Von Dora Werner
"Es sind nur noch wenige Tage bis zum neuen Jahr. Möge es für euch leicht und erfolgreich werden", flüstert ein samtiger männlicher Bariton bei Radio Relax auf Russisch. Ich höre Relax seit Jahren, es ist meine Insel der Ruhe im Ozean der externen Turbulenzen. Während der COVID-Pandemie gab die Musik des Radiosenders immer das Gefühl, dass die Welt noch dieselbe ist wie vorher. Aber heute, kurz vor dem ersten Neujahrsfest seit dem Beginn der Militäroperation in der Ukraine, funktioniert der Zauber von Relax nicht mehr. Denn die Welt, in Russland wie in Europa, hat sich unwiederbringlich verändert. Und selbst wenn man sich vor der neuen Realität drücken wollte, könnte man es nicht.
Das beginnt im engsten Umfeld. Die Familie eines meiner besten Freunde wird die Feiertage und das neue Jahr getrennt verbringen. Denn der Familienvater, ein junger Programmierer, ist gerade nach Portugal umgezogen. Er hat für Microsoft Russia gearbeitet, das alle seine Büros in Russland geschlossen und die Arbeitswilligen in andere Länder, von Kasachstan bis nach Portugal, versetzt hat. Seine Frau bleibt mit drei Kindern vorerst daheim. Die Situation weltweit sei so instabil, dass man überhaupt nichts planen kann, sagte sie. Vor allem wenn man Kinder hat.
Der Mann, der die Wohnung meiner Verwandten mietet, ist vorübergehend nach Kasachstan umgezogen. Auch er ist ein IT-Fachmann und hat beschlossen, die turbulenten Zeiten draußen abzuwarten. "Ich werde aus Russland nicht langfristig weggehen", sagt er. "Ich will zurück, sobald klar ist, wie es weitergeht." Er fragt nach einem Mietnachlass, da die Wohnung leer steht und er für eine weitere in Almaty bezahlen muss.
Wenn man den Fernseher einschaltet, auch wenn man nicht die Nachrichten oder politischen Sendungen verfolgt, ist die Präsenz der Militäroperation in der Ukraine deutlich zu spüren. Sogar dort, wo man es am wenigsten erwartet. "Wer ist mit dir gekommen?", fragt der Moderator einen jungen Teilnehmer bei "The Voice". "Meine Mama ist da", antwortet der neunjährige Junge mit einem kühnen Irokesenschnitt. "Papa hat es nicht geschafft. Er ist bei der Militäroperation." Pawel wünscht sich sehnlichst, dass seine Mutter deshalb nicht so traurig ist. Dann sagt er: "Ich bin sehr stolz auf ihn. Sehr, sehr stolz."
Draußen schneit es, als wäre nichts gewesen, und in den Supermärkten spielt Tschaikowskis "Nussknacker". Moskau hat sich irgendwie verändert, merkt man. Nein, in der Stadt ist von den Sanktionen nichts zu spüren. Im Gegenteil. Die Geschäfte sind voll mit Waren für jeden Geschmack und Geldbeutel, die Straßen erleuchten im Glanz der Weihnachtsbeleuchtung. Die Menschen nehmen Taxis, die U-Bahn ist überfüllt, die Städter stecken mit ihren Autos im Stau. Alles ist wie früher. Aber einiges hat sich auch unmerklich verschoben. Sogar optisch: Es gibt viel weniger Touristen aus dem Westen und weniger ausländische Markenwerbung. Auf den Werbetafeln sind Helden der Militäroperation in Uniform zu sehen – statt glamourös aufgepeppten B-Promis.
In den Wochen vor Weihnachten wurde diskutiert, ob man die Feierlichkeiten während der Militäroperation absagen sollte. Dann schaltete sich das Verteidigungsministerium ein und bat darum, die Festlichkeiten nicht aufzugeben. So ist Moskau abends wieder so bunt beleuchtet wie in vergangenen Jahren und in jedem Innenhof und Einkaufszentrum steht ein riesiger Weihnachtsbaum.
Die traditionellen Fernsehsendungen zu Silvester werden diesmal aber anders sein als sonst, haben die Medien verkündet. Früher traten da fast immer dieselben Künstler auf: Glamouröse Popstars der 1990er- und 2000er-Jahre sowie Protegés der sowjetischen Popikone Alla Pugatschjowa. Jahr für Jahr die gleichen Gesichter. Jetzt hat sich das Bild im Showbiz verändert. Einige sind aus Protest gegen die Militäroperation in der Ukraine ins Ausland gegangen, andere wiederum haben niemanden mehr, der sie promotet. Pugatschjowa war eine der Ersten, die das Land verlassen haben. Sie ging von Moskau nach Israel.
In diesem Jahr stehen also alte Klassiker aus der Sowjetzeit, klassische Musik mit dem Orchester unter der Leitung von Juri Baschmet, Musicalstars, gute Schauspieler und Preisträger von Gesangswettbewerben auf dem Programm. Die Hauptakteure des Abends werden jedoch nicht sie sein, sondern die Kriegsberichterstatter der russischen Fernsehsender, die aus dem Donbass kommen werden, und die von der Front zurückgekehrten Soldaten. Dies ist vielleicht das erste Mal seit Jahrzehnten, dass Soldaten im Rampenlicht stehen. Jene, die einst in Tschetschenien oder Afghanistan gekämpft haben, kamen nicht auf die Titelseiten von Illustrierten und traten nicht als Ehrengäste im Fernsehen auf. Sie bekamen höchstens einen Platz in den Kriegsberichten – diskret und anonym. Nun werden sie Ehrengäste bei den staatlichen Fernsehsendern. Zuletzt wurden Frontsoldaten wahrscheinlich nach dem Zweiten Weltkrieg auf diese Weise geehrt.
Das neue Jahr steht also vor der Tür, die Preise für Stör und Kaviar fallen – eine nicht beabsichtigte Auswirkung der EU-Sanktionen gegen Russland. Die Regale der Supermärkte sind randvoll mit guten Weinen aus Georgien und Sekt von der Krim oder dem Gebiet Krasnodar. Diese Erzeugnisse stehen hochwertigen Produkten aus anderen Teilen der Welt in nichts nach. Moskauer Restaurants, die sich bereits auf die westlichen Sanktionen und das Leben in der neuen Realität eingestellt haben, sind sehr gut besucht. Und die Zeitungen berichten, dass die Spitzenlokale schon seit einigen Wochen zu fast 100 Prozent für Silvester ausgebucht sind. Die Tatsache, dass das Leben in Russland trotz des beispiellosen Drucks von außen stabil und wohlversorgt bleibt, gibt ein Gefühl der Ruhe und Beständigkeit. Wie einst die Musik von Radio Relax.
Russland hat in diesem Konflikt viel verloren, das ist unbestritten, und zwar nicht nur die Illusion einer Partnerschaft mit Europa oder den USA. Russland hat aber auch viel gewonnen, das wird noch vor dem Jahreswechsel deutlich.
Als vor wenigen Wochen die Zahlen der akuten Atemwegsinfektionen und der Grippefälle in der Stadt sprunghaft anstiegen, tauchten in den U-Bahnen und Bussen plötzlich Menschen auf, die Mundschutz trugen. Nein, Moskau hat keine Maskenpflicht eingeführt, diese Menschen haben einfach für sich selbst beschlossen, dass dies der richtige Weg sei, um sich und andere zu schützen. Freiwillig.
Mehr noch. Als vor ein paar Tagen ein Rekordschneefall über Moskau hereinbrach und die Stadtwerke einfach keine Möglichkeit mehr hatten, den unaufhörlich fallenden Schnee überall zu beseitigen, begannen die Bewohner meines Hauses plötzlich im Haus-Chatroom nach Schaufeln zu fragen. "Lasst uns gemeinsam aufräumen, das ist ja eine Notsituation", schrieben Leute, die in teuren Wohnungen leben und zwei Fahrzeuge in ihren Tiefgaragen stehen haben. Und dann tauchten im Netz Videos auf, in denen Menschen aus dem einen oder anderen Moskauer Stadtteil zusammen mit städtischen Mitarbeitern die Straßen räumten. Wir waren also nicht die Einzigen.
So etwas hat es hier in den vergangenen Jahrzehnten nicht gegeben und das heißt, dass die Zivilgesellschaft in Russland weiter reift. Wahrscheinlich dank der Sanktionen, dank des irren Drucks von außen, dank des Versuchs des Westens, das Land unterzukriegen und zu ruinieren. Das hat uns allen klar gemacht: Es gibt keine Freunde oder Partner dort draußen – und schon gar keine Retter. Retten kann man sich nur selbst. Dabei wird man gezwungen sein, einen eigenen Weg zu gehen. Einen Weg, der weder westlich noch östlich, weder europäisch noch asiatisch ist. Wohin dieser Weg führen wird, weiß man noch nicht, aber Schnee ist bereits weggeräumt worden.
Silvester ist für Russland eine Zeit, in der Wünsche in Erfüllung gehen und Wunder passieren können. In diesem Jahr sehnt man sich besonders nach Wundern und danach, dass alles gut wird. Sowohl für den Jungen aus "The Voice" als auch für seinen Vater. Für den Besitzer des kleinen Lokals um die Ecke, der mit den Auswirkungen der Sanktionen zu kämpfen hat, und für diejenigen, die der Stadt beim Schneeräumen freiwillig helfen. Für diejenigen, die im Land geblieben und diejenigen, die weggegangen sind.
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