"Nicht am Blut der anderen verdienen" – Wiktor Medwedtschuk analysiert den Ukraine-Konflikt

Der ukrainische Oppositionspolitiker Wiktor Medwedtschuk kam durch einen Gefangenenaustausch im September 2022 frei und lebt jetzt im russischen Exil. Zum ersten Mal seit Beginn der russischen Militäroperation meldet er sich zu Wort mit einer umfassenden Analyse zu den Ursachen und Vorschlägen zur Lösung des Ukraine-Konflikts.

Von Wiktor Medwedtschuk

Hört man vielen westlichen Politikern zu, so scheint es ganz unmöglich zu sein, den Sinn und die Mechanismen des Konflikts in der Ukraine zu begreifen. US-Präsident Biden dementiert eine direkte Beteiligung amerikanischer Truppen an dem Konflikt, berichtet aber zugleich bei jeder Gelegenheit, dass die Vereinigten Staaten dorthin die Waffen für Milliarden von Dollar liefern. Wenn Milliarden für militärische Zwecke in der Ukraine ausgegeben werden, so heißt das, dass die ukrainischen Interessen für die USA eine äußerst wichtige Rolle spielen. Wenn aber die amerikanische Armee dort nicht kämpfen will, so sind sie vielleicht doch nicht so wichtig. Und was sind diese milliardenschweren Lieferungen? Unentgeltliche Hilfe? Gewinnbringende Geschäfte? Investitionen? Oder eine politische Kombination? Keine Antworten, lauter Nebel.

Oder das jüngste Geständnis der Ex-Bundeskanzlerin Merkel darüber, dass das Minsker Abkommen nur ein Versuch war, der Ukraine Zeit zu geben. Daraus folgt, dass niemand je Frieden schaffen wollte. Anders gesagt: Russland wurde betrogen. Aber mit welchem Ziel? Die Ukraine zu schützen oder selbst anzugreifen? Und wozu sollte man Russland betrügen, wenn man einfach das umsetzen konnte, was Deutschland selbst empfahl? Oder empfahl Deutschland bewusst das, was nie umgesetzt werden konnte? So kann man fortsetzen, bis man an die Frage kommt, ob politische Falschspieler zur Rechenschaft gezogen werden können. Allerdings scheint es heute viel wichtiger zu sein, damit anzufangen, den Nebel rund um die aktuelle Situation zu lichten. Denn aktuell ist der Stand der Dinge gerade so und nicht anders. Was führte dazu, welche Ursachen waren es? Und wie beendet man diese Situation? Denn sie wird immer gefährlicher. Fangen wir also unsere Analyse damit an, wie alles begann.

Womit endete der Kalte Krieg?

Gewöhnlich geht der Beginn jedes neuen Krieges auf das Ende des vergangenen Krieges zurück. Dem ukrainischen Konflikt ging der Kalte Krieg voraus. Die Antwort auf die Frage, womit er eigentlich endete, wird uns dem Verständnis näherbringen, welchen Sinn der heutige Konflikt hat, der nicht auf die Ukraine begrenzt ist, sondern mehrere Länder betrifft. Es ist nämlich so, dass die westlichen und die postsowjetischen Staaten, vor allem Russland, die Folgen dieses Krieges unterschiedlich interpretieren.

Der Westen betrachtet sich eindeutig als Sieger in diesem Krieg und Russland als Verlierer. Da Russland, dieser Logik zufolge, die besiegte Seite sei, sei das Gebiet der ehemaligen UdSSR und des Ostblocks die rechtmäßige Beute der USA und der NATO, das nach dem Prinzip "Wehe den Besiegten!" unter die westliche Kontrolle überginge. Folglich sei die Ukraine die Einflusszone der USA und der NATO, und gar nicht von Russland. Daher seien Russlands Ansprüche auf einen Einfluss auf die ukrainische Politik und den Schutz der eigenen Interessen in dieser Region "unbegründet" und seien ein direkter Angriff gegen die Interessen der USA und der NATO. "Wir müssen die Welt nicht länger durch ein Prisma der Ost-West-Beziehungen betrachten. Der Kalte Krieg ist vorbei", sagte Anfang der 1990-er Jahre Margaret Thatcher. Anders ausgedrückt, spielt die Position des Ostens, d. h. Russlands, keine Rolle mehr. Es gibt nur einen Vektor, nur einen Meister des Universums, nur einen Sieger.

Russland hat eine grundsätzlich andere Sicht auf diesen Prozess. Es betrachtet sich keinesfalls als Verlierer. Das Ende des Kalten Krieges war durch demokratische politische und wirtschaftliche Reformen bedingt, und die militärische Konfrontation wurde durch Handel und Integration mit dem Westen ersetzt. Denn ist es nicht ein Sieg, wenn der ehemalige Feind heute zum Freund geworden ist? Dabei verfolgte die UdSSR und später die Russische Föderation nicht das Ziel, im Kalten Krieg zu gewinnen, sondern die militärische Konfrontation zwischen Ost und West zu beenden, die zu einer Nuklearkatastrophe hätte führen können. Moskau fand zusammen mit Washington die Möglichkeit, dieser Konfrontation ein Ende zu setzen, und erreichte damit die Ziele nicht nur für sich selbst, sondern vielmehr für die ganze Welt.

Bei diesem Ansatz wurde gar nicht davon ausgegangen, dass sich der Westen den Osten einverleibt und den postsowjetischen Raum wirtschaftlich, rechtlich und kulturell seiner Kontrolle unterstellt. Es ging vielmehr um eine Zusammenarbeit auf Augenhöhe und die gemeinsame Gestaltung einer neuen politischen und wirtschaftlichen Realität. Also haben wir sehr deutlich mit zwei unterschiedlichen Sichtweisen auf das Ende des Kalten Krieges zu tun: Triumph der Sieger auf der einen Seite und der Bau einer neuen Welt und einer neuen Zivilisation auf der anderen. Von diesen zwei Ansätzen werden die weiteren Entwicklungen zukünftig geprägt sein.

Neue Welt oder neue westliche Kolonien?

1991 zerfiel die Sowjetunion und 1992 wurde die Europäische Union gegründet, in die der postsowjetische Raum, einschließlich Russlands, große Hoffnungen setzte. Da schien eine neue Welt zu sein, ein neues überstaatliches Gebilde, eine neue Wende in der Geschichte der europäischen Zivilisation. Russland, genauso wie die anderen Staaten des ehemaligen Ostblocks und der UdSSR, sieht sich in der Zukunft als vollberechtigtes Mitglied dieser Union. Es wird die Doktrin des Europas "von Lissabon bis Wladiwostok" entwickelt.

In dieser Situation begrüßt Russland nicht nur die Wiedervereinigung Deutschlands, sondern auch den Beitritt von seinen ehemaligen Verbündeten und sogar der ehemaligen Sowjetrepubliken zur EU. In den 1990-er Jahren steht die wirtschaftliche Integration mit dem Westen für Russland im Vordergrund, darin sieht Moskau den Schlüssel zu seinem Erfolg als moderner Staat. Dabei hat die russische Führung keinen besonderen Wunsch, die ehemaligen Sowjetrepubliken, einschließlich der Ukraine, an sich zu binden. Die meisten von ihnen lebten von Dotationen aus dem Zentrum, sprich: von Moskau. Man klopft die Führung dieser Länder freundlich auf die Schulter, versucht aber, diese wirtschaftliche Bürde loszuwerden, und zwar so schnell wie möglich.

Schneller als die Ukraine fängt Russland an, sich in den europäischen Markt zu integrieren. Denn Russland hat große Mengen an Energieträgern, woran in Europa ein großer Bedarf besteht. Die Ukraine, im Gegenteil, ist nicht in der Lage, Energieträger zu europäischen Preisen zu kaufen. Die Unabhängigkeit der Ukraine hätte sehr wohl mit einem wirtschaftlichen Scheitern enden können, ohne den Südosten, wo momentan erbitterte Kämpfe stattfinden. Der Südosten mit seinen riesigen Produktionskapazitäten und seiner entwickelten Industrie ordnete die Ukraine in die internationale Arbeitsverteilung hinein. Es ist nicht üblich, davon zu sprechen, aber gerade der russischsprachige Südosten rettete in den 1990-er Jahren die wirtschaftliche und damit auch die politische Unabhängigkeit der Ukraine.

Nun betrachten wir etwas anderes. Seit den 1990-er Jahren entstehen in Europa und an seinen Grenzen eine Reihe von schwerwiegenden ethnischen Konflikten und Kriegen, in die Millionen von Menschen einbezogen waren. Bis 1991 gab es keine solche Menge ethnischer Auseinandersetzungen. All das führte zum Zerfall von Jugoslawien und dem Verlust der territorialen Integrität von Georgien, Moldau und Syrien. Im Sinne des Paradigmas der Europa-Vereinigung ist es zwecklos. Denn das Ziel dieser Union ist nicht die Fragmentierung von Europa in zahlreiche Kleinstaaten, sondern ganz im Gegenteil die Schaffung einer riesigen übernationalen Volksunion. Diese Völker brauchen einander nicht zu exterminieren, noch die Grenzen zu vermehren, sondern zusammen eine neue Welt zu bauen. Was stimmt hier nicht?

Es stimmt nicht, wenn man von der Sichtweise ausgeht, die früher in Russland vorherrschte. Geht man aber vom Konzept des Sieges des Westens im Kalten Krieg aus, so haben die ethnischen Konflikte einen ganz anderen Sinn. Und dieser Sinn wurde mehrmals verkündet. Bei der Sitzung des Vereinigten Generalstabs am 24. Oktober 1995 sagte z. B. US-Präsident Bill Clinton: "Indem wir die Fehler der sowjetischen Diplomatie und die ungewöhnliche Selbstgefälligkeit von Gorbatschow und seiner Umgebung sowie jener, die offen eine proamerikanische Position eingenommen haben, ausnutzten, haben wir das erreicht, was Präsident Truman mit einer Atombombe erreichen wollte".

Daraus lässt sich die Schlussfolgerung ziehen, dass bei weitem nicht alle westlichen Politiker eine neue gerechte Weltordnung schaffen wollten. Ihre Aufgabe war es, den Gegner – die UdSSR, Jugoslawien und andere Länder – zu vernichten. Und in diesem Fall ist die Verschärfung der interethnischen Konflikte durchaus logisch, denn sie schwächen den Gegner und im Fall des Sieges helfen sie, sein Land zu zergliedern, damit der Sieger es sich leichter einverleiben kann.

Unter diesen Umständen spielt der echte Stand der Dinge keine Rolle. Die Situation wird bewusst eskaliert. Einerseits werden die Vertreter der Titularnation des Genozids beschuldigt, der Vernichtung der fremden Kultur und der fremden Sprache sowie der ethnischen Säuberungen. Andererseits werden die Vertreter der nationalen Minderheit, die kompakt in gewissen Teilen des Landes leben, als Separatisten und eine Bedrohung für den Staat erklärt. Diese Taktik ist seit der Antike bekannt und wurde vom Römischen Reich angewandt. Doch heute haben wir nicht mehr mit dem Bau eines neuen Sklavenhalterreiches zu tun. Oder doch? Wird in Washington beispielsweise der postsowjetische Raum als gewisse Provinzen eines Großreiches betrachtet, die schon ihre Metropole haben und vor Angriffen der Barbaren geschützt werden sollen, die sich diesem Reich nicht unterordnen wollen?

Also gibt es zwei politische Strategien: die wirtschaftliche und politische Integration der Länder, wo gegenseitiger Vorteil im Vordergrund steht, und die Einverleibung einiger Länder durch die anderen, wo die Interessen der ersteren nicht in Betracht genommen werden. Solche Länder können zergliedert, als Schurkenstaat erklärt oder erobert werden.

Was die Russische Föderation anbelangt, je mehr sie aus der Krise kommt, die von der plötzlichen Änderung des politischen und wirtschaftlichen Kurses hervorgerufen wurde, desto mehr wird sie mit offenen Versuchen konfrontiert, sie zu schwächen, zu erniedrigen und zu benachteiligen; immer häufiger wird sie zum Schurkenstaat erklärt, obwohl ihr Wirtschaftspotenzial steigt. Die Erhöhung des Wirtschaftspotentials soll den Einfluss des Landes stärken, und das sollte in der westlichen Welt normalerweise begrüßt werden. Doch genau das Gegenteil passiert. Nicht nur wird Russlands Einfluss nicht begrüßt, sondern er wird als falsch, kriminell und korrumpiert erklärt.

Darauf sollte an dieser Stelle tiefer eingegangen werden. Also nimmt Russland die westliche Demokratie als Muster, führt Reformen durch und beginnt, sich in die westliche Welt einzuordnen. Im Sinne des Baus des gemeineuropäischen Hauses sollte das begrüßt und unterstützt werden. Europa bekommt einen friedlichen und finanzkräftigen Partner mit seinen Märkten und Ressourcen, was es selbstverständlich wesentlich verstärkt. Doch wenn man sich vom kolonialen Denken leiten lässt, so wird man das Wirtschaftswachstum und die Unabhängigkeit einer fernen Kolonie nicht dulden wollen. Provinzen dürfen die Metropole nicht überholen – weder finanziell noch politisch oder kulturell.

Es gibt die EU, die sich mit der Gestaltung einer neuen wirtschaftlichen Ordnung beschäftigte. Und es gibt die NATO, die 1949 gegründet wurde und dem Osten, in erster Linie der UdSSR und Russland, gegenüberstand. Erinnern wir uns an die Worte des ersten NATO-Generalsekretärs Hastings Ismay: "die Amerikaner in Westeuropa, die Russen außen vor und die Deutschen unter Kontrolle zu halten". Das heißt, die NATO-Ideologie besteht darin, dass die USA in Europa und sogar in einer dominierenden Position sind, und Russland nicht.

Was soll Russland in der Situation machen? Es hat ja den Kalten Krieg gewissenhaft beendet, und die USA und die NATO offenbar nicht. Also erfolgt die für es vorgesehene Vereinigung mit dem Westen nicht auf Augenhöhe, sondern in der Form der wirtschaftlichen und politischen Einverleibung. Daher die Forderungen von Moskau, die Bewegung Richtung seine Grenzen zu stoppen und die Ansätze und die Vereinbarungen zu revidieren. Und jetzt sehen wir, dass das NATO-Konzept nicht nur die Integration Russlands in Europa ruinierte, sondern auch die Erweiterung Europas und seine Entwicklung endgültig endete. Von zwei obenerwähnten Ansätzen überwand also der eine offensichtlich den anderen.

Russland und die Ukraine – eine Tragödie der Beziehungen

Vom allgemeinen Bild gehen wir jetzt unmittelbar zu den Beziehungen zwischen Russland und der Ukraine über. Zu Beginn soll man feststellen, dass die Beziehungen dieser Länder eine eigenartige Geschichte haben. Sie sind enger als die Beziehungen zwischen England und Schottland oder zwischen nördlichen und südlichen US-Staaten. Die Ukraine war im Laufe von 300 Jahren ein Teil Russlands, was sich auf ihre Kultur, ethnische Zusammensetzung und Mentalität auswirkte. 1991 erhielt die Ukraine ihre Unabhängigkeit nicht als Folge eines nationalen Befreiungskampfs, sondern nach einer Vereinbarung mit Moskau. Die neue wirtschaftliche und politische Realität bewegt die russische Elite dazu, nicht nur der Ukraine Unabhängigkeit zu geben, sondern sie sogar dazu anzuregen. Eine militärische Auseinandersetzung zwischen den zwei neuen Staaten konnte sich damals niemand vorstellen. Die Ukrainer sahen Russland als eine freundliche Macht und die Russen als eine brüderliche Nation, und diese Zuneigung war gegenseitig.

In Russland dominierte in Bezug auf die Ukraine lange Zeit das Konzept "noch ein Russland", was viel engere Beziehungen vermutete als z. B. die zwischen Großbritannien und Kanada. Im Alltag hörte man oft: "Wir sind ein Volk, aber zwei Staaten". Die Ukrainer und die Russen interessierten sich aktiv für das politische Leben des jeweiligen Nachbars. Danach könnte man den heutigen Präsidenten der Ukraine Selenskij fragen, der sein Geld mit politischer Satire verdiente, die sich gewöhnlich auf die Politik beider Länder bezog.

Am Beispiel der Ukraine wird sichtbar, wie das Konzept der Bildung eines gemeinsamen politischen und wirtschaftlichen Raums vom Konzept der Verdrängung Russlands aus der Ukraine eine Niederlage erleidet. Seit dem ersten Maidan 2005 beginnt die Ukraine, antirussische Politik auf der Ebene der Staatsideologie umzusetzen. Dabei ist ersichtlich, dass diese Politik dem Muster des Kalten Krieges folgt. Das heißt, die Ukrainer wurden psychologisch gegen Russen aufgebracht durch die Unterstützung von gewissen Politikern sowie Änderungen in der Bildungspolitik, in der Kultur und in der Arbeit der landesweiten Medien. All das erfolgte unter dem Deckmantel der demokratischen Reformen und der positiven Veränderungen, die von allerlei westlichen und internationalen Organisationen unterstützt wurden.

Ein demokratischer Prozess war es kaum. Es wurde einfach das Diktat der prowestlichen Kräfte in der Politik, in den Medien, in der Wirtschaft und in der Zivilgesellschaft etabliert. Prowestliche Demokratie wurde mit undemokratischen Mitteln durchgesetzt. Und heute ist wie nie zuvor die folgende Frage wichtig: Ist das politische Regime in der Ukraine eine Demokratie?

Innerhalb der Ukraine existierten seit 1991 zwei Länder: Anti-Russland und die Ukraine wie ein zweites Russland. Das eine kann sich ohne Russland nicht denken, das andere kann sich mit Russland nicht denken. Dabei ist diese Teilung recht artifiziell. Den Großteil ihrer Geschichte erlebte die Ukraine mit Russland, sie ist mit Russland kulturell und spirituell verbunden.

Die Integration mit Russland wird eindeutig von der Wirtschaft diktiert. Wenn man in seiner Nähe so einen riesigen Markt und Ressourcen hat, kann nur eine Macht mit beschränktem Verstand darauf verzichten, sie zu nutzen, und umso mehr sie zu blockieren. Antirussische Stimmungen hatten der Ukraine noch nie etwas außer Leid und Armut gebracht. Deswegen propagandieren alle prowestlichen nationalistischen Bewegungen, bewusst oder unbewusst, dem ukrainischen Volk Elend und Armut. 

Es wurde bereits erwähnt, dass gerade der Südosten mit seiner Produktion dem Land half, sich in die internationale Arbeitsverteilung einzuordnen. Der Osten, eine große russischsprachige Region, verdiente für das Land das meiste Geld. Selbstverständlich hatte es Auswirkungen für die politische Vertretung in der ukrainischen Macht. Der Südosten hatte mehr menschliche und finanzielle Ressourcen, was in das prowestliche Konzept der Ukraine nicht passte. Allzu stolze, freie und reiche Menschen lebten dort.

Sowohl der erste, als auch der zweite Maidan waren gegen Wiktor Janukowitsch gerichtet – den ehemaligen Bürgermeister von Donezk, einem Leader von Donbass und nicht nationalistischen zentristischen politischen Kräften. Die Wahlunterstützung dieser Kräfte war erheblich, sehr lange wollte die Ukraine nicht zum Anti-Russland werden. Präsident Juschtschenko, der als Folge des ersten Maidans an die Macht kam, verlor sehr schnell die Unterstützung des Volks, vor allem wegen seiner antirussischen Politik.

Dann folgte ein merkwürdiger Trend in der ukrainischen Politik. Nach dem zweiten Maidan gewann Präsident Poroschenko die Wahlen, der den Frieden mit Russland in einer Woche versprochen hatte. Das heißt, er wurde als Friedenspräsident gewählt. Stattdessen wurde er zum Kriegspräsidenten, scheiterte daran, das Minsker Abkommen umzusetzen und verlor kläglich die folgenden Wahlen. Er wurde von Wladimir Selenskij abgelöst, der genauso Frieden versprach, aber zur Verkörperung des Krieges wurde. Dem ukrainischen Volk wird also Frieden versprochen, und dann wird es betrogen. Nachdem er mit der Rhetorik der Friedensschaffung an die Macht gekommen war, nahm der zweite ukrainische Präsident danach eine äußerst radikale Position ein. Hätte er so eine Position am Anfang der Wahlkampagne gehabt, hätte ihn niemand gewählt.

Und jetzt zurück zur allgemeinen Idee dieses Artikels. Wenn jemand sagt, dass er mit den Nachbarn eine neue Welt schaffen will, aber in der Tat einfach seine Interessen durchsetzt, wo alle Mittel gut sind, selbst ein Krieg oder sogar ein Atomkrieg, dann hat er offensichtlich überhaupt nicht vor, etwas schaffen. So verhielt sich der Ex-Präsident der Ukraine Poroschenko, genauso verhält sich der heutige Präsident Selenskij, und nicht nur sie allein. So verhält sich auch die NATO-Führung und zahlreiche US-amerikanische und europäische Politiker.

Vor der bewaffneten Auseinandersetzung erstickte er jede Opposition, indem er die Interessen seiner Partei durchsetzte. Er schuf nie Frieden. In der Ukraine wurden Politiker, Journalisten, öffentliche Aktivisten, die vom Frieden und gutnachbarlichen Beziehungen mit Russland sprachen, noch vor dem bewaffneten Konflikt repressiert, ihre Medien ohne jegliche rechtlichen Gründe geschlossen und ihr Eigentum räuberisch beschlagnahmt. Als die ukrainische Führung mit Vorwürfen wegen Verletzungen der Gesetzgebung und der Meinungsfreiheit konfrontiert wurde, kam die Antwort, die Friedenspartei sei "eine Horde von Verrätern und Propagandisten". Und der Westen war mit dieser Antwort zufrieden.

In der Wirklichkeit war die Situation nicht so einfach und eindeutig. "Verräter und Propagandisten" vertraten, unter anderem im Parlament, nicht nur den Löwenanteil der Wähler, sondern auch die Grundlage des Wirtschaftspotenzials des Landes. Also war das ein Schlag nicht nur gegen Demokratie, sondern auch gegen den Wohlstand der Bürger. Die Politik von Selenskij führte dazu, dass Menschen anfingen, die Ukraine wegen der wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen sowie Repressionen und politischer Hetze massenhaft zu verlassen. Unter ihnen waren eine Vielzahl an ukrainischen Politikern, Geschäftsleuten, Kulturschaffenden und Klerikern, die für ihr Land nicht wenig gemacht hatten. Diese Menschen wurden von der ukrainischen Führung aus der Politik und dem gesellschaftlichen Leben einfach weggestrichen, obwohl sie auch das Recht auf ihre Position haben, und zwar nicht weniger, als Selenskij und sein Team.

Die Geschäfte und der Handel im Südosten der Ukraine sind in vieler Hinsicht an Russland gebunden, daher war der Konflikt keine ausschließlich innere Angelegenheit. Russland sah sich gezwungen, nicht nur seine wirtschaftlichen Interessen zu schützen, sondern auch seine Ehre und Würde, die ihm, wie oben gezeigt, systematisch verweigert wurden. Und es war niemand da, um diese Situation zu verbessern. Die ukrainische Friedenspartei wurde zum Verräter erklärt, und die Macht wurde von der Kriegspartei ergriffen. Der Konflikt breitete sich weiter aus und nahm eine internationale Dimension an.

Man könnte sagen, es wäre doch noch die europäische Politik da, doch sie unterstützt massenhaft Selenskij und zieht dadurch Europa in den Krieg und eine eigene Wirtschaftskrise hinein. Nun ist es nicht mehr Europa, das der Ukraine die Politik beibringt, sondern die Ukraine bringt Europa bei, wie man mit der Politik von Hass und Unversöhnlichkeit einen Wirtschaftsabschwung und Armut erreicht. Wenn Europa diese Politik weiterhin fortsetzt, wird es dadurch in den Krieg einbezogen, womöglich sogar in einen Atomkrieg.

Jetzt zurück zu dem, was eingangs erwähnt wurde. Der Kalte Krieg endete mit dem politischen Beschluss, eine neue Welt ohne Kriege zu bauen. Es ist deutlich, dass solch eine Welt nicht gebaut wurde und dass die heutige Weltpolitik wieder an der Stelle angelangt ist, wo sie die Entspannung begann. Und nun gibt es nur zwei mögliche Auswege: entweder zu einem Weltkrieg und einem Nuklearkonflikt abzugleiten oder wieder einen Prozess der Entspannung einzuleiten, wozu aber die Interessen von allen Seiten berücksichtigt werden müssen. Dazu muss man politisch anerkennen, dass Russland seine Interessen hat und sie bei dem Bau einer neuen Entspannungspolitik zu berücksichtigen sind. Vor allem gilt: fair zu spielen, niemanden zu betrügen, Realität nicht zu vernebeln und nicht zu versuchen, am Blut der anderen zu verdienen. Doch wenn das globale politische System nicht in der Lage ist, elementare Ehrenhaftigkeit zu zeigen und von Stolz und merkantilen Interessen geblendet ist, dann stehen uns schwere Zeiten bevor.

Der ukrainische Konflikt wird sich weiter ausbreiten, indem er auf Europa und andere Länder überspringt, oder er wird lokalisiert und beigelegt. Doch wie kann er beigelegt werden, wenn in der Ukraine die Kriegspartei grenzenlose Macht besitzt und Kriegshysterie auslöst, die die Grenzen des Landes schon überschritten hat, und der Westen das hartnäckig als Demokratie bezeichnet? Diese Kriegspartei sagt unzählige Male, dass sie keinen Frieden brauche, sondern mehr Geld und Waffen für den Krieg. In dem Krieg beruhigen sich die Politik und die Geschäfte dieser Menschen, dadurch gingen ihre internationalen Rankings rasant nach oben. In Europa und in den USA werden sie mit stehenden Ovationen begrüßt und an sie dürfen keine unangenehmen Fragen gerichtet werden, ihre Aufrichtigkeit und Glaubwürdigkeit dürfen nicht angezweifelt werden. Die ukrainische Kriegspartei erlebt einen Triumph nach dem anderen, dabei ist kein militärischer Durchbrunch in Sicht.

Was die ukrainische Friedenspartei anbelangt, so ist sie weder in Europa noch in den USA willkommen. Eindeutig zeugt es davon, dass die meisten US-amerikanischen und europäischen Politiker gar keinen Frieden in der Ukraine wollen. Das heißt aber nicht, dass die Ukrainer keinen Frieden wollen und dass der Kriegstriumph von Selenskij für sie wichtiger ist als ihre Leben und zerstörte Häuser. Diejenigen, die sich für den Frieden eingesetzt hatten, wurden auf Anordnung des Westens betrogen, eingeschüchtert und repressiert. Die ukrainische Friedenspartei passte einfach nicht in die westliche Demokratie.  

Hier stellt sich die Frage: Wenn die Partei für den Frieden und Zivildialog nicht in eine Demokratie passt, ist es dann überhaupt eine Demokratie? Vielleicht sollten die Ukrainer, um ihr Land zu retten, damit anfangen, ihre eigene Demokratie zu bilden und ihren eigenen Zivildialog ohne westliche Betreuer zu initiieren, deren Verwaltung schädliche und zerstörerische Folgen hatte. Wenn der Westen die Meinung der anderen Ukraine nicht hören will, ist es seine Sache, aber für die Ukraine ist solch eine Meinung wichtig und notwendig, sonst wird dieser Albtraum nie ein Ende nehmen. Das heißt, man sollte eine politische Bewegung gründen aus denjenigen, die nicht aufgegeben haben, die ihre Überzeugungen aus Angst vor Tod und Gefängnis nicht verleugnet haben, die nicht wollen, dass ihr Land zum Platz für geopolitische Auseinandersetzungen wird. Die Welt muss diese Menschen hören, egal wie stark der Westen für sich das Monopol auf die Wahrheit verlangen möge. Die Situation in der Ukraine ist katastrophal kompliziert und gefährlich, doch sie hat nichts damit zu tun, was wir jeden Tag von Selenskij hören.

Dieser Text erschien zuerst in der Iswestija.

Wiktor Medwedtschuk (68) ist ukrainischer Poltiker und Geschäftsmann. Er arbeitete im Team des zweiten ukrainischen Präsidenten Wiktor Kutschma und war mehrere Jahre Vize-Sprecher in Werchowna Rada. Als einer der wenigen in der ukrainischen Politik warb er offen noch vor Euromaidan für den Beitritt der Ukraine in die Eurasische Zollunion (später EAWU) und pflegte gute Kontakte zur russischen Führung. 2018-2022 war er Vorsitz im politischen Rat der Partei Oppositionelle Plattform fürs Leben, bis die Partei von Selenskij verboten wurde. In der Ukraine wird der Politiker des Staatsverrats beschuldigt. Medwedtschuk war mehrere Monaten inhaftiert, bevor er im September im Züge eines Gefangegenaustausches frei kam. 2021 war in der Forbes-Liste der Top-20 der reichsten Ukrainer. 2022 wurden große Teile seines Vermögens von der ukrainischen Justiz beschlagnahmt. Derzeit lebt in Russland.

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