Von Dmitri Kuzmin
Das heutige Russland ist praktisch das einzige christliche Land der Welt, in dem die Neujahrsfeierlichkeiten wichtiger sind als die eigentlichen Weihnachtsfeiern, die nach orthodoxem Kalender am 7. Januar gefeiert werden. Während im Westen die Menschen am 24. oder 25. Dezember ihre Geschenke auspacken, sind die Russen noch mit den Vorbereitungen eines bevorstehenden Festtags beschäftigt, der, wenn er dann da ist, von uralten Traditionen durchzogen ist und fast zwei Wochen dauert.
Russlands Neujahr: Eine kurze geschichtliche Abhandlung
Um zu verstehen, warum Neujahr in Russland zu einem besonderen Fest geworden ist und was es von Neujahrsfeiern in anderen Ländern unterscheidet, müssen wir zunächst in die Geschichte dieses Feiertags eintauchen.
Im Jahr 1700 schloss sich Russland, nach einem Erlass von Zar Peter dem Großen, der gesamteuropäischen Tradition an, das neue Jahr in der Nacht vom 31. Dezember zum 1. Januar zu feiern. Zuvor wurde in Russland Neujahr am 1. März gefeiert, dann, wenn die Zeit gekommen war, sich auf die neue Saison der landwirtschaftlichen Feldarbeit vorzubereiten. Trotz des Erlasses des Zaren synchronisierte sich Russland jedoch nicht vollständig mit dem Rest von Europa – das Land funktionierte damals nach dem alten julianischen Kalender, während die meisten europäischen Länder bereits auf den gregorianischen umgestellt hatten. Daher begann das neue Jahr in Russland 13 Tage später. Dies wurde zu einem Schlüsselaspekt, der die modernen Traditionen der Neujahrsfeiern in Russland beeinflusste.
Dank Peter dem Großen rückte das neue Jahr näher an Weihnachten. In den nächsten zweihundert Jahren ähnelten die Neujahrs- und Weihnachtsfeiern in Russland denen in Westeuropa. Der Unterschied bestand nur in der religiösen Form: Russland folgte dem christlich-orthodoxen Kanon, während Frankreich und Deutschland dem katholischen oder protestantischen Kanon folgten.
Alles änderte sich mit der Oktoberrevolution, dem Sturz des Zaren und der Gründung der UdSSR. Die Bolschewiken führten in den ersten Jahren nach der Revolution mehrere Reformen durch, die sich direkt darauf auswirkten, wie Russland heute im 21. Jahrhundert Neujahr feiert.
Am 26. Januar 1918 erließ der Rat der Volkskommissare Russlands ein Dekret über den Übergang zum gregorianischen Kalender. Infolgedessen feierte das Land den Beginn des Jahres 1919 gleichzeitig mit Westeuropa. 1929 wurde das Neujahrsfest offiziell "abgesagt". Obwohl Neujahr zu diesem Zeitpunkt ein völlig eigenständiger weltlicher Feiertag geworden war, wurde es in vielen Häusern privat gefeiert. Auch 1924, kurz vor Lenins Tod, wurde ein Christbaumfest für Kinder abgehalten. Aber nach 1929 wurde das wichtigste christliche Datum aus dem Kalender gestrichen und existierte ausschließlich in den Häusern religiöser Menschen. Gleichzeitig hat die orthodoxe Kirche nicht auf den gregorianischen Kalender umgestellt, und daher wird das orthodoxe Weihnachten immer noch am 7. Januar gefeiert – und nicht am 25. Dezember.
Die Tradition, einen Weihnachtsbaum zu schmücken, tauchte ebenfalls mit dem Erlass von Peter dem Großen auf und war wie in anderen Ländern an den Feiertag gebunden. Als Weihnachten in der Sowjetunion "abgesagt" wurde, wurden für eine Weile auch Weihnachtsbäume "abgesagt". Sie galten als Ausdruck einer "bürgerlichen" Existenz, da es sich nur wohlhabende Leute leisten konnten, einen im Haus aufzustellen und zu schmücken. Dennoch wurden festliche Symbole – der Weihnachtsbaum, Geschenke und "Djed Moros"– oder Väterchen Frost – im Laufe der Zeit säkularisiert und fest mit Neujahr verknüpft.
Allmählich wurden Neujahrsfeiern bei allen Familien im ganzen Land beliebt und 1935 wurde Neujahr zum ersten Mal auf staatlicher Ebene gefeiert. Somit ist das Neujahr, das die Russen heute feiern, ein relativ junger Feiertag. Er ist nicht einmal hundert Jahre alt. Nichtsdestotrotz haben sich die Neujahrstraditionen in einem historisch so kurzen Zeitraum fest in die russische Seele und Kultur eingebrannt.
Sowjetisches Erbe
Die UdSSR hat vor über 30 Jahren aufgehört zu existieren, aber das moderne Neujahr ist ein sowjetischer Feiertag geblieben. Obwohl eine jüngere Generation Neujahr auf ihre eigene, neue Weise feiert, halten sich die meisten Russen immer noch an sowjetische Traditionen – manchmal ohne es überhaupt zu bemerken.
Das neue Jahr wird seit Ewigkeiten mit mehreren Symbolen in Verbindung gebracht, aber hinter jedem steckt eine eigene Geschichte. Der Neujahrsbaum, Geschenke und Väterchen Frost sind allesamt alte Symbole des Neujahrs, die als Teil der weltlichen Feier neu interpretiert wurden. Erst im Jahr 1937 wurde die Figur der Snegurotschka (Schneeflöckchen), die Enkelin und Assistentin von Väterchen Frost, in die russische Feiertagstradition aufgenommen. Ursprünglich war Snegurotschka eine Figur aus der russischen Folklore. Sie inspirierte viele Volksmärchen und Werke. Vor den Jahren der UdSSR war Snegurotschka nie ein Symbol für Neujahr, obwohl Figuren von ihr an Weihnachtsbäumen aufgehängt wurden. Heute können wir uns Väterchen Frost ohne Snegurotschka gar nicht mehr vorstellen.
Die Neujahrsaufführungen der Kinder wurden unter den Bürgern der Sowjetunion einfach als "Neujahrsbäume" bekannt. Bis heute finden solche Aufführungen in allen russischen Städten während der Neujahrsferien statt. Der Satz "Morgen bringe ich das Kind zum Neujahrsbaum" verweist eindeutig auf eine theatralische Neujahrsaufführung für Kinder. Am Ende des Unterhaltungsteils verteilen die Organisatoren unter den Kindern Geschenke, meist Süßigkeiten.
Die aktive Förderung des säkularen Neujahrs in der UdSSR wirkte sich zwangsläufig auf Literatur, Musik und Kino aus. 1939 wurde die Geschichte des populären Schriftstellers Arkady Gaidar "Tschuk und Gek" veröffentlicht. Die Geschichte handelt davon, wie eine Frau mit zwei Söhnen von ihrem Mann, der als Geologe in Sibirien arbeitet, eine Einladung erhält, mit ihm das Neujahr zu verbringen. In der Nachkriegszeit der 1950er Jahre griffen sowohl das Kunstkino als auch der Animationsfilm das Thema Neujahr auf. "Tschuk und Gek" wurde als Animationsfilm veröffentlicht, ebenso wie die Animationsfilme "12 Monate", "Die Nacht vor Weihnachten" und "Die Schneekönigin".
Im Jahr 1956 kam der große Hit "Karnevalsnacht" auf die sowjetischen Kinoleinwände. Dies war der erste Film des renommierten Regisseurs Eldar Rjazanow und die erste große Rolle des Superstars des sowjetischen Kinos, Lyudmila Gurtschenko. "Karnevalsnacht" wurde in sowjetischen Familien zu einem traditionellen Neujahrsfilm. Das von Gurtschenko aufgeführte Lied "Fünf Minuten" ist nach wie vor einer der beliebtesten Neujahrshits in Russland.
Anscheinend hat Eldar Rjazanow die perfekte Formel für einen Neujahrsfilm für sowjetische und russische Zuschauer gefunden. Knapp 20 Jahre später, 1975, drehte der Regisseur den bis heute beliebtesten Neujahrsfilm Russlands: "Die Ironie des Schicksals, oder: genießen Sie Ihr Bad!". Der Film wurde umgehend im Fernsehen veröffentlicht – die Premiere wurde am 1. Januar 1976 gezeigt. Im Laufe der Zeit hat sich eine Tradition entwickelt, den Film jedes Jahr an Silvester auf staatlichen Kanälen zu senden, in etwa wie im Westen "Dinner for One". Das hält sich immer noch. Vor einigen Jahren sprach sich der Hauptdarsteller des Films, Andrei Mjagkow, dagegen aus, ihn jedes Jahr zu Neujahr zu zeigen, aber sein Vorschlag stieß auf taube Ohren.
In Russland gibt es eine Reihe von Filmen, die immer während der Neujahrsferien ausgestrahlt werden. Nicht alle von ihnen sind Filme zum Thema Neujahr. Neben "Die Ironie des Schicksals" und "Karnevalsnacht" erfreuen sich die Urlaubsfilme "Zauberer" und "Gentlemen des Glücks" großer Beliebtheit. Auch alte populäre Komödien, hauptsächlich jene unter der Regie von Leonid Gaidai, werden zu Neujahr immer wieder im Fernsehen gezeigt: "Die diamantene Hand", "Der kaukasische Gefangene", "Operation Y" und "Iwan Wassiljewitsch wechselt seinen Beruf". Die Tradition, das neue Jahr mit der Familie am Tisch und am Fernseher zu feiern, wurde dank der Bemühungen der Fernsehsender in den 1950er und 1960er Jahren, als viele gute Filme, Animationsfilme und Programme herauskamen, weitgehend gestärkt.
Im Jahr 1962 ging das Programm "Kleines blaues Licht" auf Sendung. Dies war eine Show, bei der Prominente in entspannter Atmosphäre an Tischen im Stil einer Brasserie saßen und den Darbietungen lauschten – oder selber etwas darboten. Die Gastgeber gingen von Tisch zu Tisch und führten Gespräche, Künstler trugen Lieder vor, Dichter lasen Gedichte vor. Anfangs war es ein Wochenprogramm, doch im Laufe der Zeit wurde aus dem "kleinen Blauen Licht" ausschließlich ein ausgedehntes Silvesterprogramm.
In den 90er Jahren gingen viele neue Fernsehsender auf Sendung, von denen alle ihre eigene Version von Neujahrssendungen anboten. Einige waren erfolgreicher, andere weniger. Konstant geblieben ist, dass bis heute viele Russen den Jahreswechsel zu Hause vor dem Fernseher feiern.
Mandarinen und Olivier-Salat
Der Esstisch ist in Russland das Zentrum der festlichen Neujahrsfeiern. Und wieder einmal stammen die unveränderlichen Attribute der festlich gedeckten Tafel aus der Sowjetunion. Es gibt vielleicht drei Säulen, auf denen die sowjetische Tradition basiert: Sekt, Olivier-Salat und Mandarinen. Natürlich gibt es noch andere beliebte Speisen. Aber ohne Olivier-Salat und Mandarinen fühlt es sich irgendwie "unpassend" an, das neue Jahr zu feiern.
Olivier-Salat ist eine Kreation der sowjetischen Küche. Als Erfinder des Salats gilt der Franzose Lucien Olivier, aber was der Koch im 19. Jahrhundert kredenzte, unterscheidet sich deutlich vom Salat im modernen Russland. Wie viele andere Gerichte der sowjetischen Küche hat sich auch der Olivier-Salat als sehr reichhaltiges Gericht herausgestellt und eignet sich entweder als Beilage oder als Vorspeise. Alle Zutaten konnten im Laden gekauft werden, sogar in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre – in den Jahren der Knappheit. Der Salat war deshalb festlich, weil die Zubereitung viel Zeit in Anspruch nahm und die Zutaten dafür in der UdSSR nicht billig waren. Trotzdem waren Kartoffeln, Karotten, Eier, Wurst, Gurken und Dosenerbsen immer leicht zu finden.
Mandarinen wurden auch aus ganz praktischen Gründen zu einem Symbol für Neujahr. In Russland und der UdSSR waren Früchte saisonabhängig. In den Wintermonaten gab es immer einen Mangel an Zitrusfrüchten. Diese waren nur in den südlichen Regionen erhältlich, in denen sie angebaut wurden. Im Rest der Sowjetunion waren sie ein seltenes und teures Produkt. Aber in den 1960er Jahren baute Moskau enge Handelsbeziehungen mit Marokko auf und begann mit dem Import von Mandarinen. Sie kamen jeweils gerade rechtzeitig für die Neujahrsfeiern an. Und so wurden Mandarinen zur einzigen Zitrusfrucht, die mitten im Winter erhältlich war.
Der russische Esstisch an Neujahr ist für mehrere weitere Gerichte bekannt, die für die UdSSR charakteristisch waren. Darunter der Salat mit dem Namen "Mimosa", "Vinaigrette" und "Hering im Pelzmantel".
In der UdSSR konnten die Menschen mit nur wenigen Zutaten etwas Besonderes kreieren und kochen. Der Hauptbestandteil des Mimosa-Salats ist also gewöhnlicher roter Fisch aus der Dose, nämlich rosa Lachs – die billigste Sorte. Sowohl Vinaigrette als auch "Hering im Pelzmantel" basieren auf Rote Bete, die zu jeder Jahreszeit erhältlich ist, sowie auf einigen Zutaten, die im Olivier-Salat enthalten sind. Ende der 1980er-Jahre gab es jedoch aufgrund von Mangel an Heringen Schwierigkeiten bei der Zubereitung des Salats. Viele haben ihn dann trotzdem zubereitet, lediglich ohne den Fisch.
Zu ähnlichen Tricks griff man bei der Zubereitung des Nachtischs. Es war sehr schwierig, einen echten Kuchen aus Biskuit zu backen, da bestimmte Zutaten fehlten. Aber die Sowjets haben es geschafft, mehrere Kuchen und Desserts zu erfinden. Zum Beispiel wurde das "Hüttenkäsehaus" aus Butterkeksen und gesüßtem Hüttenkäse hergestellt, während "Schokoladenwurst" aus den gleichen Keksen mit Kakao, Wasser und Butter hergestellt wurde. Egal wie einfach und unprätentiös das klingen mag, die Gerichte waren köstlich und sowohl Kinder als auch Erwachsene liebten sie.
Russland ist ein großes Land und verschiedene Regionen hatten ihre eigene Art und Weise, das neue Jahr zu feiern. Die Bewohner der Gebiete von Primorje und Kamtschatka im fernen Osten von Russland aßen aus geografischen Gründen meist Lachs, während die Menschen in Jakutien mit Stroganina – gefrorenem Fisch in lange Scheiben geschnitten – zufrieden waren. In der Region des südlich gelegenen Krasnodar waren Mandarinen völlig normal, während es in Astrachan am Kaspischen Meer kein Problem war, Stör zu bekommen. Trotzdem wurden der Olivier-Salat und Mandarinen in der Populärkultur stark mit dem neuen Jahr in Verbindung gebracht. Und in allen elf russischen Zeitzonen sehen sich die Menschen "Die Ironie des Schicksals" und "Gentlemen des Glücks" im Fernsehen an und gehen in den langen Ferien mit ihren Kindern zu den Aufführungen beim Neujahrsbaum.
Das alte neue Jahr
Russlands Tradition, das alte Neujahr zu feiern, ist nicht einzigartig, füllt aber immer noch eine Nische. Der Übergang Sowjetrusslands vom julianischen zum gregorianischen Kalender im Jahr 1918 wurde zum Hauptgrund für solch einen ungewöhnlichen Feiertag. Als sich der gesamte Kalender um 13 Tage verschob, entwickelte sich spontan die Tradition, das neue Jahr nach dem julianischen Kalender zu feiern. Dieses Datum fiel auf den 14. Januar. So erschien im Land das Konzept des alten Neujahrs, das viele Menschen immer noch in der Nacht vom 13. auf den 14. Januar feiern.
Das alte Neujahr ist jedoch keine rein volkstümliche Laune geblieben. Das Fernsehen passt sein Sendeprogramm dem Datum an. Einige Sender starten eine Wiederholung der Neujahrsshow, die zwei Wochen zuvor stattfand, während andere alte sowjetische Komödien ausstrahlen. Natürlich gibt es dieses Mal keine teuren Feierlichkeiten, da es kein offizieller Feiertag ist, aber viele Leute organisieren Themenabende. Heutzutage kann man am alten Neujahr noch gelegentlich Böller und Feuerwerke in den Hinterhöfen hören.
Die Tradition ist so tief im russischen Volk verwurzelt, dass 1980 ein zweiteiliger Film von Oleg Efremow, "Das alte neue Jahr", im Fernsehen erschien. Wie viele Filme aus Zeiten tiefer Stagnation ist das Bild gewürzt mit Lebensphilosophie, Krisen aus unterschiedlichen Epochen und mit Kommentaren zur Gesellschaft. Alle Ereignisse dieses Films finden in der Nacht zum 14. Januar statt, in der die beiden Hauptfiguren mit ihren jeweiligen Familien erst streiten und dann beschließen, das alte Neujahr gemeinsam zu feiern.
Im modernen Russland ist das neue Jahr zu einer Verschmelzung verschiedener Staaten und Epochen geworden: Der Weihnachtsbaum von Peter dem Großen, die sowjetische Küche, das Schneewittchen mit Wurzeln in Zeiten vor Peter dem Großen, die traditionellen Neujahrsfilme, der Julianische Kalender, Mandarinen und vieles mehr.
Aus verschiedenen Gründen kulminierten all diese Traditionen an einem Punkt – den Neujahrsfeiern. Und dies sind nicht nur ein oder zwei Festtage, sondern ein Zeitraum von zwei Wochen, in dem das ganze Land, oft unbewusst, völlig unterschiedliche und sogar diametral entgegengesetzte Traditionen ehrt. Es ist, als ob das russische Volk unbewusst das Beste absorbiert, was verschiedene Jahrhunderte zu bieten hatten und das Schlechteste davon im vergangenen Jahr zurücklässt.
Aus dem Englischen.
Dmitri Kuzmin ist ein russischer Filmkritiker und Mitarbeiter bei einem der besten Streaming-Dienste des Landes.
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