Von Bernd Murawski
Als ehemaliges Mitglied des einflussreichen deutschen Ethikrats ist Reinhard Merkel eine bekannte Persönlichkeit. Daher war zu erwarten, dass seine eher moralisch als juristisch begründete Kritik an der ukrainischen Kriegspolitik im medialen Mainstream eine Protestwelle auslöste. Sein unter dem Titel "Verhandeln heißt nicht kapitulieren" am 28. Dezember 2022 in der FAZ veröffentlichter Artikel befindet sich hinter einer Bezahlschranke, kann aber bei Karenina kostenfrei gelesen werden. Dem Text sind Kurzkommentare von sechs Kritikern vorangestellt, offenbar um Merkels Position im Vorfeld zu desavouieren.
Reinhard Merkel sieht Russland als Aggressor, der gegen das Völkerrecht verstößt. Daraus leitet er ein "naturgegebenes Recht" der Ukraine auf Selbstverteidigung ab, das durch Artikel 51 der UN-Charta gedeckt ist. Hierbei gelten für ihn zwei moralische Grenzen: "Erstens das Risiko eines Nuklearkrieges und zweitens ein unerträgliches Missverhältnis zwischen den Zielen der Selbstverteidigung und deren Kosten an menschlichem Leben und Leid – nicht nur der Zivilbevölkerung, sondern auch der Soldaten."
Das Recht auf Selbstverteidigung
Ehe seine Ausführungen einer näheren Betrachtung unterzogen werden, bleibt festzuhalten, dass er das von Russland und den Donbass-Republiken reklamierte Selbstverteidigungsrecht schlicht übergeht. Der Kreml legitimiert seine "militärische Spezialoperation" mit der Abwehr einer Bedrohung durch die NATO-Staaten. Frühere Zusagen wurden nicht eingehalten, Abrüstungsverträge gekündigt und das Militärbündnis immer näher an die russischen Grenzen gerückt. Mit der Übernahme der Ukraine wolle die NATO zum entscheidenden Schlag ansetzen. Ihr Ziel sei es, das russische Kernland aus nächstmöglicher Entfernung mit Marschflugkörpern erreichen zu können.
Die Donbass-Republiken berufen sich auf die 2014 in den gesamten Oblasten abgehaltenen Referenden, bei denen für eine Abspaltung vom ukrainischen Zentralstaat votiert wurde. Zwar verstieß die Sezession gegen die ukrainische Verfassung, jedoch gelang das Kiewer Regime selbst durch einen Verfassungsbruch an die Macht. Es war daher nicht legitimiert, die Entscheidung der Donbass-Bürger für ungültig zu erklären.
Das Minsker Abkommen war ein Kompromiss beider Konfliktparteien, wobei Deutschland, Frankreich und Russland als Garantiemächte fungierten. Durch die Zustimmung des UN-Sicherheitsrats erhielt das Vertragswerk völkerrechtlichen Status. Jedoch sabotierte die Ukraine dessen Umsetzung und weigerte sich, mit den Vertretern des Donbass zu verhandeln. Nachdem sich ebenfalls die westlichen Garantiemächte von Minsk II lossagten, sahen sich Donezk und Lugansk berechtigt, gemäß dem ursprünglichen Mandat ihrer Bürger die Kontrolle über die gesamten Oblaste zu übernehmen. Dabei erhielten sie die Unterstützung Russlands.
Ob Art und Umfang des russischen Militäreinsatzes für diese Zwecke geeignet und als verhältnismäßig anzusehen waren, kann unterschiedlich beurteilt werden. Wenn Reinhard Merkel nun aber Russland als alleinigen Aggressor sieht, folgt er dem westlichen Narrativ und blendet die zugrundeliegenden Motive und Handlungen aus. Den Völkerrechtsbruch Kiews ignoriert er ebenso wie die Zurückweisung der sicherheitspolitischen Initiative Russlands durch die NATO und die USA sowie die verstärkten ukrainischen Angriffe auf den Donbass Mitte Februar 2022.
Die Schutzverantwortung der Regierung
Zurück zu Merkels Überlegungen. Vor dem Hintergrund eines historischen Rückblicks stellt er fest, dass das Motiv "gerechter Kriege" heute keine Gültigkeit mehr hat. Aus völkerrechtlicher Sicht ist einzig das Recht auf Selbstverteidigung zulässig: "Das Völkerrecht hat die Legitimation militärischer Gewalt entmoralisiert. Der Schutz des globalen Friedens hat Vorrang vor der Gerechtigkeit." Wenn die Ukraine ihre Verweigerung zu Verhandlungen aufgeben soll, dann ist dies "kein unmittelbares Gebot des Völkerrechts, wohl aber eines der politischen Ethik. (...) Denn die Ukraine ist kausal beteiligt an der fortdauernden Erzeugung des Elends dieses Krieges". Um empörten Kritikern zuvorzukommen, erklärt Merkel: "An Russlands Verantwortung für den Hintergrund des trostlosen Geschehens besteht ja kein Zweifel. Das schließt die eigene Verantwortlichkeit der Ukraine aber nicht aus."
Reinhard Merkel betont den Unterschied zwischen individueller und gesellschaftlicher Notwehr. Attackierte Individuen tragen selbst die Folgen, wenn sie den Entschluss fassen, sich zu wehren. Doch Regierungen haben Schutzpflichten gegenüber ihren Bürgern: "Dazu gehört auch die Verteidigung des Staates gegen Aggressoren, aber der Schutz von Leib und Leben und Zukunft seiner Bürger ebenfalls. Jenseits einer Schmerzgrenze, an der die Verwüstung des Landes und der Menschen jede moralische Proportionalität übersteigt, noch immer allein auf die Fortsetzung der Gewalt zu dringen und jede Verhandlung über deren Ende abzulehnen ist nicht tapfer, sondern verwerflich."
In Merkels Argumentation sind das militärische Kräfteverhältnis und der zu erwartende Ausgang des Kriegs irrelevant: "Die Ukraine mag diesen Krieg am Ende gewinnen können, politisch und vielleicht auch militärisch, aber allenfalls mit einer Zerstörungsbilanz, die dem Begriff eines solchen Sieges keinen fassbaren Sinn mehr beließe." Ein weiterer Aspekt fehlt vollkommen: Mit keinem Wort geht Merkel auf die Ziele der Kriegsparteien ein und hinterfragt deren Berechtigung. Dabei dürften sowohl die Siegeschancen als auch die Interessen und Bestrebungen beider Seiten von eminenter Bedeutung sein. Dieses Manko soll durch die folgenden Betrachtungen behoben werden.
Die ukrainischen Ziele
Die Führung der Ukraine verteidigt nach eigenem Bekunden das Selbstbestimmungsrecht, das sie durch den russischen Einmarsch verletzt sieht. Gemäß der UN-Charta steht allen Staaten dieses Recht zu, jedoch sind nur größere und wirtschaftlich weitgehend unabhängige Staaten tatsächlich souverän. Um überhaupt eigene Interessen durchsetzen zu können, schließen sich kleinere Staaten Bündnissen an, wodurch ihre nationalen Rechte weiter beschnitten werden. Doch nicht nur externe Abhängigkeit, sondern auch internationale Verträge schränken den Handlungsspielraum von Staaten ein. So haben sich die Staaten Europas und Nordamerikas 1990 in der Charta von Paris zur Unteilbarkeit der Sicherheit bekannt, was 1999 in Istanbul und 2010 in Astana bekräftigt wurde. Durch die Unterzeichnung der UN- Menschenrechtskonvention hat sich die Ukraine verpflichtet, die Rechte der ethnischen und sprachlichen Minderheiten zu respektieren.
Mit der uneingeschränkten Selbstbestimmung will sich die ukrainische Führung einen Freibrief verschaffen, um mehrere der eingegangenen Verpflichtungen nicht umsetzen zu müssen. Welche Kiewer Ziele in Moskau zu Verärgerung und schließlich zu einem offenen Widerstand führten, lässt sich an der ukrainischen Politik der letzten acht Jahre ablesen. Diese bestanden darin,
- den neutralen Status aufzugeben und die Aufrüstung zu forcieren,
- eine Mitgliedschaft in der NATO anzustreben und ihr später die Möglichkeit zu geben, Militärbasen entlang der russischen Grenze zu errichten,
- Ultranationalisten und Nazi-Sympathisanten unbehelligt agieren zu lassen,
- historische Ereignisse gemäß einer antirussischen Agenda umzuinterpretieren,
- Russland-freundliche politische Kräfte einzudämmen,
- die russische Sprache und Kultur zu unterdrücken,
- eine Autonomie des Donbass zu verhindern,
- den Donbass und die Krim notfalls mit Gewalt zu übernehmen.
Dass es sich vornehmlich um diese Ziele handelt, für die Soldaten an der Front kämpfen und Zivilisten Entbehrungen und Zerstörungen erleiden, ist der ukrainischen Bevölkerung nur begrenzt bewusst. Reinhard Merkel dürfte die Kiewer Absichten dagegen kennen, blendet sie jedoch in seinen Betrachtungen aus. Dies erscheint deshalb unverständlich, weil sie zweifellos einen Einfluss auf das Leidensniveau haben, das den Bürgern unter Bedingungen eines Militärkonflikts zugemutet werden kann. Je schwieriger es ist, den Kriegsgrund zu verstehen und zu akzeptieren, desto geringer ist die Opferbereitschaft.
Die Bedeutung des militärischen Kräfteverhältnisses
Ebenso wenig nachvollziehbar ist, dass Merkel dem zu erwartenden Ausgang der kriegerischen Handlungen keine Bedeutung beimisst. Die Bereitwilligkeit, Entbehrungen in Kauf zu nehmen, steigt mit der Überzeugung, einen bewaffneten Konflikt gewinnen zu können. Dies erfordert entweder eine militärische Überlegenheit oder die Möglichkeit, einen Guerillakrieg mit überschaubaren eigenen Verlusten zu führen.
Tatsächlich ist die Ukraine nicht das einzige Land, auf dessen Staatsgebiet sich ausländische Armeeeinheiten befinden. Guantánamo Bay auf Kuba ist die älteste genutzte US-Militärbasis in Übersee. Panama erhielt die Kanalzone erst, nachdem eine proamerikanische Regierung an die Macht gelangt war. Palästina ist weiterhin von Israel besetzt, und auf syrischem Territorium befindet sich – entgegen dem erklärten Willen der Regierung – gleichzeitig US-amerikanisches, türkisches und israelisches Militär. Jedoch keiner dieser Staaten entschließt sich zum offenen Kampf gegen die illegal stationierten Einheiten. Der Grund ist simpel: Es würden massive Gegenschläge drohen, und ein militärischer Sieg wäre von vornherein ausgeschlossen.
Im Fall der Ukraine sieht derzeit kein seriöser Militärexperte das Land auf der Siegerstraße. Die militärische Überlegenheit Russlands ist erdrückend, und daran werden auch die geplanten Lieferungen schweren Geräts aus dem Westen nichts ändern. Wenn westliche Politiker unter diesen Umständen für weitere Waffenlieferungen votieren, provozieren sie bewusst eine Fortsetzung der Kampfhandlungen. Die Behauptung, die Verhandlungsposition der Ukraine stärken zu wollen, erweist sich angesichts der militärischen Konstellation als Augenwischerei. Ehrlicher war Annalena Baerbock mit der Ankündigung, Russland ruinieren zu wollen. Damit gesteht sie aber ihre Gleichgültigkeit gegenüber dem Leiden der ukrainischen Bevölkerung ein. Dass die realen Chancen für einen Waffenstillstand, die Ende März bestanden, durch Intervention des Westens zerstört wurden, macht sein Verhalten besonders verwerflich.
Verhandeln heißt nicht Kapitulieren
Reinhard Merkel betont schließlich, dass Verhandeln nicht Kapitulieren bedeutet. Die Ukraine kann ihre Rechtsposition beibehalten, wenn sie auch akzeptieren muss, dass Teile ihres Territoriums unter Kontrolle der Russischen Föderation verbleiben. Zur Krim hat er eine besondere Sichtweise, weil "aus der ehedem rechtswidrigen Okkupation (…) der stabile Zustand einer befriedeten Ordnung entstanden" ist. Deren Eroberung durch Kiew ist für ihn inakzeptabel, und er fordert westliche Politiker auf, solchen Plänen die Unterstützung zu versagen. Besonders an dieser Position stoßen sich die meisten Kritiker, wie dem Vorspann der Veröffentlichung bei Karenia zu entnehmen ist.
Zusammenfassend ist zu sagen, dass Merkel sich davor zu hüten scheint, "heiße Eisen" anzufassen. Seine Überlegungen, die von einem ethischen Standpunkt ausgehend die Leiden der Zivilbevölkerung und die Verantwortung der Regierung in den Fokus rücken, verdienen dennoch Anerkennung. Allerdings kann aus seinen Ausführungen der falsche Schluss gezogen werden, dass die Haltung zu einem bewaffneten Widerstand allein vom Umfang der Opfer abhängt. Daher erscheint es unverzichtbar, zusätzlich die Ziele und die Erfolgsaussichten der attackierten Konfliktpartei wie auch die Interessen des Kontrahenten zu berücksichtigen. Im Fall der Ukraine würden diese Kenntnisse Merkels Position, dass Kiew eine baldige Verhandlungslösung anstreben müsse, allemal stützen.
Mehr zum Thema - Wer ist der Aggressor? Die Friedensbewegung und der US-Stellvertreterkrieg in der Ukraine