Von Anton Gentzen
Wer verstehen will, wie – nicht der verschwörungstheoretisch mystifizierte, sondern der ganz reale und banale – der tiefe Staat funktioniert, dem sei der britische BBC-Serienklassiker aus den 1980er Jahren mit den wechselnden Titeln "Yes Minister" und "Yes Prime Minister" (deutscher Titel "Yes, Premierminister") empfohlen. Auf lehrreiche und zugleich unterhaltsame Art wird dort der eher wenig erfolgreiche Kampf des ambitionierten und populistischen Politikers Jim Hacker gegen "seinen" Regierungsapparat nachgezeichnet.
Salami-Taktik und "The last resort"
Nachdem am Ende der dritten Staffel Hacker von den Beamten (jawohl, von ihnen und von niemand sonst) dank seiner ihn überaus qualifizierenden Eigenschaften wie sehr oberflächliche Intelligenz, Inkompetenz, Steuerbarkeit und Eitelkeit zum neuen Regierungschef des Vereinigten Königreichs bestimmt wird, spielt sich in der ersten Folge der vierten Staffel nachfolgender Dialog zwischen dem frisch in die Downing Street eingezogenen Hacker und einem Sicherheitsberater ab.
Sicherheitsberater: "Premierminister, Sie glauben an die nukleare Abschreckung?"
Hacker: "Oh ja!"
S.: "Warum?"
Hacker: "Weil sie ... abschreckt."
S.: "Wen?"
Hacker: "Die Russen, von einem Angriff auf uns."
S.: "Warum?"
Hacker: "Weil sie wissen, dass, wenn sie einen Angriff starten, ich den Knopf drücken würde."
S.: "Würden Sie?"
Hacker: "Wenn alle Stricke reißen, ja." (Verunsichert:) "Sicherlich würde ich. Ich denke, ich würde sicherlich. Ja ..."
S.: "Und wo genau reißen alle Stricke?"
Hacker: "Wenn die Russen kurz davor sind, Westeuropa zu überfallen."
(...)
S.: "Sie müssen sich keine Sorgen machen! Warum sollten die Russen ganz Europa annektieren? Die haben ja nicht einmal Afghanistan im Griff. Nein, wenn die Russen irgendwas unternehmen, dann wird es eine Salami-Taktik sein."
Hacker: "Salami-Taktik?"
S.: "Scheibe für Scheibe. Ein kleines Stück nach dem anderen. Auch... Würden Sie den Knopf drücken, wenn die Russen Westberlin überfallen?"
Hacker: "Es kommt darauf an ..."
S.: "Gut. Nehmen wir an, die Russen haben bereits Westdeutschland, Belgien, Holland, Frankreich überfallen und besetzt. Nehmen wir an, ihre Panzer haben den Ärmelkanal erreicht. Nehmen wir an, sie sind dabei, nach England herüberzusetzen. Ist das der Punkt, wo alle Stricke reißen?"
Hacker: "Nein."
S.: "Warum nicht?"
Hacker: "Wir führen doch den nuklearen Krieg, um uns zu verteidigen. Wie können wir uns verteidigen, wenn wir Selbstmord begehen?"
S.: "Was ist denn dann die rote Linie, an der alle Stricke reißen? Piccadilly? Die Autobahnraststätte in Watford? Das Bordell 'Horns Strip Bar'?"
So weit der fiktive Dialog des fiktiven Jim Hacker mit seinem fiktiven Sicherheitsberater. Doch im realen Russland dieser Tage stellen immer mehr Menschen die letzte Frage daraus ihrem realen Präsidenten:
"Wladimir Wladimirowitsch, was sind Ihre roten Linien, an denen alle Stricke reißen? Der Moskauer Autobahnring? Der Arbat? Der Borowizki-Turm des Kremls?"
Der Westen schätzt Putin falsch ein, auf fatale Weise
Schlimmer noch: Die Entscheidungsträger im kollektiven Westen scheinen sich den Dialog aus der Comedy-Serie doch tatsächlich zur Handlungsanweisung gemacht zu haben. Ganz im Sinne der dort beschriebenen Salami-Taktik rückt man Russland an den Leib, überwindet eine "rote Linie" nach der anderen, schickt erst Helme, dann Haubitzen und schließlich Kampfpanzer samt Personal an den Kriegsschauplatz in der Ukraine.
Heute sind wir "Scheibe für Scheibe, ein kleines Stück nach dem anderen" in eine Situation geraten, die im Verhältnis zu einer nuklearen Macht absolutes Tabu war, ist und immer sein wird. Russland wird nun auf sowjetischem Territorium, knappe 200 Kilometer von Stalingrad entfernt, vom kollektiven Westen, der in der gesamten Ukraine nicht das Geringste zu suchen hat, bedrängt. Amerikanische Raketen töten täglich russische Soldaten und Zivilisten, auch Kinder. Demnächst werden es – was nach 1945 sich niemals hätte wiederholen dürfen, egal wie richtig oder falsch Russland handelt – auch deutsche Panzer tun. Bundesaußenministerin Annalena Baerbock hat vor wenigen Tagen öffentlich verlautbaren lassen, man befinde sich im Krieg gegen Russland. Und nur dem Umstand, dass auch in Russland längst bekannt ist, dass das Sprachzentrum dieser Dame über keine unbeschädigte Synapsenverbindung zu anderen Teilen ihres Hirns verfügt, ist zu verdanken, dass Moskau dies nicht als offizielle Kriegserklärung aufgefasst hat.
Wir müssen leider anhand all dieser Entwicklungen nüchtern feststellen, dass die russische nukleare Abschreckung nicht mehr wirkt. Ihr fehlt in den Augen der westlichen Eliten offenbar die nötige Glaubhaftigkeit. Ein Beispiel aus der aktuellen Presse. Die Welt lässt einen Experten zu Wort kommen:
"Das Risiko eines Nuklearkriegs ist derzeit unglaublich gering."
Was für ein verantwortungsloser Irrglaube!
Warum ist sich der Westen so sicher, axiomatische rote Linien im Verhältnis zur Atommacht Russland folgenlos überschreiten zu können? Liegt es an einer durch psychologische Profile des russischen Präsidenten vermittelten Sicherheit, er werde unter keinen Umständen den "roten Knopf" drücken?
Ja, Wladimir Putin ist – und das wissen die westlichen Eliten bestens, auch wenn sie in der für ihr jeweiliges Volk bestimmten Propaganda gerne das Bild eines kaltblütigen Mörders zeichnen – alles andere als ein blutrünstiger Diktator. Genauso wenig will er einen nuklearen Schlagabtausch, ob mit oder ohne Vernichtung der Menschheit. Das steht ihm in der Tat ins Gesicht geschrieben.
Doch niemand im Westen soll sich täuschen: Wladimir Putin ist nicht Jim Hacker. Er ist nicht einmal Michail Gorbatschow. So viele Chancen der aktuelle russische Präsident dem Frieden in der Ukraine und den Minsker Verträgen auch immer wieder und immer wieder aufs Neue gegeben hatte, vor bald einem Jahr kam schließlich doch der Punkt, an dem er sich dem lange Weggeschobenen stellte.
Der öffentliche Druck wächst
Genauso könnte es kommen, wenn es um die Wiederherstellung der Abschreckungswirkung der russischen Triade geht: Der öffentliche Druck auf den Präsidenten steigt in Russland von Tag zu Tag spürbar an. Der wichtigste Talkshowhost des staatlichen Fernsehsenders Rossija Wladimir Solowjow spricht im Studio und in Interviews offen über mögliche Szenarien eines nuklearen Warnschusses. Stellungnahmen von Bloggern und Meinungsführern werden mit jedem zivilen Opfer im Donbass schärfer und fordernder. Meinungsumfragen zeigen eine immer klarere Mehrheit für ein härteres und auch risikoreicheres Vorgehen gegen die "geopolitischen Partner". Der Druck wächst und summiert sich zu einem Chor:
"Der durchgeknallte Westen braucht einen Warnschuss vor den Bug, um Russlands Sicherheitsinteressen wieder ernst zu nehmen und russischem Leben mit der gebotenen Achtung zu begegnen? Er sollte ihn bekommen."
Der Westen sollte sich auch nicht in der Hoffnung ergehen, dass die Geduld des russischen Volkes und die Geduld seines Präsidenten auch dieses Mal für sieben oder acht Jahre reichen werden. Die Situation ist eine andere. Es sterben russische Staatsbürger. So offen wie jetzt war der Westen bis 2022 nicht in den Konflikt involviert. Die Mehrheit der Russen ist inzwischen der Meinung, dass man sich im Krieg mit dem "kollektiven Westen" befindet und die Ukraine nur dessen willfähriger Handlanger ist. Der Westen selbst hat alle Masken abgeworfen.
Ein mögliches Szenario für einen "Gamechanger"
Fest steht, die Einmischung des Westens in den russisch-ukrainischen Konflikt ist schon jetzt viel zu weit gegangen. In russischen Diskussionen besteht noch keine Bereitschaft, Europäern oder Amerikanern einen größeren Schaden zuzufügen. Die Rede ist bislang "nur" von einem Warnschuss, einem "Gamechanger", der die Glaubhaftigkeit der russischen nuklearen Abschreckung wiederherstellt.
In den Vorstellungen der russischen Strategen sollte dieser dasjenige geopolitische Subjekt, das die tatsächlichen Entscheidungen trifft, zur Vernunft bringen. Es ist kein Geheimnis, dass darunter die USA verstanden werden, denen ihre jederzeitige Verwundbarkeit eindringlich und öffentlichkeitswirksam vorgeführt werden soll.
Zweitens, es soll nur ein Warnschuss sein. Er muss daher so gesetzt werden, dass er keinen einzigen Menschen tötet. Auch sonst sollten die Folgen für die Umwelt und die Infrastruktur möglichst gering sein.
Lasst eure Entrüstung woanders ab!
Bevor Deutschland sich über die russische Zivilgesellschaft empört: Es ist nicht Russland, das im abtrünnigen Texas ein blutrünstiges antiamerikanisches Regime aufbaute und bewaffnete. Es ist der kollektive Westen, der mitten ins russische Herz stach und in Russlands weichem Bauch ein tödliches russophobes Krebsgeschwür pflanzte. Jeder einzelne getötete russische Soldat und jeder einzelne getötete Zivilist in Donezk sind eine rote Linie, die der Westen überschritten hat.
Genau dafür, dass kein einziger Soldat fallen und kein einziger Zivilist unter Himars-Beschuss sterben muss, haben Atommächte Atomwaffen, heißt es unter den Befürwortern dieses Kurses. Haben wir vergessen, wie die USA auf die bloße Stationierung russischer Raketen auf Kuba reagierten? War Kennedy da nicht sogar zu weitaus mehr bereit als nur zu einem Warnschuss in die Wüste? Warum also müssen Russen, insbesondere die Einwohner von Donezk und Lugansk, die dort seit Generationen leben, seit Zeiten, als noch niemand das Wort "Ukrainer" kannte, es dulden, auf dem eigenen Territorium ermordet zu werden?
Noch kann das Abrutschen in das nukleare Szenario vermieden werden. Indem die EU und die NATO sich aus der Ukraine, wo sie nichts zu suchen haben, zurückziehen. Die Zeit für richtige Entscheidungen wird immer knapper.
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