Vor 100 Jahren wurde die UdSSR gegründet – Ein Nachruf auf eine Realität gewordene Utopie

Am 29. Dezember vor 100 Jahren wurde die Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken (UdSSR), auch bekannt als Sowjetunion, gegründet. Sie hatte ihre Vorzüge und ihre Triumphe – und sie hatte düstere Züge, aus denen es Lehren zu ziehen gilt. Als Realität gewordene Utopie ist sie eigentlich ... unsterblich.

Von Anton Gentzen

Vor genau 100 Jahren, am 29. Dezember 1922, unterzeichneten die Delegationen der Sowjetkongresse der Russländischen Sowjetischen Föderativen Sowjetrepublik (RSFSR), der Ukrainischen Sozialistischen Sowjetrepublik (UkrSSR), der Belarussischen Sozialistischen Sowjetrepublik (BSSR) und der Transkaukasischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik (ZSFSR) in Moskau den Vertrag über die Gründung der UdSSR. Dieses Dokument wurde am 30. Dezember 1922 vom Ersten Allunionskongress der Sowjets gebilligt und von den Leitern der Delegationen unterzeichnet.

Dieses Datum gilt als der Tag der Gründung der UdSSR – eines Staates, der mit seinem alles entscheidenden Beitrag zum Sieg über Hitlerdeutschland und mit der Entsendung des ersten Menschen in den Weltraum nicht nur die Geschichte des 20. Jahrhunderts geprägt hat, sondern auch in den Geschichtsbüchern unserer Nachfahren in Tausenden von Jahren einen festen Platz haben wird. In etwa so, wie die Feldzüge Alexanders des Großen aus unseren Lehrbüchern nicht wegzudenken sind. Vorausgesetzt natürlich, die Menschheit existiert dann noch, und vorausgesetzt, die Geschichtsbücher werden von fairen und ehrlichen Autoren geschrieben. 

Keine 69 Jahre später, am 25. Dezember 1991, wurde an diesem Staatswesen durch ein Trio von Parteifunktionären "diagnostiziert", es habe nunmehr aufgehört zu existieren. Die letzten zwei dieser Totengräber segneten ausgerechnet im nun zu Ende gehenden Jahr das Zeitliche. Exakt so, denn "beschlossen" wurde die Auflösung der Sowjetunion auch nicht durch die Unterschriften der Trunkenbolde Jelzin, Krawtschuk und Schuschkewitsch. Ihre Unterschriften stehen "lediglich" unter der vereinbarten Gründung der nachfolgenden Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS), die den verunsicherten Bürgern als "erneuerte Union" verkauft wurde. Nur in der Präambel der GUS-Gründung wird die Nichtexistenz der UdSSR "festgestellt". Es gibt keinen Akt der Auflösung der Union, geschweige denn einen irgendwie durch irgendwen legitimierten.

Nein, ich behaupte nicht, dass die Sowjetunion rechtlich immer noch existiere, das wäre Rechtspositivismus. Letztlich wirkte in den folgenden Jahren das, was Franz Josef Strauß einst treffend als "Normative Kraft des Faktischen" bezeichnete: Die Realität erschafft sich das zu ihr passende Recht. Und so existieren heute – horrende Illegitimität der Auflösung hin oder her – 15 schwache Teilstaaten anstelle einer mächtigen und in mancherlei Hinsicht fortschrittlichen Union. Damit muss man sich leider abfinden – auch als jemand, der in eine andere Realität, in die sowjetische Realität eben, hineingeboren und diese als Normalität empfunden hat. Nebenbei angemerkt: Sich abfinden bedeutet nicht, auf Integrationsbemühungen zu verzichten. Die Geschichte hat ihren Lauf nicht beendet, und was sich einst trennte, kann später durchaus auch wieder zusammenfinden – Bismarck ist mein Zeuge … und Helmut Kohl. 

Gelingt das, so wird allerdings etwas Neues entstehen, nicht das Verlorene zurückkehren. Was von der alten Sowjetunion bleibt, ist die Erinnerung. Es sind auch die Lehren aus ihrem Erfolg und aus ihrem Scheitern, auch wenn die noch lange nicht alle gezogen sind. Und es ist Bitterkeit. 

Ja, Bitterkeit. Wer in der Lage ist, sich nicht nur an die Zustände in dem verschwundenen Land auf statische Weise zu erinnern, sondern es versteht, sich in die einstige Dynamik hineinzudenken, dem kann schwindelig und zugleich übel werden von der Vorstellung, was unserer Generation alles geraubt und gestohlen wurde. In Vorbereitung auf das Jubiläum habe ich mehrere Sci-Fi-Autoren aus Russland und der Ukraine gefragt, ob sie sich vorstellen könnten, in einer Kurzerzählung auszumalen, wie das Leben in der Sowjetunion heute wäre, würde sie noch existieren. Die hellen Köpfe winkten ab: Einerseits sei es selbst für ihre Phantasie zu hoch, andererseits treibe sie das, was sie sich vorstellen könnten, in Depressionen und Wut über das Ausmaß des Verlustes. Wir alle werden seit drei Jahrzehnten das Gefühl nicht los, ein fremdes, ein falsches Leben zu leben. Das unsrige, das echte wurde uns im Dezember 1991 geraubt.

In Ermangelung literarischen Talentes kann ich selbst solch eine Utopie tatsächlich nur anreißen, auf eine schnöde und technokratische Weise. Und auch dann nur unvollkommen, denn bis heute hat niemand zusammenzurechnen vermocht, wie viele Abertausende von Milliarden Euro oder Dollar seit 1991 aus allen Ländern der ehemaligen Sowjetunion geraubt und in den Westen ausgeführt worden sind.

Aber die Sowjetunion hatte durchaus wissenschaftlich begründete Pläne. Und sie pflegte diese Pläne zu erfüllen, wobei einem selbst jede Verzögerung um wenige Wochen als ein Scheitern, eine Katastrophe oder Schande vorkam. (Man erzähle dies einmal heute in Deutschland den Planern des Flughafens Berlin-Brandenburg oder des Stuttgarter Tunnelbahnhofs ...) So kann ich das Nachfolgende mit einem hohen Grad an Gewissheit behaupten: 

Die Sowjetunion hätte 2022 über 500 Millionen Einwohner.

Die Sowjetunion hätte heute ein das ganze Land abdeckende Netz von Autobahnen, von Kaliningrad bis Wladiwostok und von Norilsk bis Serhetabat. In diesem Jahr hätte es der Länge nach das Netz der Freeways in den USA überholt. 

Die Sowjetischen Eisenbahnen hätten in diesem Jahr die Verlängerung der fünften Hochgeschwindigkeitstrasse von Nowosibirsk nach Irkutsk gefeiert.

Die 45. sowjetische Metro wäre kurz vor Jahreswechsel in Woronesch eröffnet worden.

In Taschkent wäre der höchste Wolkenkratzer der Welt eingeweiht worden, erdbebensicher.

Der Flugzeugkonzern Tupolew hätte den ersten kommerziellen Passagierjet vorgestellt, der vertikal starten kann und pro Passagierkilometer weniger Energie als ein konventioneller Reisezug verbraucht. Der dafür genutzte Treibstoff ist Konzerngeheimnis.

Während die Welt das Verunglücken der ersten bemannten Mars-Mission – natürlich eine sowjetische – betrauert, würden in konspirologischen Zeitschriften Spekulationen darüber erscheinen, dass die wiederholten Misserfolge aller Marsmissionen in Wahrheit darauf zurückzuführen sei, dass die Marsbewohner uns als Eindringlinge abwehren. Die Marsmonde Phobos und Deimos seien in Wahrheit künstliche Waffensysteme, ist der exzentrische sowjetische Erfinder und Multimilliardär Maksim Ilonow überzeugt. Auch die Marsonauten aus der Sowjetunion, der wiedervereinigten DDR und Afghanistan seien noch am Leben. Die Marsianer hielten sie lediglich als Geiseln, schrieb Ilonow in einem Pfiff auf dem von ihm gegründeten Kurznachrichtendienst Tschik-Tschirik. 

Mehr Erfolg hätte die sowjetische Unterwasserkolonie im Pazifischen Ozean: Die dritte vollrobotisierte Mine hätte den Abbau von hocheffizienten Energieträgern aufgenommen. Auf den Namen des neuen Elements hätte man sich immer noch nicht einigen können. Die USA und Großbritannien hätten soeben im Sicherheitsrat den sowjetischen Vorschlag blockiert, es zu Ehren des langjährigen sowjetischen Präsidenten und großen Reformers Gorbatschewium zu nennen.

Herzlichen Glückwunsch zum Jubiläum, meine unsterbliche Sowjetunion!

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