Von Gert Ewen Ungar
Die große aktuelle politische Erzählung ist die vom Systemkonflikt. Den liberalen Demokratien, in denen die Bürger umfassende Freiheiten genießen, stehen autoritäre Systeme gegenüber, die darauf abzielen, diese mühsam errungenen Freiheiten zu zerstören. Auf der einen Seite der freie Westen, auf der anderen Seite autoritäre Systeme wie Russland und China, lautet die vorgetragene Behauptung. Autoritäre Systeme unterscheiden sich von liberalen Demokratien dadurch, dass es ihnen nur um den eigenen, inneren Machterhalt und die Bereicherung einer kleinen, korrupten Elite geht.
Das, was sich für viele spätestens seit der umfassenden medialen sowie politischen Diskriminierung von Maßnahmenkritikern während der COVID-19-Pandemie wie ein schlechter Witz anhört, ist die offizielle außen- und innenpolitische Leitlinie in Deutschland und der EU. Dass es sich schräg und wenig stimmig anhört, hat seinen Grund in einer antidemokratischen Fehlentwicklung, die dem Liberalismus innewohnt. Gerade in den westlichen Demokratien stehen demokratische und freiheitliche Prozesse zunehmend unter Druck, werden immer weiter ausgehöhlt und zurückgedrängt. Der Liberalismus tritt in Deutschland in seine letzte, autokratische Phase ein.
Verantwortlich dafür sind zwei Prozesse. Zum einen die Ersetzung des Universalismus der Aufklärung durch die im Kern reaktionäre und gegen Demokratie sowie die damit verbundene Kompromissfindung gerichtete Identitätspolitik. Ausdruck der eigenen Befindlichkeit, Emotion und Emotionalisierung ersetzen Dialog und Rationalität. Im öffentlichen Raum findet der Einzelne mit seiner Besonderheit nicht mehr seinen Platz, sondern der öffentliche Raum hat sich den Besonderheiten des Einzelnen unterzuordnen und sich seinen Befindlichkeiten anzupassen. Mit der Identitätspolitik als Leitfaden politischen Handelns kehrt sich der Liberalismus in sein repressives Gegenteil.
Zum anderen war der Liberalismus immer ein Elitenprojekt und kein Projekt für die breite Masse. Heute äußert sich das darin, dass Nichtregierungsorganisationen, Thinktanks und eine mediale Elite die Themen des öffentlichen Diskurses bestimmen und die zugelassene Diskussionsbreite festlegen. Die Idee der offenen Gesellschaft ist in Deutschland keine Realität.
Dass sich Journalisten als Elite verstehen, die ihren Lesern und Zuschauern Regierungshandeln vermitteln, stellt eine umfassende Repräsentationskrise dar, durch die die ohnehin schon vorhandene politische Repräsentationskrise noch verstärkt wird. Immer größere Teile der deutschen Gesellschaft finden sich in Medien und Politik nicht wieder. Der große Teil der bürgerlichen Gesellschaft bleibt ausgeschlossen und wird zum Objekt journalistischen Tuns. Es gilt, ihn zu belehren, zu erziehen und zu domestizieren. Der Aspekt, Journalismus als Kommunikation von Bürgerwillen an die politische Macht zu verstehen, ist in Deutschland nicht mehr präsent. Der deutsche Journalismus hat die Seiten gewechselt und ist Teil eines immer repressiver agierenden Machtapparats geworden, den er in einer funktionierenden Demokratie kritisch begleiten würde.
Als der frühere deutsche Finanzminister Wolfgang Schäuble während der Finanzkrise den widerspenstigen Griechen klarmachte: "Wahlen ändern nichts", produzierte das noch einen kleinen Aufreger. Die griechischen Wähler hatten sich erlaubt, mit SYRIZA ein Linksbündnis in die Regierung zu wählen, das versprochen hatte, die von der EU und allen voran Deutschland oktroyierte Austeritätspolitik zu korrigieren und neu zu verhandeln.
"Wir wollen mit der neuen Regierung zusammenarbeiten, aber die Wahlen ändern nichts an den Regeln und Bedingungen", dozierte Schäuble und verschärfte den aufgezwungenen Sparkurs gegen Griechenland nochmals deutlich. Als Beobachter konnte man sich des Eindrucks nicht erwehren, Schäuble handele aus persönlichen Motiven und trachte nach nichts weniger als einer Bestrafung des griechischen Volkes wegen einer in seinen Augen falsch getroffenen Wahl.
Was Schäuble hier in einer Art Tabubruch in seiner Wählerverachtung zum ersten Mal öffentlich artikulierte, war jedoch lediglich das Selbstverständnis einer wirtschaftsliberalen Elite, die in demokratischen Prozessen eine Gefahr für das ihrem eigenen Wohlstand und Status dienliche Wirtschaftsmodell sieht.
Inzwischen ist Schäubles antidemokratische Haltung Grundprinzip der EU und Deutschlands. Wählerwille wird diskriminiert, wenn das Ergebnis nicht den Vorstellungen einer kleinen, gut vernetzten politisch-medialen Elite entspricht. Trump, AfD, Lukaschenko, Putin – die Wähler sind dumm und wählen zu häufig die falsche Seite, ist die in dieser Gruppe vorherrschende Annahme.
Die liberale Elite glaubt sich daher im Recht, diese Ergebnisse in ihrem Sinne korrigieren zu dürfen. Die Einmischung westlicher Länder in die inneren Angelegenheiten anderer Staaten, mit dem Ziel dort Änderungen im Wählerverhalten bis zu Umstürzen im Interesse westlicher, vermeintlicher liberaler Werte auszulösen, macht dies nur zu deutlich. Wahlen und demokratische Prozesse sind nur dann zu unterstützen, wenn sie ein dem westlichen Liberalismus genehmes Ergebnis produzieren.
Auch die in Deutschland offen vorgetragene Verachtung von Wählern der AfD passt in dieses Bild. Sie werden kollektiv verunglimpft. Es gelingt nicht, den sich darin ausdrückenden Wählerwillen zu respektieren und politisches Handeln darauf auszurichten. Diskussionen werden verweigert. Die Motivation der Wähler und ihre Entscheidung werden undifferenziert verallgemeinert und verschlagwortet.
In einer paradoxen Umkehr wird die Einschränkung von Demokratie und Grundrechten gefordert und immer häufiger durchgesetzt, mit der Begründung, dadurch den Liberalismus, die Demokratie und ihre freiheitlichen Werte zu schützen. Die Unfähigkeit einer kleinen gesellschaftlichen Gruppe zum demokratischen Kompromiss wird mit moralischer Hybris getarnt und gibt sich als Sorge um Demokratie und Freiheit aus. Sie ist aber offenkundig das genaue Gegenteil. Der Liberalismus in seiner aktuellen Form verachtet demokratische Prozesse, denn er sieht darin eine Gefahr für sich selbst.
In Deutschland wird das besonders auffällig. Die NGOisierung der Politik dient ausschließlich dem Erhalt des Status quo – dem Transatlantizismus, dem Erhalt von Einfluss und Macht. Durch Nichtregierungsorganisationen, vielfach unterstützt von finanzstarken Geldgebern oder aus Steuermitteln finanziert, wird ein Elitendiskurs gefördert, der sich von den tatsächlichen Bedürfnissen und Belangen des eigentlichen Souveräns immer weiter abkoppelt und sich gegen die Interessen der Mehrheit richtet. Es ist ein Diskurs, der sich gegen jegliche Aufklärung richtet und der über Emotionalisierung und unter Ausklammerung von Fakten den Status quo zementiert.
Spätestens die Verunglimpfung von Kritikern der Corona-Maßnahmen durch Politik und Medien brachte es an den Tag. Es geht längst nicht mehr um einen breit geführten öffentlichen Diskurs, um das Ausloten und Finden von Kompromissen, in denen sich möglichst viele wiederfinden können. Vielmehr geht es um ein autoritäres Aufdrücken von vorgefertigten Wahrheiten durch einen eng gehaltenen Korridor zugelassener Meinungen. Alles außerhalb davon wird verunglimpft. Der Liberalismus verteidigt nicht die Demokratie. Deutschland ist auf dem Weg in die Repression.
In der Ukraine-Krise nimmt das noch einmal verstärkte Form an. Andere Sichtweisen werden diskriminiert und ausgegrenzt. Journalisten wie der renommierte Investigativ-Journalist Patrik Baab verlieren ihre Existenzgrundlage, wenn sie nicht das offizielle Narrativ bedienen. Eine Diskussion über die Vorgeschichte des Konflikts und Forderungen nach diplomatischen Konfliktlösungen sowie die mutmaßlichen Kriegsverbrechen der Ukraine werden systematisch unterdrückt. Die veröffentlichte Meinung weist den Weg in Richtung Eskalation des Konflikts als vermeintlich alternativlos. Hier zeigt sich kein freiheitlicher Liberalismus, hier zeigt sich ein autoritäres System.
Während "autoritäre Regime" wie Russland in einem deutlich engeren Dialog mit Bürgern und Bürgerinnen stehen und zur Kurskorrektur bereit sind, ist es die liberale Demokratie schon längst nicht mehr. Der eingeschlagene Kurs muss dem Bürger vermittelt werden. Er wird auf jeden Fall und gegen alle Widerstände gehalten.
Die liberale Demokratie in Deutschland in ihrer aktuellen Ausprägung hat inzwischen in vielen gesellschaftlichen Bereichen deutlich autoritärere Züge angenommen als die vermeintlich autoritären Systeme, zu denen sich Deutschland in Konkurrenz sieht. Eine Korrektur des eingeschlagenen Kurses ist dabei nicht in Sicht.
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