Von Timofei Bordatschow
Der dramatischste und einzigartigste Aspekt der aktuellen Lage in der internationalen Politik besteht darin, dass wir nicht auf die Fähigkeit eines einzelnen Staates oder einer Gruppe ausreichend mächtiger Länder zählen können, in Zukunft eine Führungsrolle zu übernehmen. Daher ist es für uns schwer vorstellbar, wer Staaten dazu zwingen wird, die Verhaltensregeln in der Außenpolitik einzuhalten und wie solche Forderungen überhaupt durchgesetzt werden können. Tatsächlich ist die Frage, warum sich Staaten an Vorschriften halten sollten, die grundlegendste in der politischen Philosophie. Und trotz aller Unvollkommenheit der Methoden der Macht, hat die Menschheit noch immer keinen anderen Weg gefunden, ihre Ziele bisweilen nur durch Anwendung von Gewalt zu erreichen.
In den vergangenen 500 Jahren wurden die Regeln der internationalen Außenpolitik innerhalb der engen Gemeinschaft westlicher Länder geschaffen, zunächst in Europa, bevor im 20. Jahrhundert die USA hinzukamen, was zu der nötigen Macht für die Durchsetzung des Systems verhalf. Zunächst geschah dies durch die Machtbalance zwischen führenden europäischen Staaten, denen sich 1762 auch Russland anschloss. Nachdem Frankreich nach der Revolution die in der Mitte des 17. Jahrhunderts entstandene internationale Ordnung bedrohte, wurde die Kontrolle über die Regeln in der Außenpolitik zur Angelegenheit einer kleinen Gruppe großer Imperien. Sie besiegten unter der Führung von Russland und Großbritannien Napoleon und schufen 1815 eine Ordnung, die im Kern eine allgemeine Verabredung beinhaltete, dass ein Ausbrechen in internationalen Angelegenheiten inakzeptabel sei.
Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts war die Politik weltumspannend geworden, aber dennoch konnten die europäischen Mächte, einschließlich Russland, den Rest der Weltgemeinschaft immer noch durch rohe Gewalt und durch eine kolossale militärisch-industrielle Überlegenheit dominieren. Die dramatischen Ereignisse zwischen 1914 und 1945 brachten dann die USA an die Spitze der Weltpolitik, als Führungsmacht der westlichen Gemeinschaft auf globaler Ebene.
Internationale Institutionen, beginnend mit den Vereinten Nationen, wurden mit dem vorrangigen Ziel gegründet, die Monopolstellung des Westens zu bewahren. Dies erforderte jedoch die Entstehung formeller Rechtsinstitutionen in Form des Völkerrechts oder auch die Beteiligung der Sowjetunion und Chinas im höchsten UNO-Gremium, dem UN-Sicherheitsrat, obwohl beide den Interessen der USA und jenen Westeuropas von Natur aus feindlich gegenüberstanden.
Die institutionelle Form der westlichen Dominanz ist übermächtig geworden, und die Hauptfrage ist nun, ob sie bewahrt werden kann. Der Zusammenbruch der Machtposition der USA und der EU in der internationalen Politik zieht daher nicht nur einen Wechsel in der Führung nach sich, sondern auch eine (notwendige) Revision der bestehenden Institutionen und Regeln auf globaler Ebene. Mit anderen Worten, die gesamte formale internationale Ordnung, die nach dem Zweiten Weltkrieg – und in Wirklichkeit bereits in den vergangenen Jahrhunderten – entstanden ist, wird aufhören zu existieren.
Die bisherige formale internationale Ordnung basierte auf einem sehr besonderen System von Rechten und Privilegien für eine begrenzte Gruppe von Großmächten und später auf der Illusion von Fairness in internationalen, von der UNO geführten Institutionen. Es war dieses System, das dann die Rolle des wichtigsten Legitimationsprinzips der bestehenden Weltordnung spielte, obwohl es in der Praxis zunehmend verdrängt wurde durch die Macht des Westens, den entscheidenden Einfluss auf das Weltgeschehen auszuüben.
Daher wird sich der Zusammenbruch internationaler politischer Institutionen sehr wahrscheinlich als Folge der schwindenden Machtbasis des Westens erweisen, deren Präsenz seit mehreren Jahrhunderten unangefochten war. Wir sind jetzt Zeugen der Zerstörung sowohl der formalen als auch der realen Grundlagen der internationalen Ordnung. Dieser Prozess ist aller Voraussicht nach nicht mehr aufzuhalten. Die kommende Periode wird eine Zeit der Definition der neuen globalen Machtbasis sein, und es ist noch schwer zu sagen, welche Akteure in welchem Umfang daran beteiligt sein werden.
Wichtig zu beachten ist, dass die führenden Staaten der Gegenwart – die USA, Russland, China und Indien – nicht nah beieinander liegen, was die Werte und das Verständnis der Grundprinzipien internationaler Regeln angeht. Das größte Problem war bisher das Verhalten der USA und einiger westeuropäischer Länder, die aus innenpolitischen Gründen eine aggressive Politik nach außen verfolgen. Diese Staaten haben einen sehr beunruhigenden Weg qualitativer Veränderungen in grundlegenden Fragen eingeschlagen, was die sozialen, geschlechtsspezifischen und folglich politischen Strukturen jeder Gesellschaft betrifft. Für die meisten anderen Zivilisationen ist dieser Weg eine Herausforderung und wird wohl abgelehnt werden.
Wir wissen auch nicht, inwieweit die innere Entwicklung des Westens – wie in früheren Perioden – von der Verbreitung seiner Ideale abhängt. Für den Fall, dass im Westen jetzt aufkommenden Trends – wie etwa die Französische Revolution, der Bolschewismus oder der Faschismus – nicht nur die Anerkennung von anderen, sondern eine globale Expansion bewirken werden, wird die Zukunft sehr besorgniserregend. Wir können bereits jetzt sehen, dass der Konflikt zwischen den vom Westen bevorzugten Werten und den Werten einer Reihe von nicht-westlichen Staaten, zur Verschärfung in den außenpolitischen Beziehungen führt.
Es wäre jedoch ein Fehler zu hoffen, dass die anderen Groß- und Mittelmächte, die dem Westen gegenüberstehen, in ihrem Verständnis für die Grundlagen der Gerechtigkeit völlig einig sind. Auch wenn Russland, Indien, China oder Brasilien mittlerweile ein gemeinsames Verständnis für die Grundprinzipien einer "richtigen" Weltordnung zeigen, so heißt das noch nicht, dass sie die gleiche Vision einer besseren Ordnung teilen. Dies gilt umso mehr für die Staaten der islamischen Welt und andere große Entwicklungsländer. Ihre konservativen Werte stehen oft im Konflikt mit denen des Westens, was jedoch nicht bedeutet, dass sie untereinander eine Einheit bilden.
Mit anderen Worten, die neue internationale Ordnung wird zum ersten Mal ohne verlässliche Verbindung zwischen den eigenen Ambitionen der führenden Mächte sein. Und dies ist in der Tat eine qualitative Veränderung, im Vergleich zu allen von uns besprochenen historischen Epochen. Ein solches Phänomen erscheint sehr wichtig, weil wir keine Erfahrung damit haben zu verstehen, wie sich die Beziehungen zwischen Staaten unter solchen Bedingungen entwickeln werden. Rohe Gewalt könnte die einzige relativ greifbare Grundlage für die Durchsetzung der neuen internationalen Ordnung werden, aber dies reicht möglicherweise nicht aus, um die von ihr auferlegten Bedingungen nachhaltig oder auch nur kurzfristig zu gestalten.
Ein weiteres einzigartiges Merkmal der heutigen revolutionären Situation ist, dass die Revision der internationalen Ordnung nicht von einer oder einigen wenigen Mächten vorangetrieben wird – sie ist nun eine Angelegenheit der Mehrheit der ganzen Menschheit geworden. Die Länder, die etwa 85 Prozent der Weltbevölkerung ausmachen, sind auf die eine oder andere Weise nicht mehr bereit, unter Bedingungen zu leben, die ohne ihre direkte Beteiligung geschaffen wurden. Allerdings wird ihr Widerstand oft ohne klare Forderungen geäußert und hängt von den Fähigkeiten zur Machtausübung der jeweiligen Staaten ab. Was aus Sicht von Russland oder Iran wie mangelnde Entschlossenheit im Umgang mit den USA aussieht, mag für Kasachstan oder ein anderes, relativ junges souveränes Land, wie eine große Herausforderung erscheinen – schließlich wurde ihr gesamtes sozioökonomisches System unter Bedingungen quasikolonialer Ausbeutung geschaffen.
Die fragilen Staaten Afrikas oder des ehemaligen sowjetischen Raums sind weit weniger in der Lage, sich so konsequent wie die prosperierenden Monarchien am Persischen Golf zu verhalten. Selbst China, mittlerweile die zweitstärkste Wirtschaftsmacht, ist sich seiner Schwächen bewusst. Aber all das ändert nichts am Wichtigsten: Auch wenn die Zerstörung des bestehenden Status quo eher durch eine weiche Zersetzung als durch eine entschlossene Militäraktion erfolgt, spiegelt sie nicht einfach eine allgemeine Unzufriedenheit mit dem westlichen Autoritarismus wider, sondern schafft eine neue Ordnung. Und deren Grundzüge sind noch immer unbestimmt.
In den kommenden Jahren werden die meisten Länder der Welt versuchen, im eigenen Interesse das Beste aus der Schwächung der bisherigen Machtbasis in der internationalen Politik zu machen. Bisher stellen diese Aktionen einen konstruktiven Konflikt dar, da sie objektiv ein System untergraben, das auf unglaublicher Ungerechtigkeit basiert.
Mit der Zeit jedoch wird der Block USA-EU schwächer werden und sich selbst isolieren, während Russland oder China niemals stark genug sein werden, um diese Machtposition zu übernehmen. Und in der Perspektive der nächsten 10 bis 15 Jahre wird die internationale Gemeinschaft vor dem Problem stehen, das Machtmonopol des Westens durch neue universelle Zwangsinstrumente zu ersetzen, deren Art und Inhalt uns bisher noch unbekannt sind.
Übersetzt aus dem Englischen
Timofei Bordatschow ist Programmdirektor beim Waldai-Club. Als Forscher ist er auf internationale Beziehungen und aktuelle Fragen der Weltpolitik sowie auf die russisch-europäischen Beziehungen spezialisiert.
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