Von Seyed Alireza Mousavi
Der Kriegsbeginn in der Ukraine im Februar 2022 kam nicht so überraschend, wie in westlichen Medien oft behauptet wird. Im Grunde war das abgelaufene Jahr der Höhepunkt geopolitischer Entwicklungen, die sich seit Langem abgezeichnet hatten. Dabei ist eine Machtverschiebung vom säkularisierten Westen hin zu neuen Kraftzentren vor allem in Asien zu beobachten. Der Westen wird aber erst jetzt die Auswirkungen seiner Expansionspolitik der letzten Jahrzehnte in seinem geografischen und kulturellen Territorium erleben, während er sich derzeit aus Schwäche Stück für Stück von der Weltbühne zurückzieht. Von der Aufteilung des Nahen Ostens im geheimen Sykes-Picot-Abkommen über die in aller Welt durchgeführten Militärinterventionen der NATO bis zur Erleichterung der Masseneinwanderung angesichts des demografischen Niedergangs versuchte der Westen, seine Hegemonie langfristig zu sichern. Damit hat er aber faktisch ethnische und ideologische Bruchstellen der restlichen Welt in seine Gesellschaft importiert, von denen er sich nicht einfach befreien kann.
In den vergangenen Wochen hat Europa bürgerkriegsähnliche Zustände und Gewaltfantasien erlebt. Während der Silvester-Krawalle mit Angriffen durch Migranten auf Polizisten und Feuerwehrleute in Berlin, die die Gemüter schockierten, fachte der jüngste Anschlag auf ein kurdisches Kulturzentrum durch einen französischen Rassisten in Paris den importierten Konflikt zwischen Kurden und der Türkei auf europäischem Boden neu an. Kurz vor dem Vorfall fantasierte der bekannte französische Schriftsteller Michel Houellebecq in einem Interview über "echte Franzosen", die sich bewaffnen, um "Attentate in Moscheen zu veranstalten".
Die Berliner Silvesternacht war nicht die erste Nacht, in der sich eine solche Kriminalität austobte. Doch das Ausmaß der Mob-Gewalt in diesem Jahr hat die Menschen in der Hauptstadt in Angst und Panik versetzt. Polizisten, Rettungssanitäter und Feuerwehrleute wurden systematisch und gezielt in Hinterhalte gelockt, wobei Raketen mit Absicht horizontal auf sie geschossen wurden. Die Brutalität der Randale machte auch vor Verletzten in Krankenwagen nicht halt. Es seien insgesamt 18 verschiedene Nationalitäten erfasst worden. Unter den Festgenommenen waren laut Polizei vor allem Afghanen und Syrer. Ausgerechnet aus jenen Ländern, die durch die NATO und deren Stellvertreter in den vergangenen Jahren bombardiert wurden. Die Bundesregierung hatte unter dem geprägten Begriff "Willkommenskultur" 2015 auf einen Schlag einige Hunderttausend Flüchtlinge und Migranten ins Land einwandern lassen. Die Silvesternacht hat potenzielle Bruchlinien der heutigen Gesellschaft in Deutschland, in der Parallelgesellschaften sich rasant entwickeln, offenbart.
Drei Menschen starben Ende Dezember bei dem Anschlag durch einen französischen Rassisten auf das Pariser Kurdenzentrum. Nach dem tödlichen Angriff forderten die Kurden Aufklärung. Bei ihren Demos in Paris kam es zu Zusammenstößen mit den Sicherheitskräften. Obwohl der Anschlag offenbar durch einen Franzosen verübt wurde, wertete der Demokratische Kurdische Rat in Frankreich (CDK-F) als Dachverband von 24 kurdischen Vereinen den Angriff als terroristische Attacke, zu der es nach zahlreichen türkischen Drohungen gekommen sei. Daraufhin bestellte Ankara den französischen Botschafter ein. Ihm wurde vorgehalten, Frankreich dulde "türkeifeindliche Organisationen" auf seinem Staatsgebiet. Das Misstrauen unter den etwa 300.000 Kurden in Frankreich ist auch deswegen so groß, weil die Justiz die Ermordung der drei Kurden Sakine Cansız, Fidan Doğan und Leyla Söylemez vor zehn Jahren nie aufgeklärt hat. Die Feindseligkeit zwischen Türken und Kurden in Frankreich nimmt gerade zu. Im November 2019 kritisierte Macron den "Hirntod der NATO", da sie zulasse, dass die Türkei Militäraktionen gegen die kurdischen Verbündeten in Syrien führe.
Die jüngsten Eskalationen gehen derweil nicht nur von Migranten und Abgehängten aus, sondern es radikalisieren sich auch Personen des öffentlichen Lebens aus der Mitte der Gesellschaft. Der französische Schriftsteller Houellebecq stiftete kürzlich zu Hass an. In einem in der Zeitschrift Front Populaire abgedruckten Gespräch mit dem Philosophen Michel Onfray attackierte Houellebecq Muslime in Frankreich. Der Islamkritiker kleidete seinen Angriff auf die Muslime Frankreichs diesmal allerdings in die Fantasie-Form. "Wenn ganze Gebiete unter islamischer Kontrolle sind, dann wird es, so denke ich, zu Widerstandsakten kommen. Es wird Attentate und Schießereien in Moscheen und in den von Muslimen besuchten Cafés geben, kurz: umgekehrte Bataclans." Der Rektor der Großen Moschee in Paris, Chems-Eddine Hafiz, geht angesichts dieser Äußerungen nun juristisch gegen Houellebecq vor.
Während Parallelgesellschaften und in den Westen importierte Konflikte in Europa vor allem angesichts der aktuellen wirtschaftlichen Missstände immer sichtbarer werden, radikalisiert sich als Gegenreaktion auch die Mitte der Gesellschaft. Die Elite wird die zunehmenden Spannungen zur Verschärfung der Regeln und Beschränkungen der bürgerlichen Freiheit nutzen, was wiederum das Problem nicht löst, sondern immer mehr verschlechtert.
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