Das Schuld-Mysterium: Unrecht gegen Russland durch Unrecht gegen Deutschland

Deutschland taumelt 80 Jahre nach Stalingrad erneut wie betrunken in einen Krieg gegen Russland hinein. Wie kann das sein, wenn die deutsche Gesellschaft offensichtlich weder logistisch noch mental für irgendeine Kriegsführung gerüstet ist? Die Antwort sitzt in Washington, D.C..

Von Kopekenstudent

In seinem letzten Roman "Die Brüder Karamasow" unterbreitet Dostojewskijs Alter Ego, der Geistliche Starez Sossima, kurz vor seinem Tod seinen Zuhörern die Erkenntnis, dass jeder an den Sünden aller mitschuldig sei. Dabei ist der Gedanke der Mitschuld aller an den Sünden aller einerseits zu groß, als dass ein Mensch ihn fassen könnte. Andererseits scheint er Dostojewskijs Überzeugung der individuellen Verantwortung des menschlichen Gewissens vor Gott, ohne die seine Romane gar keinen Sinn ergäben, zu widersprechen. So bleibt nur die Möglichkeit, dass Dostojewskij einen Blick in die Wahrheit eines Mysteriums werfen konnte. Die rasant fortschreitenden Entwicklungen in der Auseinandersetzung Russland vs. Ukraine und kollektiver Westen – besonders die Entscheidung der Bundesregierung, der Ukraine nun doch Panzer (und demnächst womöglich sogar Kampfjets und anderes) zu liefern – lüften indes zumindest ein wenig diesen Schleier. Sie geben damit einen Blick in eben jenes Mysterium der gegenseitigen Schuld-Anteile preis.

Die meisten der Analysten, die an der Eskalation keine Freude haben, stimmen darin überein, dass Deutschland 80 Jahre nach Stalingrad erneut wie betrunken doch wieder in einen Krieg taumelt, dessen Schauplätze wie damals – also kein gutes Omen – die Weiten der ukrainischen und südrussischen Steppenerde sind. Militärexperten sehen Russland logistisch, technologisch und mental gut aufgestellt. Es verteidigt seine Freiheit und hat diese noch nie durch einen von außen angreifenden Feind verloren. "Vaterländischer Krieg" heißt in Russland der Krieg gegen Napoleon, der gegen Hitler war der "Große vaterländische Krieg". Man wird nach einer weiteren angemessenen Steigerung suchen müssen, um eine Bezeichnung für den derzeitigen Krieg zu finden. Denn die Erkenntnis, dass es diesmal wirklich um alles geht, wird sich in Russland nach den jüngsten Verlautbarungen aus dem Westen durchsetzen.

Deutschland – dazu muss man kein Militärexperte zu sein – ist dagegen weder logistisch noch mental für diesen Krieg gerüstet, weder für diesen noch für sonst irgendeinen. Welcher Wahn diese Bundesregierung reitet, sich einem solchen "Abenteuer" zu verschreiben, kann man nur vermuten. Im transatlantischen Westen existieren längst konkrete Pläne für die Aufteilung Russlands. Möglich wäre, dass Deutschland auf ein besonders schönes Stück vom russischen Kuchen hofft. Ein ergiebiges Erdöl- oder Gasfeld, ein paar Millionen Hektar Schwarzerde etwa? Dann wäre nach 80 Jahren doch noch der angestrebte "Raum im Osten" gewonnen – wenn auch sicher als Dauerpacht von der NATO oder den USA zu beziehen, als deren regionaler Gebietsverwalter Deutschland dann eine ähnliche Pseudosouveränität ausüben dürfte, wie zwischen Rhein und Elbe seit jeher als Bundesrepublik.

Womit wir beim Punkt wären: Nicht-Souveränität. Die deutsche Tragödie, die eine Folge großen Unrechts ist, wurde und wird nun zur Tragödie der ganzen Welt. Sie beginnt – natürlich – mit dem Diktat von Versailles. Darüber, dass absurd hohe Reparationsleistungen, das erzwungene Eingeständnis der Alleinschuld Deutschlands und die Demütigung der Bevölkerung durch Besatzungstruppen und Nachbarstaaten die böse Saat waren, die Hitler und den Zweiten Weltkrieg hervorbrachte, besteht heute weitgehend Konsens. Leider hat man aus der Geschichte nichts gelernt. Auch wenn es den Anschein hat, ein so folgenschwerer, erneuter Fehler hätte vermieden werden sollen, so ist Deutschland seit 1945 doch ein Gebilde unklarer Definition geblieben.

Das nächste Unrecht heißt Re-Education. Es zielte auf die mentale Transformation eines ganzen (also der größeren Hälfte eines geteilten) Volkes ab, auf dass dieser Teil in Zukunft sein Heil allein jenseits des Atlantik suchen möge. Dort zog man sich auch das entsprechende Führungspersonal für die deutsche Kolonie heran. Die Bevölkerung wurde darauf trainiert, sich moralisch als die extremste Negativ-Auslese der gesamten Menschheitsgeschichte zu begreifen. So zog der Selbsthass in die Köpfe vieler Deutscher ein. Infolgedessen sind sie heute – umso mehr, nachdem sich letzte Rückzugsgefechte wie der sogenannte Historikerstreit aus Altersgründen der Beteiligten gelegt hatten – eine über die moralische Stellschraube gut steuerbare Gesamtheit, die man – von wenigen Renitenten abgesehen – durch den Waffenverbund aus Medien und Bildungssystem in jede gewünschte Richtung treiben kann. Solange diese Richtung nur einen moralischen Anschein hat, bemühen sich die Deutschen, ihr zu folgen, um sich immer wieder unablässig reinzuwaschen von ihrer großen Schuld. Dabei ging es den neuen eigenen Herren der Deutschen, die sogar bevorzugt deutsche "Altlasten" bei sich integrierten, in Wirklichkeit nie um jegliche Schuld und Reinwaschung. Sie kennen weder Moral, Freunde noch Verbündete. Sie kennen – in ihren eigenen Worten – nur "Interessen". Und im Spiel dieser Interessen war den Deutschen eine Rolle zugedacht.  

Ihre Fähigkeit, Technologien auf Weltniveau zu erschaffen, erwies sich dabei sogar lange als Schutz. Die Deutschen wurden gebraucht. Kombiniert mit der Deutschen Nicht-Souveränität wird ihnen genau diese Eigenschaft heute aber zum Fallstrick: Sie müssen weiter "liefern", und zwar gegen das ihnen zum Feind befohlene Russland.

Der klischeehafte Deutsche folgt seinem Führer bekanntlich länger als jeder andere: Stichwort Nibelungentreue, Stichwort Generalfeldmarschall Paulus. So leider auch heute: Der neue Führer – der "Große Bruder" in Washington, D.C. – entließ Deutschland 1990 nicht aus seiner bequemen Feudalherrschaft. Das rächt sich nun. Es rächt sich an den Deutschen, die nie ihre volle Souveränität verlangten (oder darüber belogen wurden). Es rächt sich an Russland als Erbe der Sowjetunion, die damals und danach mehrfach vom Westen getäuscht wurde (oder sich täuschen ließ). Und es wird sich an der ganzen sogenannten "westlichen Wertegemeinschaft" rächen. Denn immer, wenn Deutschland in den Abgrund blickt, wird es auch in den anderen Ländern finster. 

Der Wunsch, Deutschland müsse weiterhin besetzt bleiben, wurde flankiert von Propaganda, die behauptete, ein freies, souveränes und wiedervereinigtes Deutschland würde erneut zur Gefahr für die Welt. Heute sehen wir, dass gerade ein unfreies, nichtsouveränes Deutschland eine Gefahr ist (und sich selbst in existenzielle Gefahr bringt) – und zwar weil es nicht frei ist, weil es nicht für sich selbst und seine eigenen Interessen entscheiden darf. 

Es darf weder frei entscheiden, wer seine bevorzugten Handelspartner sind, noch darüber, mit wem es auch weiterhin in Frieden leben möchte. Es darf nicht entscheiden, wem es Waffen liefert und wofür. Es darf nicht entscheiden, ob ein drittes Land auf seinem Gebiet auf ewig Militärbasen unterhält und von diesen aus Kriege in aller Welt und auch wieder in Europa führt. Sollte 2023 also ein sehr unerfreuliches Jahr für große Teile der Welt werden, dann muss man – um der Wahrheit willen – anerkennen: All dies ist auch eine Folge von Zusammenhängen, die mit der heutigen Lage vordergründig anscheinend nichts zu tun haben. Tatsächlich aber zog das vor 104 Jahren begangene Unrecht jenes von vor 84 Jahren nach sich. Das Unrecht als Reaktion auf dieses wiederum wirkt in Gestalt von "Ramstein Air Base" und erzwungenen deutschen Waffenlieferungen bis heute nach, bringt Leid in alle Welt (nicht nur in die Ukraine) und ist ein großer Faktor im Unrecht gegen Russland. Dostojewskij hatte recht: Wenn Deutschland also an den Sünden gegen Russland beteiligt ist, dann deshalb, weil sich andere Staaten an Deutschland versündigt haben. Und im Übrigen nicht Russland, seit es wieder Russland ist, nicht.  

Putin weiß um diese Zusammenhänge und scheint seine bisherigen Entscheidungen davon hat leiten lassen. Ob dies bei einem anderen Präsidenten auch der Fall wäre, darüber möchte man im Moment eher nicht gern nachdenken.

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