Von Irina Alksnis
Russlands Vorschlag für eine weihnachtliche Waffenruhe, die am Ende nur zu einer einseitigen 36-stündigen Feuerpause vonseiten Russlands führte, hat in der russischen Gesellschaft erneut eine rege Diskussion über die Zweckmäßigkeit solcher humanitären und friedensstiftenden Initiativen Moskaus ausgelöst.
Man muss zugeben, dass die Kritiker durchaus überzeugende Argumente anführen. Wir beobachten, wie der Westen das System der geschriebenen und ungeschriebenen Grundsätze der internationalen Politik zerstört. Und dies betrifft nicht nur diejenigen Normen, die erst am Ende des Zweiten Weltkriegs festgelegt wurden, sondern auch jene, die bereits Jahrhunderte zurückreichen und für die internationalen Beziehungen insgesamt grundlegend sind – zum Beispiel solche, die sich auf die Arbeit der diplomatischen Vertretungen beziehen. Der Westen lügt heute nicht nur und verstößt gegen seine Verpflichtungen – er prahlt auch noch damit. Und offensichtlich empfindet er es bisher als Schwäche, wenn seine Widersacher selbst an solchen Beschränkungen festhalten, die bis vor Kurzem noch als allgemein akzeptiert galten.
Grundsätzlich entstehen in Anbetracht eines solchen Gegners natürlich Zweifel an der Notwendigkeit der Einhaltung und an der Sinnhaftigkeit, quasi Perlen vor die Säue zu werfen. Denn es stellt sich heraus, dass sich Russland damit zusätzlich die eigenen Hände bindet, seine Position verschlechtert, sie in der immer schärfer werdenden geopolitischen Konfrontation schwächt.
Solche Kritik auf der Grundlage moralischer, ethischer und ethischer Erwägungen zu beantworten, ist sinnlos. Derartige Argumente werden im besten Fall als irrelevant abgetan oder im schlimmsten Fall einfach verspottet. Für verbissene Kämpfer im Homeoffice an der ideologischen Front des Dritten Weltkrieges braucht man etwas weitaus Rationaleres und Überzeugenderes, wenn nicht gar Zynisches.
Lassen Sie uns also über Moral und Ethik von einem sehr pragmatischen Standpunkt aus sprechen. Die Menschheitsgeschichte war und ist ungeheuerlich in ihrer Grausamkeit. Wir sind die Nachkommen der Überlebenden einer langen Kette von Völkermorden. Allerdings waren es nicht die Skrupellosesten, die in diesem evolutionären – und dann zivilisatorischen – Wettlauf als die Sieger hervorgingen. Darüber hinaus ist die moderne Welt der lebendige Beweis dafür, dass Menschlichkeit – nicht nur gegenüber den "Nächsten", sondern auch gegenüber meist fernen "Fremden" – die vorteilhafteste Strategie ist.
Unser Russland wäre nicht entstanden, hätte sich nicht entwickelt und sich den historischen Herausforderungen stellen können, würde es sich ausschließlich auf Gewalt stützen. Ein solch gigantisches, heterogenes, multiethnisches und multikonfessionelles Land wie Russland konnte nur deshalb gelingen und am Leben bleiben, weil darin zur Grundlage die Achtung fremder Traditionen und die Bereitschaft zur Übereinkunft gehören, aber auch eine Haltung gegenüber Fremden, als wären es die Eigenen, denn auch die "Eigenen" waren einst allesamt "Fremde". Dabei ist diese Menschlichkeit, welche eine Basis unseres Staates ist, kein Widerspruch und kein Ersatz für Standhaftigkeit, für die Fähigkeit nämlich, notfalls harte Entscheidungen zu treffen, und wenn nötig sogar die Bereitschaft, Gewalt anzuwenden.
Wir haben uns daran gewöhnt, den Westen aller Sünden zu beschuldigen (und das aus gutem Grund), doch im Vergleich mit anderen Zivilisationen ist er kaum die grausamste und hinterhältigste. Darüber hinaus fiel sein steiler Aufstieg, der ihm für ein halbes Jahrtausend seine Vorherrschaft über die Welt sicherte, in die Zeit auch der Entstehung, Entwicklung und Umsetzung der Ideen des Humanismus, der Menschenrechte und Freiheiten, der Demokratie. Schließlich gingen die Privatinitiative, das Wirtschaftswachstum und der technologische Fortschritt Hand in Hand mit diesen Ideen der Aufklärung. Man sollte auch die Rolle des Christentums als Religion der Liebe, der Vergebung und der Bereitschaft, alle Menschen unabhängig von ihrer Herkunft, ihrem sozialen Status oder ihrer Rasse aufzunehmen, geopolitisch nicht unterschätzen.
Der universelle Humanismus als ideologische Grundlage der Zivilisation war – trotz aller düsteren und grausamen Realitäten politischer Prozesse – der wichtigste Trumpf, der es dem Westen ermöglicht hat, den geopolitischen Wettbewerb zu gewinnen und die Sympathie der Menschen auf der ganzen Welt für Jahrhunderte zu gewinnen.
Und gerade jetzt zerstört er diesen Trumpf mit eigenen Händen – durch seine offene Unehrlichkeit, durch seinen Unwillen zum Anhören anderer Standpunkte und durch seine ständige Anwendung von Zwang und Gewalt, seine demonstrative Weigerung, sich selbst an die humanitären und humanistischen Normen zu halten, die er selbst einst als universell gestaltet und erfolgreich umgesetzt hatte. Darin liegt eine eigentümliche geopolitische Poesie: Der Westen versucht, die ihm entgleitende Macht zu bewahren, und zerstört dabei das, worauf diese Macht beruhte.
Der Gedanke, denselben Weg zu gehen, erscheint nicht vernünftig. Die Russische Föderation ist im Besitz einer Strategie, die nicht einfach ihr bisheriges Überleben sicherte, sondern sie auch erst zu dem machte, was sie ist. Und wir bieten diese Strategie der ganzen Welt als Grundlage eines neuen globalen Systems an. Wir beweisen durch unser Handeln, dass die Prinzipien der Menschlichkeit, der Verständigung und der Achtung der Traditionen anderer Menschen für uns unerschütterlich sind. Für Dutzende von Staaten und Völkern, die gerade ihren Weg zur umfassenden Souveränität entdecken und sich davor fürchten, vom Regen neokolonialer Abhängigkeit vom Westen in die Traufe der Unterordnung unter die Supermächte zu geraten, die die bisherige Abhängigkeit ersetzen wollen, bietet dies eine klare Erklärung dessen, wofür Russland steht und wofür es kämpft.
Das feste Bekenntnis der russischen Führung zu endlosen humanitären und friedensstiftenden Initiativen, ihre unerschütterliche Verhandlungsbereitschaft sind also eine absolut pragmatische, strategisch ausgerichtete Politik, deren Wirksamkeit die gesamte Geschichte dieses Heimatlandes bewiesen hat.
Und es ist auch eine zutiefst irrationale Sache, denn daran glaubt Russland. Was sie ist. Und sich selbst zu betrügen ist die schlimmste Art von Verrat.
Und es ist neben der Vernunft auch eine zutiefst ideelle Angelegenheit, weil es das ist, woran Russland glaubt, was Dasein begründet. Und sich selbst zu betrügen wäre die schlimmste Art von Verrat.
Übersetzt aus dem Russischen und zuerst erschienen bei Wsgljad
Irina Alksnis ist eine russische Politologin und linksgerichtete Vordenkerin. Sie stammt aus einer berühmten lettisch-sowjetischen Politikerdynastie ab.
Mehr zum Thema - Historiker Emmanuel Todd: In diesem Krieg geht es um Deutschland