Reportage von Andrei Polonski
Gorlowka, eine Trabantenstadt von Donezk und das größte Industriezentrum im Donbass, befindet sich seit April 2014 an der Frontlinie. Seine gesamte Geschichte ist eine Geschichte des Widerstands. Seit nunmehr neun Jahren nehmen die ukrainischen Truppen Gorlowka und seine Bewohner ins Visier, ohne zwischen militärischen Zielen und Zivilisten zu unterscheiden.
Nach Gorlowka kamen wir für einen Tag – wir mussten den Soldaten und Zivilisten Hilfslieferungen übergeben, von Hand zu Hand. Wir fuhren von Donezk aus los und nahmen einen Umweg durch Makejewka und Jenakijewo, der uns ein paar Stunden kostete. Der gerade Weg, der etwa vierzig Minuten dauert, ist immer noch unsicher.
Allerdings wird dort bereits die Straße repariert: Am Werk sind Baumaschinen aus dem Kusnezker Becken, der sibirischen Bergleute-Region, die die Schirmherrschaft über die Frontstadt übernommen hat. Und es wurden bereits mehrere Kilometer Asphalt nach modernen russischen Standards verlegt – ohne die geringste Unebenheit, eben wie ein Spiegel. Wenn die Verkehrsregeln und -zeichen es zuließen, könnte man leicht 180 fahren. Der Wiederaufbau des Donbass ist also im Gange, niemand wartet dafür auf das Ende des Krieges. Vor dem Hintergrund des ständigen Beschusses ruft dies mindestens Respekt hervor.
Die Straße auf dem Weg, auf dem umherzuschlenkern wir gezwungen waren – von Jenakijewo nach Gorlowka –, ist völlig zerstört. Das ist in der heutigen Volksrepublik Donezk erstaunlicherweise eine Seltenheit. Der erste Gedanke ist natürlich, dass wir es mit einem Erbe des Krieges zu tun haben. Doch die Bewohner von Gorlowka klärten uns auf: Es stellte sich heraus, dass die kaputten Straßen eine übliche ukrainische Angelegenheit sind – und so denn auch von der Kiewer Regierung vererbt wurden.
Ein anderes Beispiel: So wurde nach Angaben des Bürgermeisteramtes in den Jahren der ukrainischen "Unabhängigkeit" in Gorlowka kein einziges Wohnhaus gebaut – Kiew pumpte nur Geld aus der Arbeiterstadt ab. Und die heutigen städtischen Behörden haben natürlich keine Gelegenheit, Straßen zu bauen, aus naheliegenden Gründen. Anna Anatolijewna Stawizkaja, Leiterin des Stadtbezirks Zentralny, sagt:
"Sichere Orte gibt es bei uns nicht."
In nur einer Woche in der zweiten Dezemberhälfte, also einige Tage vor unserer Ankunft, gab es mehrere Angriffe auf zivile Gebäude mit HIMARS-Mehrfachraketenwerfern. Die Feinde hatten das Rodina-Hotel auf dem zentralen Platz anvisiert – zum Glück verfehlten sie es und trafen lediglich den Parkplatz; noch früher griffen sie ein zweistöckiges Wohngebäude an, zerstörten den Haupteingang und töteten eine Großmutter. Eine zweite Großmutter wurde von Freiwilligen aus den Trümmern gerettet; und schließlich trafen sie die Aula des Kulturpalastes "Schachtjor" (dt.: "Der Bergarbeiter"). Es war 11 Uhr morgens, und der Direktor des örtlichen Theaters, mehrere Schauspieler und die Empfangsdame unterhielten sich gerade im Foyer. Von ihnen wurde niemand verletzt.
Erstaunliche Effektivität der hochpräzisen US-Waffen bei der schweren Arbeit, zivile Viertel zu beschießen. Anna Anatolijewna zeigt uns auch einen Splitter einer US-amerikanischen Flugzeugrakete, der aus der Wand herausgerissen wurde – direkt gegenüber vom Kinderbett, in dem ein kleines Mädchen schlief. Leider sind die obigen Beispiele nicht einmal die tragischsten.
Und so geht es Tag für Tag, Woche für Woche, Monat für Monat, achteinhalb Jahre lang. Dennoch lebt und funktioniert die Stadt. Die öffentlichen Verkehrsmittel fahren, in den Häusern ist zwar die Fließwasserversorgung ausgefallen, aber die Zentralheizung funktioniert und hält warm. Sogar der Straßenbahnverkehr geht weiter – samt dem Linienverlauf wie vor dem Krieg ...
***... Im Prinzip müsste man ja jeden, der behauptet, der Krieg habe mit Russlands militärischer Spezialoperation am 24. Februar 2022 begonnen, zumindest für einen Tag nach Gorlowka bringen. Und den Spaziergang am Rudakow-Platz beginnen, am Denkmal der Madonna von Gorlowka – der 23-jährigen Kristina Schuk und ihrer zehn Monate alten Tochter Kira, die am "Blutsonntag", dem ukrainischen Beschuss vom 27. Juli 2014, auf einem Platz im Stadtzentrum ums Leben kamen.
Die Ukrainer beschossen an jenem Tag von 18 Uhr bis in die Nacht hinein zivile Viertel Gorlowkas. Eine Einwohnerin bezeugt:
"Wir wussten nicht, dass wir in solchen Fällen auf den Boden fallen müssen. Dann haben wir uns daran gewöhnt und gelernt."
22 Zivilisten wurden ermordet, und 40 weitere wurden verwundet und verletzt. Kristina blieb trotz Blutung aus ihrem zerfetzten rechten Bein noch einige Minuten nach der Explosion am Leben, das kleine Mädchen war sofort tot. Die Mutter drückte ihren dem Leben entrissenen Sonnenschein an ihre Brust und wiederholte immer wieder:
"Meine kleine Kira, Kira! ... Töchterchen!! "
So wurden sie gefunden, Mutter und Kind. Ein weiteres Todeszeugnis und ein weiteres Zeichen der Liebe ...
In Kneipen der Westukraine soll unter dem Namen "Madonna von Gorlowka" ein Cocktail serviert werden, irgendetwas nach der Art einer Bloody Mary.
Heute steht an der Stelle, an der Kristina und Kira ermordet wurden, ein Denkmal und in der Mitte des nahegelegenen begrünten Stadtplatzes eine Kapelle. An diesem Ort sollte jeder sogenannte Kriegsgegner unter den russischen Liberalen persönlich befragt werden, medienöffentlich, alle schön nach einer Namensliste und unter lauter Nennung des Namens:
Wann hat der Krieg begonnen?
Und:
Woher kommt der Hass?
In Gorlowka gibt es ein weiteres Denkmal für die ermordeten Zivilisten – an der Siegesallee in der Stadtmitte. Das sind Steintafeln, nacheinander aufgereiht – und auf jeder von ihnen stehen Namen, in kleiner Schrift und eng beieinander. Ich fing zunächst zu zählen an, verlor den Überblick und dachte, dass die Zahlen hier keine Bedeutung mehr machen.
... In den immer noch nicht geräumten Trümmern eines Wohnhauses, das in der zweiten Dezemberhälfte von einem US-amerikanischen HIMARS-Mehrfachraketenwerfer zerschmettert wurde (die Einschlagsgenauigkeit betrug diesmal 100 Meter – denn in der Nähe steht ein ganzer Block an Einfamilienhäusern), waren zwei Bücher in den Kleinschutt gepresst. Ich habe sie aufgehoben. Das eine war ein Englisch-Lehrbuch mit russisch-englischem Wörterbuch, das andere war "Wie man Wald-Erdbeeren sammelt".
***
... Auf Russland wurde hier schon lange gewartet – zu lange. Und endlich ist Russland gekommen. Anna Stawizkaja, Leiterin des Zentralny-Bezirks von Gorlowka, erinnert sich:
"Seit acht Jahren haben wir davon geträumt. Und selbst unter Beschuss gingen die Menschen persönlich zum Referendum, in einem nicht endenden Strom – obwohl jeder auch die Möglichkeit hatte, von zuhause abzustimmen. Das war ein Gefühl von Glück, die pure Freude."
... Serjoscha, ein 26-jähriger Mann aus Slawjansk, eher kleinwüchsig, schnell, fröhlich, frei – ein Typ, wie sie hervorragende Fußballer, vor allem Flankenstürmer abgeben – ist Milizkämpfer seit 2014 und jetzt Berufssoldat in der DVR-Armee, zeigt den Willen zu militärischer Zurückhaltung:
"Ich glaube, dass wirklich alles nach Plan läuft. Hätten wir sofort unsere volle Stärke gezeigt, hätten sich unsere wirklichen Feinde, die US-Amerikaner und der kollektive Westen, so verängstigt, dass sie es nicht ausgehalten und einen Atomkrieg begonnen hätten. Aber auf diese Weise werden wir allmählich uns das Unsere holen, die Welt retten und den Sieg erringen."
Wir hatten gerade an einer Kreuzung in Jenakijewo einen Kaffee getrunken, bevor jeder seinen eigenen Weg einschlug. Wir standen neben einem Sportzentrum, wo das übliche Training lief. Serjoschas Augen funkelten, und er konnte sein Lächeln kaum zurückhalten – obwohl er sich bemühte, seine ernste und erwachsene Miene aufzusetzen, wie es sich einem Mann geziemt, der acht Jahre seiner Jugend für den kommenden Sieg hingegeben hat. Und wieder einmal dachte ich: Wir sind unbesiegbar.
... Wenn man den Donbass verlässt, wird einem unweigerlich komisch zumute, dass man abreist, während sie bleiben – um die gemeinsame Sache im Namen aller zu machen. Der Donbass zeigt uns allen eine unglaubliche Tapferkeit, eine bodenständige menschliche Standhaftigkeit, von deren bloßen Existenzmöglichkeit man im seicht dahinfließenden Strom des Lebens so leicht vergisst.
Der Donbass hingegen träumt von harten Maßnahmen. Er versteht nicht, wie ein namentlich bekannter Mann, der Bestände der russischen Armee ausverkaufen ließ, mit einem Rücktritt davonkommen kann. Als freier Mann herumlaufen. Und wie jemand anderes in einem Restaurant in Frontnähe ein Festmahl veranstalten, durch seine ausgesprochene Prominenz ukrainischen Raketen anziehen und ihnen so seine Mitmenschen aussetzen kann. Oder wie lange die militärische Obrigkeit beim Einquartieren von Rekruten kriminellen Schlendrian walten lassen kann – ohne Konsequenzen für ihr eigenes Leben, ja noch nicht einmal für ihre Karriere ...
Auch sieht man, wie todmüde der Donbass ist. Müde von dem langen achtjährigen Krieg, vom bürokratischen Ballast und – weitaus mehr noch – von den Leuten, die aus dem gemeinsamen Unglück Profit schlagen wollen oder mit dem Krieg PR machen ...
... Auf dem Rückweg aus Gorlowka nach Donezk, als ich im dichten Nebel über verworrene Umgehungsstraßen umherkurvte, verfolgte mich ein einziger, sehr einfacher Gedanke. Es geht nicht einmal darum, dass Russland natürlich für Donezk, für Lugansk, den Donbass sein sollte – denn es ist ja unser Land, unsere Menschen, unsere Heimat. Sondern Sache ist, dass sich der Donbass (vor allem Donezk) seit fast neun Jahren vor Russland gestellt hat und für Russland seinen Mann steht – damit Russland auch Russland bleibt und nicht zu einem formlosen Etwas verkommt, bar der Ehre und des historischen Gedächtnisses.
Übersetzt aus dem Russischen. Zuerst erschienen bei Wsgljad.
Andrei Polonski ist ein russischer Schriftsteller, Dichter und Essayist, Literaturübersetzer und Historiker. Schreibt regelmäßig Kommentare für zahlreiche russische Medien.
Mehr zum Thema – Donbass-Bewohner zum schwelenden Krieg: "Angriff der Ukraine für uns ohne Russland unaufhaltbar"