenangriff gegen Syrien im Jahr 2016, den die Briten und Franzosen bereits vorbereitet hatten, nicht nur noch um Tage hinauszögerte, sondern zusätzlich noch eine Warnung davor rausschickte. Das bedeutet allerdings auch, dass genau dieser Punkt von außen äußerst schwer einzuschätzen ist, weil die Rhetorik ihre Wirkung zeigt, lange bevor die Bewertung der tatsächlichen Handlungen möglich ist. Und natürlich gibt es auch die Kombination aggressiver Rhetorik mit aggressivem Handeln. Das ist das, was wir momentan erleben dürfen.
In der heutigen Wiederholung dieser Mischung ist es ausgerechnet die augenblickliche technologische Überlegenheit der russischen Nuklearstreitkräfte, die die Situation zumindest ein wenig entschärft. Zerstörtes Vertrauen, aggressive Rhetorik und dazu auch noch ein aktiv angefeuerter Krieg an der Grenze des Gegners, das ist unter den Regeln von MAD eine Position, die man nur noch selbstmörderisch nennen kann. Alle Bedingungen sind so gesetzt, dass das maximale Risiko aufseiten der NATO liegt, und der technologische Abstand bei Luftabwehr und Hyperschallraketen erzeugt sogar die Möglichkeit eines versehentlichen Erstschlags, auf den gar keine Antwort mehr erfolgen kann. Jedem Politiker, der nur einen Teil der Erfahrungen aus dem Zeitraum von 1960 bis 1989 noch erinnert, müssten sämtliche Haare zu Berge stehen. Stattdessen sind Merkel und Hollande auch noch stolz auf ihren Betrug und nehmen nicht einmal wahr, dass sie damit das Risiko für alle Bewohner des Westens erhöht haben.
Der Neocon-Blase, die die Washingtoner Politik bestimmt, Nuland, Kagan und Co., traut man so ziemlich alles zu, auch einen Einsatz von Atomwaffen. Leider dürfte sich niemand finden, der ihnen erklärt, dass sie damit für die USA das Risiko nicht verringert, sondern maximiert haben, und damit gegen die Sicherheitsinteressen ihres eigenen Landes agieren. Gleiches gilt für alle, die ihrer Politik folgen. Es ist überfällig, dass der Westen wieder zur Vernunft kommt.
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