Von Dagmar Henn
Wenn man den Beitrag der polnischen Europaabgeordneten und ehemaligen Außenministerin Anna Fotyga zu Russland liest, ist eines unübersehbar – die Geschichte der USA stand bei ihr nie auf dem Lehrplan. Auch die mehrjährigen Aufenthalte in den Vereinigten Staaten haben sie nichts darüber gelehrt. Und weder die britische noch die französische oder gar die belgische Kolonialgeschichte scheinen ihr vertraut.
Denn ihren Artikel auf dem Portal Euractiv, der eine weitere Konferenz mit dem charmanten Titel "Das imperiale Russland: Erobern, Genozid und Kolonisierung" bewerben soll, den die Fraktion der europäischen Konservativen und Reformisten am 31. Januar in Brüssel abhält, leitet sie mit folgenden Sätzen ein:
"Ob zaristisch, sowjetisch oder von Putin geführt, Russland hat sich durch die Jahrhunderte nicht geändert. Es wird von den gleichen imperialen Instinkten getrieben und wiederholt dasselbe Schema: Eroberung, Genozid, Kolonisierung."
Es gibt ganz andere Täter auf der Liste der internationalen Verbrecher als selbst das zaristische Russland. Eben die Vereinigten Staaten beispielsweise, die mit dem Völkermord an den Ureinwohnern begannen, ihren Reichtum aus Sklaven pressten und sich durch Kriege gegen Mexiko gewaltige Flächen aneigneten. Die Kanadier, die indianische Kinder noch lange nach 1945 in Internaten quälten, ihnen ihre Sprache verboten und viele von ihnen schlicht durch Vernachlässigung ums Leben brachten, ebenso wie die Australier es mit den Aborigines taten. Oder die Belgier, die die Bevölkerung des von ihnen eroberten Kongo halbierten. Die Franzosen, die im 19. Jahrhundert Algerien eroberten, mit dem expliziten Ziel, die vorhandene Bevölkerung auszulöschen und durch französische Siedler zu ersetzen. Die Briten in Indien ...
Es ist eine wirklich beeindruckend lange und entsetzliche Liste, und jeder einzelne Staat des Westens findet sich auf ihr wieder; der einzige Grund, warum Polen nicht prominent auf ihr auftaucht, ist, dass es für eine geraume Zeit schlicht nicht als Staat existierte. Wobei die Behandlung sowjetischer Kriegsgefangener durch Piłsudski-Polen während des Russischen Bürgerkrieges durchaus um eine Position wetteifern könnte.
Nein, es ist Russland. Dem gegenüber sie zu den ganz großen Wortkeulen greift. "Wir sollten uns bewusst sein, dass Putin und seine Bande von Kriegsverbrechern nicht der Grund, sondern die Konsequenz des Problems sind, an dessen Wurzel die autoritäre und imperiale Essenz Moskaus und die Phobien der Ochrana, des KGB oder FSB sind, die den russischen Staat vor langer Zeit gekapert haben." Hat ihr eigentlich schon irgendjemand gesagt, das Felix Dscherschinski, der Gründer der Tscheka, Pole war? Und dass es keinerlei historische Belege dafür gibt, eine Kontinuität zwischen der zaristischen Geheimpolizei Ochrana und dem KGB zu behaupten?
Wer so abgrundtief hasst, dem sind historische Tatsachen gleich. Auch die, dass, wären die Nazi-Vorhaben des Generalplans Ost nicht durch die Rote Armee beendet worden, auch von den Polen nicht viel übrig geblieben wäre, denn das ihnen zugedachte Schicksal bestand darin, Arbeitssklaven und Zuchtmaterial zu liefern. Wenn sie sich jemals mit Lebensborn befasst hätte – zu dem die Entführung "arisch" wirkender polnischer Frauen zum Zwecke der Zucht blonden und blauäugigen SS-Nachwuchses gehörte ...
"Das Europäische Parlament und viele andere Parlamente rund um den Globus haben die Russische Föderation zum terroristischen Staat erklärt. Eine solche Beschreibung hat gewisse Konsequenzen. Diese terroristische Organisation sollte, auch wenn sie viele als ein Imperium sehen, zerlegt werden."
Ja, Polen hatte nach 1945 keine Entscheidungsfreiheit, welchem Block es angehören wollte. Die hatten die Italiener und die Griechen aber auch nicht, die Aufteilung fand in Jalta statt, und Griechenland wurde von Großbritannien mit einem jahrelangen blutigen Bürgerkrieg überzogen, um die kommunistische Mehrheit zu unterdrücken. Polen war schlicht der Nachbar eines Landes, das einen mühevollen, verlustreichen Krieg geführt hatte, um die Welt vom Nazismus zu befreien, und dessen Menschen unter keinen Umständen einen Feind vor der Haustür akzeptiert hätten. Ein auf Großbritannien orientiertes Polen wäre aber ein Feind gewesen. Man könnte schlicht sagen, das war der Preis, den selbst die klerikalsten Polen dafür entrichten mussten, nicht als Arbeitssklaven des Nazireichs zu enden.
"Daher sollte die Russische Föderation, wie es mit dem deutschen Dritten Reich der Fall war, als existenzielle Bedrohung der Menschheit und der internationalen Ordnung drastischen Veränderungen unterworfen werden. (...) Die internationale Gemeinschaft kann keine bequeme Stellung an der Seitenlinie einnehmen und die Entwicklungen abwarten, sondern muss kühn die Initiative ergreifen, die eine Reföderalisierung des russischen Staates unterstützt und dabei die Geschichte des russischen Imperialismus und den Respekt für die Rechte und Wünsche seiner Nationen in Rechnung stellt. Die Opfer des russischen Imperialismus sollten imstande sein, ihre eigene Staatlichkeit wieder aufzubauen, ihre Rechte auszuüben, ihr Erbe zu feiern und ihre eigene Zukunft zu bestimmen."
Man möchte sich fast instinktiv fragen, ob unter ihren Vorfahren polnische Kollaborateure waren. Die gab es nämlich auch, nicht zu knapp; insbesondere, wenn es gegen die jüdische Bevölkerung ging. Denn einmal abgesehen davon, dass sie als gute Katholikin, die sie bestimmt ist, wissen sollte, dass die lateinische Vorsilbe re- wieder bedeutet, eine Reföderalisierung der Russischen Föderation ein weißer Schimmel ist, ein Wiederaufbau eigener Staatlichkeit (engl. rebuild) voraussetzt, dass da bereits eine Staatlichkeit war – das, was Frau Fotyga da vorschlägt, könnte ebenso gut dem Reichsministerium für die besetzten Ostgebiete entstammen, genauer, der Feder eines Gerhard von Mende, der in dieser Behörde für die Betreuung muslimischer Kollaborateure zuständig war (eine Tätigkeit, die er übrigens unter Konrad Adenauer fortsetzte). Auch die Nutzung tschetschenischer Islamisten gegen Russland durch die USA stand in dieser Tradition.
Die ganze Rhetorik vom "Völkergefängnis", derer sich die anstehende Konferenz bedient, stammt so direkt von der Antikommunistischen Weltliga, in der sich ein John McCain jahrzehntelang mit allerlei Vertretern dieser ehemaligen Nazifreunde traf, seien es nun Krimtataren, Ukrainer oder Litauer; eine Vereinigung von NS-Nostalgikern, die man Ende der 1970er bereits für ein Relikt aus vergangenen Tagen gehalten hätte, wenn – ja wenn nicht viele Teile dieser eingefrorenen Zelle einer finsteren europäischen Vergangenheit nach dem Ende der Sowjetunion an allen nur denkbaren Punkten wieder aufgetaucht wären und ihr Gedankengut zur staatlichen Ideologie gemacht hätten, wie eben im Baltikum und der Ukraine.
Eigentlich ist das selbst mit den vatikanischen Interessen nur begrenzt zu vereinbaren, auch wenn noch vor der Lenkung dieses Gemischs durch die Nazis ein Amalgam aus dem vatikanischen Geheimdienst mit jenem des Hauses Habsburg stand; aber es wäre nicht auszuschließen, dass Fotyga, die schon Auslandssprecherin der Solidarność und enge Vertraute der Kaczyński-Zwillinge war, zum Opus Dei gehört, gewissermaßen dem faschistischen Flügel des Vatikan, dem Orden, der zur Unterstützung Francisco Francos gegründet wurde, und dem größere Teile der katholischen Hierarchie Polens angehörten und vermutlich immer noch angehören.
Immerhin, sie verbirgt nicht, was sie eigentlich lockt:
"So etwas wie russisches Gas, Öl, Aluminium, Kohle, Uran, Diamanten, Korn, Wälder, Gold etc. gibt es nicht. All diese Ressourcen sind tatarisch, baschkirisch, sibirisch, karelisch, oiratisch, tscherkessisch, burjatisch, sachalisch, uralisch, nogaisch etc. Für die meisten Bewohner der Regionen – seien sie ethnische Russen oder eingeborene Völker – steht Moskau nur für Krieg, Repression, Ausbeutung und Hoffnungslosigkeit."
Haben wir noch ein paar Rohstoffe vergessen? Es erinnert irgendwie doch an den alten Spruch "Wie haben die Araber es nur gemacht, dass unser Öl unter ihrem Land liegt?" Die Strategie ist mehr als durchschaubar. Je kleiner und wehrloser das Land, desto leichter ist es, sich seine Rohstoffe anzueignen, am besten für lau. Oder gegen Glasperlen.
Mit den Tatsachen hat das Bild, das sie von Russland zeichnet, allerdings wenig zu tun. Im Gegensatz zu vielen anderen europäischen Ländern hat selbst das Russische Kaiserreich die Bewohner der Gebiete, die es noch im 19. Jahrhundert erobert hatte, nie auszurotten versucht. In der sowjetischen Zeit machten viele dieser Regionen sogar einen gewaltigen Sprung nach vorne. Sprachen, die nie eine Schrift entwickelt hatten, wurden verschriftlicht und in Lehrpläne eingebunden. Die Kultur wurde gefördert, die Religion nie zwangsweise vereinheitlicht (die letzte europäische Hexenverbrennung fand 1807 in Masuren statt, also im heutigen Polen). Die heutige russische Armee hat neben orthodoxen Feldgeistlichen auch Imame, Lamas und Schamanen zur Betreuung der Truppen.
"Die Auflösung der Sowjetunion war eine Katastrophe für Putin und seine KGB-Kollegen. Für die Balten, Ukrainer und Georgier, aber ebenso für Kasachen oder Kirgisen war sie ein Segen." So geht das, wenn man den Eifer über den Blick auf die Fakten stellt. Alle demografischen und ökonomischen Faktoren bestätigen, dass die Auflösung der Sowjetunion nur für eine sehr begrenzte Zahl von Menschen ein Segen war – für jene Handvoll, die sich größere Teile des Volkseigentums unter den Nagel reißen konnten. Für die Ukraine? Subjektiv mag die aktuelle Propaganda dort noch dafür sorgen, dass diese Sicht vorherrscht. Objektiv ist es kein Segen, von der reichsten Sowjetrepublik auf die Position des ärmsten Lands Europas abzustürzen.
Aber Fotygas Fantasien haben zum Glück eine Voraussetzung, die sie selbst benennt und die weit davon entfernt ist, Wirklichkeit zu werden. Sie gelten nämlich nur, wenn die Russische Föderation "endgültig besiegt" ist. Zurzeit sieht es eher so aus, als würde das wirkliche Imperium untergehen, das US-amerikanische, in das sie so verliebt ist, und damit für ganze Kontinente endlich die Zeit anbrechen, in der sie selbst über ihr Schicksal entscheiden – Afrika und Lateinamerika beispielsweise, wo sie wenige Freunde finden wird mit ihrem Wunsch, Russland im US-Interesse zu verurteilen.
Irgendwann werden auch polnische Politiker lernen müssen, sich mit ihren Nachbarn zu verständigen und mit ihnen in Frieden zu leben, statt ständig den Blick auf vermeintliche Freunde auf fernen Inseln zu richten. Man kann Länder nicht auf andere Kontinente beamen, also werden die polnischen Nachbarn auch künftig Deutschland und Russland heißen. Und wenn die USA eines mit ihren britischen Ahnen gemein haben, dann die Neigung, Verbündete schnell fallen zu lassen. Aber noch hält Fotyga das Eis, auf dem sie steht, für soliden Boden.
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