Von Anton Gentzen
Dass sich mit Amtsantritt des neuen "woken" Chefredakteurs Tomasz Kurianowicz bei der Berliner Zeitung einiges ändern würde, haben alle erwartet. Die widerspenstigen Ostdeutschen, die nach wie vor den Abonnentenstamm dieser traditionsreichen Ostberliner Tageszeitung bilden, müssen schließlich auf NATO-Linie und allgemein auf den Zeitgeist von heute getrimmt werden. Das war wohl für die Eigentümer der offensichtliche Grund für die aus Sicht der Leser überaus schräge Personalie. Dass es gleich nach wenigen Monaten so faustdick kommen würde, hat dann doch niemand erwartet.
Ausgerechnet aus Anlass des jährlichen Gedenktags an die Befreiung des NS-Vernichtungslagers Auschwitz durch die Rote Armee erschien in der Berliner Zeitung am 27. Januar ein Bericht über das frühere Außenlager Jamlitz. Die Verbindung zum Auschwitz-Gedenken wird auch dadurch unterstrichen, dass Jamlitz schon im Titel als "kleines Auschwitz" bezeichnet wird.
Der Ort Jamlitz liegt rund 100 Kilometer südöstlich von Berlin mitten in den ausgedehnten Wäldern Brandenburgs, irgendwo auf halber Strecke zwischen Frankfurt an der Oder und Cottbus. 1943 wurde in dem Dorf das Konzentrationslager Lieberose (benannt nach einem nahegelegenen größeren Ort), ein Nebenlager des KZ Sachsenhausen, eingerichtet. Es diente der Errichtung eines größeren Militärkomplexes in der Gegend. Auch in Auschwitz wurden Zwangsarbeiter für Jamlitz-Lieberose rekrutiert.
Insgesamt gingen in den zwei Jahren seines Bestehens rund 10.000 Häftlinge durch das Nebenlager. An manchen Tagen starben bis zu 30 Menschen an Krankheit, Unterernährung und harten Arbeitsbedingungen. Wer nicht mehr arbeitsfähig war, wurde in das KZ Auschwitz-Birkenau zurückgebracht und dort ermordet, bis zu 4.000 Unglückliche gingen diesen Weg.
Auch 1945, die Befreier standen schon an der Oder, hatte das Morden in Jamlitz kein Ende: Jetzt kamen die berüchtigten Todesmärsche und schließlich im Februar die gewaltsame "Auflösung" des Lagers. Die Berliner Zeitung widmet diesem Kapitel nicht ganz die Hälfte ihres Artikels, wobei sie bei dem Wort "Auflösung" die Anführungszeichen vermeidet:
"1500 Menschen wurden auf einen Todesmarsch nach Sachsenhausen getrieben. Die in zwei sogenannten Schonungsblocks zurückgebliebenen mehr als 1300 Menschen erschossen die Wächter zwischen dem 2. und 4. Februar 1945 und verscharrten sie in Massengräbern. Eines wurde gefunden, vom zweiten mit etwa 700 Menschen fehlt jede Spur."
Das ist im Grunde auch die einzige Erwähnung der NS-Verbrechen in dem Artikel. Fast hat es den Anschein, als sei er auch nur geschrieben worden, um Schatten auf die DDR und die dort praktizierte Erinnerungskultur zu werfen. Der erste und bislang einzige antifaschistische Staat auf deutschem Boden lässt einigen eben auch 32 Jahre nach seinem Ende keine Ruhe, vor allem jenen, die nach 1989 geboren wurden.
So schlägt die Autorin das nächste Kapitel der Zeit- und Ortsgeschichte auf:
"Eine Erklärung (für das angebliche Vergessen in der DDR – d. Red.) liegt auf der anderen Seite des Weges, der links von der Straße aus Lieberose abgeht und durch eine kleine Siedlung zum Gedenkort führt. Östlich dieses Weges erinnern Informationstafeln an das sogenannte Speziallager Nummer 6. Kaum war das KZ aufgelöst, rückte die Rote Armee ein. Im September 1945 richtete die sowjetische Geheimpolizei in den übernommenen KZ-Baracken eines jener Lager ein, in das überwiegend kleine Nazis mit niederen Funktionen kamen, um sie 'aus der Gesellschaft zu isolieren', wie Andreas Weigelt ihre Funktion beschreibt. Zehn solcher Lager existierten in der sowjetischen Besatzungszone. Das Jamlitzer bestand bis April/Mai 1947. Von insgesamt 10.300 Insassen verloren hier mindestens 3380 Menschen ihr Leben."
Echt jetzt, Berliner? "Kleine Nazis in niederen Funktionen"?
Muss tatsächlich daran erinnert werden, dass Hitler, Goebbels, Göring, Himmler und all die anderen "großen Nazis in höheren Funktionen" keineswegs eigenhändig mordeten und brandschatzten? Für die Drecksarbeit hatten sie ebenjene Subjekte in niederen Rängen, von der Berliner Zeitung verniedlichend als "Menschen" bezeichnet. Ohne die millionenfache Gefolgschaft hätte es kein NS-Regime, keinen Weltkrieg, kein KZ Auschwitz-Birkenau und keine Nebenstelle in Jamlitz gegeben. Ohne sie wären die "großen Nazis in höheren Funktionen" ein zwar ekelerregender, aber praktisch harmloser Debattierklub gewesen, schlimmstenfalls eine schnell auszuräumende Terrorzelle. "Kleine Nazis in niederen Funktionen" machten das Hirngespinst erst zum real mordenden Regime.
Waren es denn nicht "kleine Nazis in niederen Funktionen", die so kurz vor Kriegsende "auf der gegenüberliegenden Seite des Weges" 1.300 Menschen aus den "Schonungsblocks" erschossen haben, wie du selbst berichtest, Berliner Zeitung? Und ich soll jetzt Mitleid mit ihnen haben, die ein überaus gerechtes Schicksal ereilt hat, falls sie zu den "Todesopfern" in "Speziallager Nummer 6" zählten? Ich soll mich darüber empören, dass die Sowjetunion wenigstens etwas Vergeltung und Sühne (und damit Gerechtigkeit) über Mörder und ihre Mitläufer gebracht hat? Darüber, dass sie diesen Abschaum "in niederen Funktionen" aus der Gesellschaft isolieren wollte? Soll ich auch noch vergessen, dass Deutschland insgesamt viel zu glimpflich davon kam, angesichts von 60 Millionen Toten in sechs Jahren Krieg und nach allem, was das "deutsche Wesen" in der Sowjetunion angestellt hat?
Dieses Glimpfliche, Berliner, war Gnade, nicht Recht. Recht war das, was im "Speziallager 6" und in anderen sowjetischen Speziallagern geschah. Wobei, bei genauerer Betrachtung und gemessen an biblischen Gerechtigkeitsmaßstäben, selbst das immer noch Gnade gewesen ist.
Ich werde Jamlitz besuchen. Ich werde auf der einen Seite des Weges, dort, wo die "Schonungsblocks" einst gestanden haben, trauern. Und dann werde ich auf die andere Seite des Weges gehen. Dort stoße ich mit jedem an, der dabei sein will: Auf den nächsten Sieg über den deutschen Nazismus. Über alle "kleinen Nazis in niederen Funktionen".
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