Ein Kommentar von Scott Ritter
Man kann ihn lieben oder hassen, aber man muss die Erfahrung und Standhaftigkeit von Amerikas führendem Praktiker der Realpolitik, Henry Kissinger, respektieren. In einem kürzlich erschienenen Meinungsbeitrag, den er für das Magazin The Spectator verfasst hat, plädiert Kissinger für eine diplomatische Lösung des Ukraine-Konflikts. Es überrascht niemanden, dass das amerikanische Urgestein der Geopolitik von der ukrainischen Regierung und ihren Stellvertretern und Unterstützern wutentbrannt angeprangert wurde, weil Kissinger es wagte anzudeuten, dass der Ukraine mehr gedient wäre, wenn sie eine diplomatische Lösung des Konflikts suchen würde, anstatt vergeblich eine Entscheidung auf dem Schlachtfeld zu suchen, die höchstwahrscheinlich nie eintreten wird.
So überzeugend und pragmatisch der Ansatz von Kissinger auf den ersten Blick zu sein scheint, die Substanz seiner Argumentation täuscht über bestimmte Tatsachen hinweg, mit denen die Realität entblößt wird, dass das, was Kissinger als Verhandlungsfrieden vorschlägt, eine russische Niederlage bedeuten würde. Kurz gesagt, der von Kissinger vorgeschlagene Plan hat keine Chance sich zu verwirklichen.
Kissingers Voreingenommenheit, die sich deutlich auf die Seite der NATO und der Ukraine schlägt, offenbart sich schon am Beginn seines Meinungsbeitrags. Er schreibt: "Ich habe wiederholt meine Unterstützung für die militärischen Bemühungen des Westens zum Ausdruck gebracht, Russlands Aggression in der Ukraine zu vereiteln." Mit diesem Paukenschlag stellt der Meister der Diplomatie das geltende Narrativ in Frage und zeigt auf, dass weder die Ukraine noch Deutschland in gutem Glauben gehandelt haben, als man sich auf die Minsker Abkommen von 2014 und 2015 geeinigt hatte. Vielmehr wurden die Abkommen als kaum mehr als ein Mittel missbraucht, um Zeit für die Ukraine zu gewinnen, das ukrainische Militär aufzurüsten und auszubilden und sich anschließend im Donbass und auf der Krim gegen Russland durchzusetzen. Frieden war nie eine Option, ein Krieg war der Plan.
Kissinger hat seine Position, dass Russland der Aggressor in diesem Konflikt ist, nicht revidiert. Wofür er jedoch einsteht, ist die Einsicht, dass Russland militärisch nicht besiegt werden kann und dass die Ukraine jetzt ein Friedensabkommen akzeptieren sollte, um dadurch weitere Gebietsverluste abzuwenden. Kissinger stellt fest:
"Die Zeit naht, um auf den bereits erreichten strategischen Veränderungen aufzubauen und sie in eine neue Struktur zu integrieren, um dadurch einen Verhandlungsfrieden zu erreichen."
Kissinger untergräbt zudem jegliches Gewicht in seiner Argumentation, indem er sich auf eine Art phantasievollen Optimismus einlässt, der normalerweise nur in der extremistischen ukrainischen Propaganda zu finden ist:
"Die Ukraine ist zum ersten Mal in der modernen Geschichte zu einem bedeutenden Staat in Mitteleuropa geworden."
Tatsache ist, die Ukraine war bereits vor dem Konflikt mit Russland eine Nation, die man mit einem Zugunglück vergleichen konnte – und zehn Monate Krieg haben diese Nation noch weiter an den Abgrund gebracht.
Die Fantasievorstellungen Kissingers gehen in seinem Text dann weiter:
"Mithilfe ihrer Verbündeten und inspiriert von ihrem Präsidenten Wladimir Selenskij hat die Ukraine die russischen konventionellen Streitkräfte, die erstmals seit dem Zweiten Weltkrieg Europa überfallen haben, aufgehalten."
Tatsache ist, dass die Ukraine, wenn sie sich selbst überlassen worden wäre, bereits im Sommer 2022 von Russland militärisch besiegt worden wäre. Die Infusion von unzähligen Milliarden an US-Dollar und modernen Waffen aus den Arsenalen der NATO, zusammen mit Tausenden hoch qualifizierten westlichen Söldnern, unterstützt durch westliche Geheimdienste und Experten der Kommunikations- und der Operationsplanung, hat es dem ukrainischen Militär ermöglicht, die eigene Lebensdauer zu verlängern, während es dem russischen Militär einige erhebliche Rückschläge zugefügt hat. Aber Russland hat dank der Mobilisierung von rund 300.000 Reservisten, von denen 150.000 bereits in die Strukturen der russischen Streitkräfte integriert wurden, die Lage an der Front stabilisiert und alle ukrainischen offensiven Operationen im Süden und im Norden abgestumpft, während die ukrainische Verteidigung entlang der Donezk-Front zermalmt wird. Weit davon entfernt, aufgehalten zu werden, ist Russland dabei, eine Kampfstärke von zehn bis 15 Divisionen ins Einsatzgebiet zu verlegen, eine offensive Fähigkeit, die von der Ukraine derzeit nicht beantwortet werden kann.
Kissingers Wahnvorstellungen der tatsächlichen Lage auf dem Schlachtfeld haben seinen Sinn für die geopolitische Einschätzung der Ukraine getrübt. Laut Kissinger hat die Tapferkeit der Ukraine auf dem Schlachtfeld "die ursprünglichen Zweifel in Bezug auf eine Mitgliedschaft der Ukraine in der NATO beseitigt". Die Ukraine, so Kissinger, habe eine der größten und effektivsten Landarmeen in Europa aufgebaut, ausgerüstet von den USA und ihren Verbündeten. Daher sollte die Ukraine einen Friedensprozess mit der Mitgliedschaft in der NATO verknüpfen. Die Alternative einer Neutralität ist nicht mehr sinnvoll, insbesondere nicht, nachdem Finnland und Schweden der NATO beitreten wollen."
Kissingers Artikel wurde nach dem Interview des ukrainischen Generalstabschefs Saluschny mit dem Magazin The Economist verfasst, in dem dieser auf die harte Realität hinwies, dass das ukrainische Militär ohne eine zusätzliche Lieferung von etwa 300 Kampfpanzern, 500 Infanterie-Kampffahrzeugen und 500 Artilleriegeschützen plus Munition nicht in der Lage sein wird, wirksame Offensivoperationen gegen die sich versammelnden russischen Streitkräfte durchzuführen oder sich angemessen gegen sie zu verteidigen. Der Titel "größte und effektivste Landarmee in Europa" gilt somit für die ukrainische Armee nicht mehr – falls dies überhaupt jemals der Fall war. Ihre Mannschaftsstärke wurde dezimiert und ihre Kampfausrüstung ausgeweidet, seit sie Ende August eine großangelegte Gegenoffensive gegen Russland antrat. Darüber hinaus hat die ukrainische Armee diesen Zustand erreicht, indem sie sich in Kampfhandlungen hat verwickeln lassen, in denen eine überwältigende Menge an Waffen und Ausrüstung, die von der NATO zur Verfügung gestellt wurde, auf dem Schlachtfeld von den russischen Streitkräften zerstört wurde.
Während Kissinger nicht zugeben will, dass Russland die Oberhand in den Kämpfen haben könnte, räumt er ein, dass es tatsächlich die Ukraine ist, die sich in die Ecke getrieben sieht und somit einen tragfähigen Ausweg aus dem aktuellen Konflikt benötigt:
"Wenn die Vorkriegsgrenzen zwischen der Ukraine und Russland nicht durch Kampf oder Verhandlungen erreicht werden können, so könnte der Rückgriff auf das Prinzip der Selbstbestimmung geprüft werden. International überwachte Referenden über die Selbstbestimmung könnten in besonders gespaltenen Gebieten durchgeführt werden, die im Laufe der Jahrhunderte immer wieder den Besitzer gewechselt haben."
Das Hauptproblem dieser Denkweise besteht darin, dass sie möglicherweise die Vorstellung postuliert, dass Russland bereit wäre, die Souveränität über einige oder alle Gebiete, die seit Beginn dieses Konflikts in die Russische Föderation eingegliedert wurden, freiwillig aufzugeben. Geradeaus gesagt: Das wird nicht passieren, weil es rechtlich gesehen nicht passieren kann. Die russische Verfassung verbietet dies.
Zum Schluss spielt Kissinger spielt dann den wohlwollenden Friedensstifter und listet alle Rücksichten auf, die ein siegreicher Westen Russland entgegenbringen sollte, wenn es darum geht, eine Niederlage zu bewältigen. "Russlands historische Rolle sollte nicht herabgewürdigt werden", erklärt Kissinger und möchte dies nicht als Ausdruck der Barmherzigkeit, sondern des Eigennutzes verstanden wissen, der sich angesichts des Status Russlands als großer Nuklearmacht aufdringt:
"Russlands militärische Rückschläge haben seine globale nukleare Macht nicht beseitigt, sodass es in der Ukraine jederzeit mit einer Eskalation drohen kann. Selbst wenn diese Fähigkeit eingeschränkt wird, könnte die Auflösung Russlands oder die Zerstörung seiner Fähigkeit zur strategischen Politik, sein elf Zeitzonen umfassendes Territorium in ein umkämpftes Vakuum verwandeln. Die konkurrierenden Gesellschaften könnten beschließen, ihre Streitigkeiten gewaltsam auszutragen. Andere Länder könnten versuchen, ihre Ansprüche mit Gewalt geltend zu machen. All diese Gefahren würden durch das Vorhandensein Tausender Atomwaffen verschärft, die Russland zu einer der beiden größten Atommächte der Welt machen."
Kissinger enthüllte damit schlagartig die absolute Gefahr, die vom Westen ausgeht, wenn es um seine kollektive Politik gegenüber Russland geht – die Tatsache, wozu die Politik des Westens führen könnte und worauf sie tatsächlich ausgerichtet ist: auf die Auflösung Russlands. Kurz gesagt: Die westliche Unterstützung der Ukraine ist für Russland ein existenzielles Problem, und weil das nationale Überleben auf dem Spiel steht, ist eine Niederlage keine Option. Aber auch Diplomatie scheint keine zu sein.
"Der Weg der Diplomatie mag kompliziert und frustrierend erscheinen", bemerkt Kissinger in seinem Text. "Aber der Weg dorthin erfordert sowohl die Vision als auch den Mut, sich auf den Weg zu machen."
Es erfordert aber auch eine realistische Einschätzung der Situation, die Kissinger in seiner Analyse insgesamt abhandenkommt.
Aus dem Englischen
Scott Ritter ist ein ehemaliger Geheimdienstoffizier des US Marine Corps. Er diente in der Sowjetunion als Inspektor bei der Umsetzung des INF-Vertrags, im Stab von General Schwarzkopf während des Golfkriegs und von 1991 bis 1998 als UN-Waffeninspektor. Man kann ihm auf Telegram folgen.
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