"Wie konnte es nur dazu kommen?" – Enthemmter Überlegenheitsglaube ermöglichte Auschwitz

Russland wurde vom diesjährigen Gedenken an die Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau ausgeschlossen. In den Diskussionen dazu ist das Wichtigste vergessen worden: Das Nachdenken, warum es zum Krieg und millionenfachen Massenmord kommen konnte.

Von Sergei Chudijew

Der Jahrestag der Befreiung von Auschwitz am 27. Januar – und der damit verbundene Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus – wird in den sozialen Medien mit der Tatsache in Verbindung gebracht, dass Vertreter aller Länder zu den Gedenkfeiern eingeladen wurden, mit Ausnahme desjenigen Landes, das die Öfen in Auschwitz tatsächlich gelöscht hat.

Das erinnert ein wenig an die apokryphe Geschichte, in der Nadeschda Krupskaja (bereits Jahre nach Lenins Tod) gesagt wurde, die Partei werde für Lenin eine andere Witwe finden, wenn sie sich "unangemessen verhalte". Im Zusammenhang mit dem "unkorrekten" Verhalten Russlands will man im Westen nun auch KZ-Häftlingen von Auschwitz offensichtlich einen "neuen Befreier vermitteln".

Die aktuellen Ereignisse sollten uns jedoch nicht über die wahre Geschichte des Holocausts hinwegtäuschen – die gezielte Ausrottung von Juden und Roma durch die deutschen Nazis und ihre Kollaborateure in Osteuropa. Das bekannte Motto aller Antifaschisten lautet "Nie wieder!". Um ihm zu folgen, müssen wir darüber nachdenken, wie so etwas wie der Holocaust überhaupt möglich geworden ist.

"Wissenschaftlicher" Glaube an die eigene Überlegenheit

Der Mainstream unserer Zeit ist nach wie vor der Glaube an den Fortschritt – der Lauf der Geschichte bestehe darin, dass Wildheit und Barbarei unter dem Ansturm der Aufklärung unweigerlich zurückweichen und die Menschheit sich von einer düsteren Vergangenheit in eine strahlende Zukunft bewegt.

Die Deutschen der 30er Jahre des letzten Jahrhunderts waren aber kein wildes und rückständiges Volk – sie waren eines der am höchstentwickelten Völker der Erde. Sie hatten da bereits eine brillante Kultur geschaffen, die die gesamte Menschheit bis heute bereichert. Gerade deshalb sind der Nationalsozialismus und der Holocaust ein solch schmerzhaftes Rätsel – wie konnte es nur dazu kommen?

Die Ungerechtigkeit des Friedens von Versailles, die von kurzsichtigen Siegern des Ersten Weltkrieges über Deutschland verhängt wurde, kann nur eine unzureichende Antwort auf diese Frage sein. Um sich des Knebelvertrags zu entledigen, war es keineswegs notwendig, einen Genozid zu begehen – schon gar nicht an den eigenen Bürgern.

Viele Erklärungsversuche weisen auf die okkulte, neo-heidnische Komponente des Nationalsozialismus hin – sie war durchaus vorhanden. Dieses Phänomen ist besonders auffällig, weil es das ist, was die Möchtegern-Nazis in der Ukraine und anderswo in ihrer Suche nach der perversen Romantik des Nazismus besonders anzieht. Allerdings sollte man die Bedeutung des Okkulten nicht überbewerten.

Der Nazismus verstand sich in erster Linie als eine aufgeklärte wissenschaftliche Ideologie. Wie es der bayerische Minister für Bildung und Kultur zur Zeit des Dritten Reiches, Hans Schemm, zu sagen pflegte:

"Nationalsozialismus ist angewandte Biologie."

Die Rassentheorie war kein impulsiver Anfall von Wahnsinn, sondern ein anerkannter Wissenschaftszweig, der über viele Jahrzehnte heranreifte. Von den bekannten Biologen der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts war der russische Landsmann Nikolai Miklucho-Maklai praktisch der Einzige, der die dunkelhäutigen Bewohner Papua-Neuguineas für Menschen hielt, was ihm den Ruf eines Sonderlings und Querdenkers einbrachte.

Es galt als erwiesen, dass sich der Mensch allmählich von der Tierwelt absondert und die verschiedenen menschlichen Rassen die unterschiedlichen Stadien dieser Entwicklung repräsentieren. Die "teutonische Rasse", d. h. die Engländer, Deutschen, Skandinavier und ein Teil der Franzosen, wären die "Spitze der Evolution", während die Iren und Italiener "eine Stufe tiefer standen", die Slawen noch tiefer, während dunkelhäutige Menschen als "Halbaffen" betrachtet wurden. Diese Auffassung war in der westlichen Welt lange vor den Nazis weit verbreitet – die Nazis haben sie nur auf ihren konsequenten Höhepunkt gebracht.

Die Ideen der Eugenik – der künstlichen "Optimierung" der menschlichen Spezies – waren so populär, dass allein in den USA zwischen 1907 und 1981 rund 60.000 Menschen zwangssterilisiert wurden, deren Erbgut als "schlecht" eingestuft wurde. Es wurden wissenschaftliche Artikel darüber geschrieben, welcher Schaden entstünde, wenn Mädchen mit "guten Genen" eine Ausbildung genießen – anstatt umgehend wissenschaftlich ausgewählte junge Männer zu heiraten und rassisch wertvolle Kinder zu zeugen.

Die Ideen des Sozialdarwinismus wurden bereits von Darwins Zeitgenossen geäußert (Darwin selbst unterstützte sie nicht). Man ging davon aus, dass die Entwicklung der menschlichen Spezies wie in der Tierwelt durch einen rücksichtslosen Wettbewerb um die Ressourcen und das Ausscheiden der "Untauglichen" erfolge und dass die Beeinträchtigung dieses Prozesses durch die Unterstützung der Schwächeren die Entwicklung der Menschheit behindern würde.

Die Nazis haben diese bereits etablierten Konzepte aufgegriffen und in die Tat umgesetzt. Die Ausrottung der "minderwertigen Rassen" war nicht nur in ihren Augen "der Natur dienlich" – sie "mussten ohnehin auf die eine oder andere Weise aussterben".

Selbstverständlich sind sich heute alle einig, dass diese Ideen unhaltbar sind, damals aber glaubte man ernsthaft an ihre Gültigkeit und ihren wissenschaftlichen Charakter. So führte das Wissen (oder das, was die Menschen dafür hielten) ohne moralische Grundsätze zum Völkermord.

Wo waren die moralischen Grundsätze?

Die europäische Zivilisation (einschließlich Deutschlands) wurde von der biblischen Weltanschauung geprägt, die vom einzigartigen Wert jedes einzelnen Menschen spricht. Jeder Mensch ist von Gott persönlich nach einem besonderen Plan geschaffen worden, jeder hat einen geheimnisvollen Sinn im Leben, jeder trägt das Ebenbild Gottes, dem mit Achtung begegnet werden muss. Der Gott offenbart seine Gegenwart in der Person jener, die unserer Hilfe bedürfen – und unser wahres Verhältnis zu ihm zeigt sich in der Haltung, die wir ihnen gegenüber einnehmen. Zum Beispiel sollten wir uns um unheilbar Kranke kümmern, denn was wir für sie tun, tun wir für Gott.

Der Nationalsozialismus war dagegen eine kollektivistische Ideologie. Demnach war das Kollektiv (in diesem Fall die "arische Rasse") von unvergleichlich größerem Wert als das Individuum. Unheilbar Kranke, die für das Kollektiv von keinem Nutzen waren, "bedurften" der Euthanasie.

Das Christentum, jedenfalls das östliche, betont die individuelle Freiheit und Verantwortung des Menschen – man habe immer eine Wahl und man allein trage dafür die Verantwortung vor Gott. Wir treten vor Gott nicht als Angehörige von Rassen oder Nationen – sondern immer als Individuen, die in ihren Entscheidungen zeitlebens frei waren und nach dem Tod individuell Rechenschaft ablegen müssen.

Für den Nationalsozialismus gehört der Mensch einer Rasse an, einem Supra-Organismus, und seine Entscheidungen werden vom Führer für ihn und den Supra-Organismus getroffen.

Das Christentum verspricht, dass Gott diejenigen mit einem ewigen und glückseligen Leben beschenkt, die sich in Reue und mit Glauben zu ihm wenden; die kollektivistischen Ideologien bieten einen Ersatz der Unsterblichkeit an – obwohl man persönlich sterben wird, lebt das Kollektiv, die Nation, die Rasse, mit der man sich identifiziert, ewig.

Die Deutschen, die den Nationalsozialismus erlebt haben, erinnerten sich an seine verlockende, fast unwiderstehliche Versuchung – der verwirrte, einsame, gedemütigte Mensch, der mit einer mächtigen, stolzen, siegreichen "Rasse" verschmolz, in der alle Ängste, Zweifel und Gewissensbisse verschwanden.

Der Holocaust enthüllt etwas Unangenehmes und Entmutigendes über den Zustand der menschlichen Natur. Der Wunsch, sich in der Horde aufzulösen – etwas Prä-Intelligentes, fast Biologisches – ist so stark, dass er mühelos alles überwältigt. Sowohl die Kultur als auch die Religion und die Erziehung. Deshalb wird der Nazismus – in der einen oder anderen Form – immer verlockend sein. Von den Höhen der Zivilisation zu stürzen, ist sehr leicht.

Darum ist es so wichtig, an Auschwitz zu erinnern und daran, zu welchem Preis – und von wem – seine Öfen gelöscht wurden.

Übersetzt aus dem Russischen. Zuerst erschienen bei Wsgljad.

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