Von Wladislaw Sankin
Auf dem jüngsten Waldai-Forum sagte Wladimir Putin, nur Russland könne der Garant für die ukrainische Staatlichkeit und Unabhängigkeit sein. Aus der Perspektive des westlichen Narrativs über den dort sogenannten "russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine" klingt diese Äußerung paradox, aber nur auf den ersten Blick. Im Gegensatz zum kollektiven Westen unterhält Russland weltweit keine Marionetten-Regime und verhandelt mit den anderen Staaten stets diplomatisch und auf Augenhöhe. Gleichberechtigung in den internationalen Beziehungen ist die Basis des russischen außenpolitischen Konzepts, das für Drittländer damit eine echte Alternative zur westlichen Hegemonie darstellt. Mit diesem Ansatz will und kann Russland vor allem in den Augen der nichtwestlichen Welt punkten.
Auf der anderen Seite ist Russland derzeit das einzige Land auf der Welt, dessen Territorium sich unaufhaltsam vergrößert, ungeachtet der negativen Reaktionen in der UNO und des Widerstandes im Westen, und einzig zwar auf Kosten der ehemals bereits russischen Gebiete in der Ukraine, die im Zuge der Auflösung der Sowjetunion von einem gemeinsamen Staatsgebilde abgespaltet wurden. Als Alternative zur Gleichberechtigung bietet sich also künftig für die Ukraine gleich die komplette Aufnahme in das eigene Staatsgebiet an. Dazwischen gibt es nichts. Kein Kolonial-Regime und kein mittelalterlich hierarchisches System der Statthalter für den Souverän, das sich die USA und deren Satelliten in den letzten Jahrzehnten immer mehr zu eigen machen.
Aber die Vorstellung, dass Russland imstande sein würde, im Zuge eines "Blitzkriegs" statt des Selenskij-Regimes in Kiew eine prorussische Regierung installieren zu können, war entweder die Folge eigener politischer Naivität im Kreml oder einfach eine diplomatische List. Auch wenn Russland wollte, kann es das nicht, dafür fehlt Moskau das über Jahrzehnte ausgebaute Handwerkszeug und politische Knowhow in Gestalt der unzähligen Institutionen wie Stiftungen, NGOs, Think Tanks, Medien, Beratergremien, Lobbyvereine und sonstigen Strukturen. Da dies alles die Erfindungen des Westens zum eigenen Machterhalt sind, bleiben sie auch nur in dessen Händen effizient.
Aber Russland ist nicht nur Kreml und nicht nur Moskau. Es ist vor allem eine Zivilgesellschaft, die sich im Zuge der militärischen Auseinandersetzung mit der vom Westen auf- und ausgerüsteten Ukraine (wozu dann auch die militärischen Niederlagen zählen) entwickelt hat und sich nun – dank der humanitären Initiativen, Unterstützung der Front, Medien- und Bloggeraktivität – ebenfalls zu einem Akteur der russischen Politik entwickelt hat.
Diese Zivilgesellschaft bringt auch ihre Erwartungen an die russische Außenpolitik klar zum Ausdruck: Bitte keine halbe Sachen mehr, ein Staat unter dem Name "Ukraine" ist ein gescheitertes Projekt, ein Fehler, wozu nun das weit verbreitete Internet-Meme 404 für die Bezeichnung der Ukraine steht. Demzufolge könnten die Ukrainer ihre Eigenständigkeit sogar innerhalb eines russischen Vielvölkerstaates noch besser bewahren als heute. "Nehmen wir auch die ukrainische Sprache mit, überlassen wir sie nicht den Nationalisten", sagt dazu ein russischer Schriftsteller.
Nun kann man im Kreml also keine Alleingänge mehr machen. Einer der Alleingänge, die diese Z(ivil)-Gesellschaft (nennen wir sie mal so) befürchtet, ist das künftige Gewährenlassen eines ukrainischen Staates nach möglichen Friedensverhandlungen mit dem heutigen Selenskij-Regime.
Am Montag hat der ehemalige ukrainische Oppositionelle und Multimillionär Wiktor Medwedtschuk einen ausführlichen Artikel mit seiner Sicht auf die Ukraine-Krise in einer russischen regierungsnahen Internet-Zeitung veröffentlicht (RT hat den Text ins Deutsche übersetzt). Kurz zuvor wurde ihm von Selenskij die ukrainische Staatsbürgerschaft entzogen und sein Eigentum beschlagnahmt. Seit April war der Politiker inhaftiert und kam erst durch einen Gefangenenaustausch im September frei. Dafür musste Russland eine größere Zahl hochrangiger Asow-Nazis aus der Haft entlassen. Als Medwedtschuk verhaftet wurde, reiste seine Frau Oksana nach Moskau und bat die russische Regierung, bei der Freilassung ihres Mannes zu helfen. So kam es dann am Ende auch.
Das hatte Gründe, denn Medwedtschuk ist ein Veteran der ukrainischen Politik – und Wladimir Putin ist der Pate seiner Tochter. Aus der Kreml-Sicht wäre er der "bessere" ukrainische Präsident, weil Medwedtschuk viele Dinge in der internationalen Politik ähnlich sieht wie Putin. Beide sind etwa im gleichen Alter und beide haben Jura studiert. Putin könnte es wohl genauso formulieren, wie Medwedtschuk heute den Beginn ukrainischer Unabhängigkeit im Jahre 1991 bewertet:
"1991 erhielt die Ukraine ihre Unabhängigkeit nicht als Folge eines nationalen Befreiungskampfs, sondern nach einer Vereinbarung mit Moskau."
"Vereinbarung" ist ein juristischer Begriff. Eine solche könnte infolge ihrer Verletzung durch eine der Parteien von der anderen Partei für ungültig erklärt werden. Mit der Verwandlung der Ukraine in ein Anti-Russland und NATO-Dickdarm hat die Ukraine ihr Versprechen gebrochen, ein Russland freundlich gesinnter Staat zu sein. Und der freche Bruch des Minsker Abkommens, den Kiew mit Unterstützung durch die westlichen Mitunterzeichner begangen hat, kommt erschwerend hinzu. Die Gründung des ukrainischen Staates im Jahre 1991 ist schon deshalb aus Moskauer Sicht ungültig.
Die Frage bleibt also: Wie soll Moskau denn nun mit der ukrainischen Staatlichkeit verfahren, während die Armeen in schweren Kämpfe stehen? Medwedtschuk schlägt vor, eine politische Sammelbewegung zu gründen, die um die Macht in der jetzigen Selenskij-Diktatur kämpfen müsste.
"Vielleicht sollten die Ukrainer, um ihr Land zu retten, damit anfangen, ihre eigene Demokratie zu bilden und ihren eigenen Zivildialog ohne westliche Betreuer zu initiieren, deren Verwaltung schädliche und zerstörerische Folgen hatte. (...) Das heißt, man sollte eine politische Bewegung gründen aus denjenigen, die nicht aufgegeben haben, die ihre Überzeugungen aus Angst vor Tod und Gefängnis nicht verleugnet haben, die nicht wollen, dass ihr Land zum Schauplatz für geopolitische Auseinandersetzungen wird."
Dass er sich selbst als Anführer dieser Bewegung sieht, ist wohl ganz klar. Genauso klar ist aber auch, dass er die Ukraine künftig nicht als einen Teil Russlands betrachtet, sondern als einen neutralen oder zumindest tendenziell russlandfreundlichen Staat. Die derzeitige Militäroperation erwähnt er mit keinem Wort, auch nicht den Verlust der vier ukrainischen Gebiete Lugansk, Donezk, Saporoschje und Cherson. Das ist aber nicht nur einfach realitätsfern. Diese Nichtbeachtung grenzt an eine peinliche Realitätsleugnung.
Klar ist aber auch, dass Medwedtschuk die Veröffentlichung seines Artikels zuvor mit dem Kreml abgestimmt hat. Das kann man auch zwischen den Zeilen aus dem Statement des Kremlsprechers Dmitri Peskow ganz gut herauslesen. Er wisse nicht, ob Putin den Artikel schon gelesen hat, sagte er auf eine Frage der Journalisten nur wenige Stunden nach dessen Veröffentlichung. "Aber er verbreitet sich rege in den Medien und weckt zweifellos großes Interesse", fügte er wohlwollend hinzu.
Auf die Frage, ob Putin nach seiner Freilassung mit Medwedtschuk kommuniziert hat oder wo sich überhaupt der ehemalige ukrainische Abgeordnete jetzt aufhält, sagte Peskow: "Diese Frage lasse ich unbeantwortet."
Also stellt sich zwar der Kreml nicht hinter den Artikel, lässt aber durch solch eine Veröffentlichung die Reaktionen testen. Und damit auch die Resonanz auf das von Medwedtschuk vorgeschlagene politische Projekt, das eine staatliche Existenz der Ukraine weiterhin vorsieht.
Eine ganze Schar von Experten, Journalisten, Meinungsführern und militärerfahrenen Telegram-Bloggern haben den Medwedtschuk-Aufsatz am Montag und teilweise noch am Dienstag kommentiert. Und wie? Gefühlte 90 Prozent fallen negativ und kritisch aus, obwohl Medwedtschuk viele richtige Dinge sagt, wie einer der bekanntesten Militärkorrespondenten Alexander Kots anmerkt. Aber derselbe Kots bringt die in der russischen Z-Gesellschaft vorherrschende Meinung lapidar zum Ausdruck:
"Wir brauchen seit dem 24. Februar keine demokratische oder loyale Ukraine mit einer uns wohlgesinnten politischen Bewegung mehr. Genug ist genug. Zu oft haben wir uns darauf verlassen. Auch auf Medwedtschuk an der Spitze der "Oppositionsplattform für das Leben". Was wir heute brauchen, sind die Leiter der "neuen Regionen" der Russischen Föderation, die ihre Bestimmungen klar und deutlich im Regelwerk der Verfassung sehen, das die Abtretung jeglicher russischer Territorien verbietet. Und je mehr solcher Regionen es gibt, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit des Friedens. In diesem Sinne ist die Spezialoperation eine reine Antikriegsaktion."
Sein Kommentar auf Telegram gehörte mit einer Million Zugriffen zu den meist geteilten zu diesem Thema, und das wurde sicherlich im Kreml aufmerksam zur Kenntnis genommen. Kots sitzt nun auch als Mitglied im Menschenrechtsrat beim russischen Präsidenten und ist damit so etwas als ein ehrenamtlicher Regierungsbeamter. Aber er bleibt immer noch – und vor allem – ein Journalist, der im Kriegsgebiet auf den ehemaligen ukrainischen Territorien einen Großteil seiner Zeit verbringt. Und indem er als "wir" im Namen vieler redet, hat sich Kots damit das Recht erstritten, nun mitzubestimmen, was das ganze Land braucht und was nicht. Das ist allein erst seit dem Februar 2022 möglich geworden.
In schwierigen Jahren von Umbrüchen in der russischen Geschichte war es ausgerechnet die Zivilgesellschaft, die im Endeffekt den Eliten diktiert hat, was zu tun ist und was nicht. So war es beispielsweise auch im Jahre 1612, als Fürst Posharskij und der Kaufmann Kosma Minin eine Volkswehr in Nischni Nowgorod gebildet und mit ihrem eigenen Geld bewaffnet haben, um die polnischen Besatzer aus dem Moskauer Kreml zu verjagen. Auf korrupte Eliten war damals kein Verlass mehr.
Heute sind es wieder die Polen, aber mit ihnen auch die Briten, US-Amerikaner, Deutsche, Tschechen, Niederländer und viele andere aus dem Westen, die russische Ukrainer zum Kampf gegen Russland anstacheln. Das ist die Stunde der Wahrheit, der Wahrheit in einer rohen und widrigen geopolitischen Realität.
In den widrigen Zeiten kommt es immer auf das Volk an, seinen Willen, seine Moral und Standfestigkeit. Und was sagt das russische Volk heute nun? Es reicht. Die Vorstellung, dass die Ukraine wie bisher als eigenständiger Staat ein guter Nachbar sein kann, hat sich als naiv und schädlich erwiesen. Vom lebensgefährlichen Bazillus des Nazismus, der sich in der Ukraine eingenistet hat, kann man dieses Land nicht mehr mit rein politischen Mitteln heilen. Er kann nur dann vertrieben werden, wenn man in der Wohnung die Fenster öffnet und gründlich lüftet. Russland ist gerade dabei, dies niemandem mehr zu überlassen, sondern diese Aufgabe selbst zu erledigen. Und zwar als der ehemalige Garant für die ukrainische Staatlichkeit, der es sich nun anders überlegen musste.
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