"Krieg und Frieden" oder doch "Der Krieg und die Welt"?

Lohnt die erneute Lektüre des Tolstoi-Klassikers "Krieg und Frieden" aus dem Jahre 1868? Bei Betrachtung von zurückliegenden Kriegsereignissen bis hin zur Ukraine-Eskalation stellt sich die Autorin anhand weiterer Literaturverweise die Frage, ob der Krieg nicht als ein schlichter Bestandteil der menschlichen Zivilisation betrachtet werden sollte.

Von Dr. Karin Kneissl

Vor vielen Jahren hatte ich mit der Lektüre von Leo Tolstois Epos "Krieg und Frieden" begonnen. Vielleicht war ich damals zu jung, vielleicht erschien mir dieser voluminöse Roman, der in der Zeit der Napoleonischen Kriege spielt, antiquiert. Einer meiner Neujahrsvorsätze für 2023 lautete, diesen Roman endlich aufmerksam zu lesen. Und indem ich mir gemeinsam mit meiner geduldigen Russischlehrerin das Original nun Absatz für Absatz mit neuen Vokabeln erarbeite, bin ich von der Aktualität der Dialoge bereits auf den ersten Seiten fasziniert.

Es geht um Europa, um Verrat – übrigens der Österreicher – um tiefsitzenden Argwohn und die Einsamkeit der Mächtigen. In manchen Passagen des Romans wähne ich mich nicht im Jahr 1805, sondern vielmehr in unserer Epoche. Das Wort "mir" bedeutet in der russischen Sprache sowohl "Friede" wie im Titel des Buches als auch "Welt". Wissenschaftliche Abhandlungen wurden verfasst, worin denn die eigentliche Stoßrichtung des Schriftstellers bestand. Tolstoi arbeitete Jahrzehnte an diesem Opus, in dem er ein Bild vom Leid auf dem Schlachtfeld, aber auch der vielen zeitlosen Charaktere und damit ein gleichsam universales Sittenbild zeichnet. Manche reden nur über den Krieg und erteilen moralische Lektionen, wie auf einem Ball in Sankt Petersburg, doch kennen den Krieg nicht. Auch das erinnert an Zeitgenossen.

Nehmen wir an, dass Tolstoi den Titel bewusst so gewählt hat, um den Krieg als eine Konstante der Menschheitsgeschichte, also unserer Welt, darzustellen. Die Gesellschaft seiner Zeit lebte mit dem Krieg. Und so taten es die nachfolgenden Generationen. Das "kurze blutige 20. Jahrhundert", wie es der Soziologe Eric Hobsbawm nannte und damit die Ära von 1914 bis 1989 meinte, war von Kriegen geprägt. Den beiden großen totalen Weltkriegen gingen "relativ kleine regionale" Kriege voraus. Vor 1914 waren dies die zahlreichen Kriege auf dem Balkan, aber auch Konflikte im Pazifik. Dem Zweiten Weltkrieg, der offiziell am 1. September 1939 begann und auf den europäischen Schlachtfeldern im Mai 1945 mit der Kapitulation Deutschlands endete, ging der Spanische Bürgerkrieg voraus.

Sie waren allesamt Stellvertreterkriege, wie es auch der Ukraine-Krieg ist, in den NATO-Truppen, die ukrainische Armee und die russische Armee sowie russische Söldnertruppen involviert sind. Im aktuellen völligen Schwebezustand tüfteln viele bereits an der nächsten großen Konfrontation, die sie zwischen den USA und China vermuten. Manche weltfremden Kommentatoren meinen, der Krieg sei zurück. Doch war der Krieg je weg? Waren die letzten Jahrzehnte in Europa frei von Krieg und reich an Frieden, wie es gerne heraufbeschworen wird? Da waren doch Massaker auf dem Boden des ehemaligen Jugoslawiens, und in Irland tobte ein blutiger Konflikt.

Der Krieg als der Vater aller Dinge

Der griechische Philosoph Heraklit hat diesen Ausspruch geprägt und damit die Gestaltungskraft von Kriegen, Revolutionen und anderen militärischen Umbrüchen knapp und klar formuliert. Wer je die Ilias von Homer gelesen hat, möchte meinen, dass es nach der Belagerung von Troja keinen Krieg mehr gegeben hat. Zu groß war das menschliche Leid, das noch über Generationen hinweg in den Familien der Überlebenden nachwirkte. Doch jener lange Krieg hinterließ nicht nur sein literarisches Erbe, sondern verschob auch die Geschichte vom östlichen Mittelmeer in das westliche, später von Rom dominierte Imperium. Unsere Geschichtsbücher drehen sich vor allem um all die Kriege auf den europäischen Schlachtfeldern, von denen die Religionskriege des 16. und 17. Jahrhunderts wohl zu den brutalsten Kriegen der Menschheitsgeschichte zählen. Mit den Jahrhunderten der Bürgerkriege in China, die wiederum das chinesische Sensorium zugunsten des Zentralstaats mitprägten, befassen wir uns in Europa meist nicht, von den Kriegen auf dem afrikanischen Kontinent ganz zu schweigen. Der europäischen Aufmerksamkeit entgingen die Millionen Toten im Kongo Ende der 1990er Jahre ebenso wie die letzten Jahre des Gemetzels in Äthiopien.

Der israelische Autor Azar Gat veröffentlichte im Jahr 2006 sein Buch "War in Human Civilization", dessen wesentliche Thesen der britische Historiker Ian Morris mit seinem provokanten Buch "War! What is it good for?" ("Krieg! Wer braucht ihn?") weiter ausführte und vom militärwissenschaftlichen Niveau auf ein kurzweiliges Sachbuch herunterbrach. Der Grundtenor beider Werke lässt sich sehr verkürzt wie folgt beschreiben: Kriege hätten die Menschheit technisch wie auch gesellschaftlich immer wieder vorangebracht.

Über eine solche These lässt sich vortrefflich streiten, denn man kann dagegenhalten, dass die besten Köpfe an der Spitze in den Kampf marschierten und starben, dass Rohstoffe verheizt wurden, die für andere Zwecke nützlicher gewesen wären, dass das Leid unermesslich war und ist.

Der Krieg als Teil der menschlichen Zivilisation

Wenn wir also akzeptieren, dass der Krieg zur menschlichen Zivilisation gehört wie die Literatur, dann müsste auch dem aktuellen Kriegsgeschehen etwas abzugewinnen sein. Der Krieg beschleunigt meines Erachtens all das, was bereits zuvor im Gange war. Dazu gehören Entwicklungen wie geopolitische Verschiebungen. Ich unterrichte seit 20 Jahren das Thema Energiemarkt und weise seitdem darauf hin, dass Pipelines nach Osten drehen. Die Veränderungen im Weltwährungssystem, also das Brechen des US-Dollar-Monopols im Rohstoffhandel, fügen sich hier ebenso ein. Vor rund 18 Jahren, als ich mich erstmals damit befasste, war der US-Dollar als Weltleitwährung unantastbar. Viele Staaten des Südens lassen sich nicht mehr von US-Sanktionen beeindrucken, es findet gewissermaßen eine geopolitische Emanzipation statt.

Und was ist mit dem menschlichen Elend, das auf dem Staatsgebiet der Ukraine nicht 2022 begann, sondern viel früher und für das sich kaum jemand in den westlichen Kapitalen interessierte? Wir wiederholten in den EU-Hauptstädten gleichsam im religiösen Ritual Bekenntnisse zu Abkommen, die täglich verletzt wurden. Auch ich nahm an diesen Ritualen bei vielen bilateralen Treffen teil und versuchte dazwischen, von den österreichischen Vertretern bei der OSZE, der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, die eine große Mission in der Ostukraine durchführte, zu erfahren, wie es um den Alltag der Menschen bestellt war.

Was neben dem täglichen menschlichen Leid in den Kampfzonen erschreckt, ist die plötzliche Kriegsbegeisterung von Millionen Menschen, die vom Sofa aus über soziale Medien ebenso den Krieg befeuern, wie die deutsche Bundesregierung offenbar nach dem grünen Motto arbeitet: Wer Frieden will, muss Waffen liefern. Die Diplomatie ist ins Koma gefallen, es geht nur mehr um Munition, Nachschub, Ausbildung der ukrainischen Armee durch die NATO.

Es wurde in den letzten Jahren nicht nur die Außenpolitik militarisiert, es hat sich sehr vieles brutalisiert: die Sprache, der zwischenmenschliche Umgang, auch in diplomatischen Begegnungen, und letztlich die internationale Politik, die sich nun wieder durch militärische Ergebnisse auf dem Schlachtfeld definiert – so der Hohe Beauftragte der EU Josep Borrell.

Wenn nun am Freitag die NATO neuerlich über die Lieferung von Kampfpanzern berät, wenn die EU-Kommissionspräsidentin auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos öffentlich private Investoren auffordert, sich am Krieg in der Ukraine zu beteiligen und damit ein europäische Söldnerwesen im Stile der historischen Condottieri fast fordert, dann muss man leider einsehen, dass der Krieg in Windeseile alle Bereiche der Gesellschaft aufwirbelt.

Ob sich dieser Irrsinn am Ende dann in Literatur formulieren lässt, wie es Michail Bulgakow mit seinem Buch "Die Weiße Garde" oder Boris Pasternak in "Doktor Schiwago" über viele menschliche Tragödien einfängt, bezweifle ich. Es wurde zum Krieg, von Homer über Grimmelshausen bis Bertolt Brecht und immer wieder den großen Tolstoi meines Erachtens schon alles gesagt. Wenn dann die totale Erschöpfung eingetreten ist, wird so mancher ernüchtert fragen: Wie kam es bloß dazu?

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