Von Igor Karaulow
Die Bilanz des vergangenen Jahres lässt eine paradoxe Tatsache nicht außer Acht: Entgegen den ursprünglichen Erwartungen schneidet unser Land in der Wirtschaft am besten ab. Obwohl es zu Beginn der militärischen Spezialoperation so aussah, als wäre die wirtschaftliche Front am schwersten zu halten. Der eigentliche Ausbruch der Kampfhandlungen war ein Schock für die Märkte. Doch schon bald wurden die gewaltigen Sanktionen des Westens über uns verhängt, ein Sanktionspaket nach dem anderen.
Unsere Devisenreserven in Höhe von Hunderten von Milliarden Dollar wurden eingefroren – der größte Raub in der Kriminalgeschichte. Führende Weltmarken verließen das Land, darunter nicht nur billige Ramschhändler, sondern auch Produzenten von Elektronik, Luftfahrt- und Automobiltechnik, die einheimische Unternehmen noch nicht produzieren können.
Der Westen rechnete damit, uns mit der "knochigen Hand des Hungers" zu erdrosseln, und selbst Joseph Biden versicherte uns, dass der Dollar bald 200 Rubel wert sein würde. Doch nach der sprunghaften Schwankung im Frühjahr stabilisierten sich die Wechselkurse auf einem deutlich niedrigeren Niveau als unmittelbar vor der Spezialoperation, und wir fühlten uns, als seien wir im Spiegelland von Lewis Carroll. Die neue Situation widersprach völlig der langjährigen Erfahrung, die uns belehrte, dass jeder Atemhauch auf den entferntesten Märkten unweigerlich die russische Währung nach unten ziehen würde. Ein Naturgesetz war das keineswegs, wie sich herausstellte. Noch erstaunlicher war die veränderte Haltung gegenüber ausländischen Währungen, vor allem gegenüber dem Dollar und dem Euro, als Zahlungsmittel. Der russische Kapitalismus begann mit dem Bestreben, alles so billig wie möglich zu verkaufen – von Rohstoffen bis hin zu Kunstschätzen –, aber nur gegen Devisen, nicht gegen Rubel. Deshalb war die Forderung Russlands, für Erdgas in Rubel zu bezahlen, ein Umbruch in den Köpfen der Menschen: Das war wirklich möglich?
Heute, wenn man die neuen Regionen Russlands außer Acht lässt, die durch den ukrainischen Beschuss verwüstet wurden, bereitet sich das Land darauf vor, das neue Jahr zu feiern, zwar ohne viel Luxus, ohne unnötige Dekoration der Städte, aber nicht in einem wirtschaftlichen Ausnahmezustand. Es gibt Licht und Wärme, es wird einen Weihnachtsbaum und Champagner geben. Die Flugzeuge fliegen und die Autos fahren. Erst neulich wurden unter Mitwirkung von Präsident Putin sechs neue Fernstraßen-Abschnitte eröffnet; so hat sich beispielsweise die Fahrzeit zwischen Moskau und Wladimir bereits drastisch verkürzt, und im kommenden Dezember soll die Autobahn Moskau-Kasan vollständig eröffnet werden. Selbstverständlich, die Inflation ist höher als im letzten Jahr. Allerdings ist alles relativ. So gab der kasachische Präsident vor kurzem bekannt, dass die Inflation in seinem Land im Vergleich zum Vorjahr fast 20 Prozent beträgt, obwohl Kasachstan keine militärischen Aktivitäten führt und keinen Sanktionen unterliegt. Gleichzeitig wird diese Zahl in Deutschland fast 11 Prozent betragen. Für Russland, dem im März eine Inflationsrate von 17 Prozent versprochen wurde, wird sie letztendlich bei etwa 12 Prozent liegen.
Damit hat die russische Wirtschaft im Jahr 2022 den Kampf ums Überleben gewonnen. Dessen ist jedoch nicht genug. Man möchte sich doch gerne Entwicklungsziele setzen und diese nicht nur setzen, sondern auch erreichen. Allerdings kommt die Frage auf: Ist eine wirtschaftliche Entwicklung möglich, wenn das Land auf einen Kriegszustand umschaltet, wenn die Rüstungsausgaben in die Höhe schnellen? Gilt das Motto "Waffen statt Öl"?
Auf den ersten Blick scheint die Skepsis berechtigt: Militärausgaben sind eindeutig keine produktiven Ausgaben, denn die Bestimmung von Rüstungsgütern ist es, zu zerstören und zerstört zu werden. Damit zu rechnen, dass der militärisch-industrielle Komplex (MIC) die treibende Kraft der wirtschaftlichen Entwicklung sein wird, ist dasselbe, wie der Geschichte glauben zu schenken, dass Baron Münchhausen sich an seinen eigenen Haaren aus dem Sumpf gezogen hat. Die weltweite Erfahrung zeigt jedoch ein anderes Bild. Ein aussagekräftiges Beispiel hierfür sind die USA, deren Überwindung der Großen Depression nicht so sehr dem New Deal von F.D. Roosevelt zu verdanken ist, sondern den militärischen Aufträgen, die nach dem Eintritt des Landes in den Zweiten Weltkrieg in die Wirtschaft geflossen sind. Könnte Russland diesen Weg beschreiten? Wie dem auch sei, es gibt keine andere Option. Zum einen, weil die Spezialoperation zu Ende gebracht werden muss. Und zum anderen, weil das bisherige Wirtschaftsmodell dem Land ohnehin kein stabiles und qualitatives Wachstum beschert hat.
Was bedeuten Investitionen in den militärisch-industriellen Komplex? Es geht vor allem um Investitionen in die Industrie, und nicht um "Kaufen-Verkaufen", auch nicht um virtuelle Spekulation oder um verblödende digitale Unterhaltung. Es ist eine Chance für die Wiederbelebung der traditionellen Industriezentren des Urals, der Wolga-Region, von Sibirien und anderer Regionen des Landes, durch den Zufluss von finanziellen und menschlichen Ressourcen.
Doch die Industrie ist etwas zwiespältiges. So ist ein Rohstoff wie Metall oder unverarbeitetes Holz für den Export auch ein Produkt der Industrie. Und gleichzeitig benötigt die Armee heutzutage anspruchsvolle und fortschrittliche Produkte. Dabei geht es nicht nur um Hyperschall-Raketen und andere militärische Wunderwerke. Selbst die Leichtindustrie für militärische Zwecke muss wirklich fortschrittlich sein. Armeeuniformen, Schutzwesten, Rucksäcke, Schuhe - all das muss von beispielhaftem Charakter sein und aus den besten Materialien bestehen. In diesem konkreten Fall hängt nicht nur der Komfort des Endverbrauchers, sondern auch dessen Leben vom technischen Niveau der Produkte ab. Ferner erfordert das Regime der industriellen Mobilisierung eine verstärkte Qualitätskontrolle, die hoffentlich verhindern wird, dass die Importsubstitution durch eingeführte chinesische Billigware mit einem gefälschten Etikett erfolgt.
Bereits zu Sowjetzeiten wurde der militärisch-industrielle Komplex mit technologischem Fortschritt in Verbindung gebracht. Von speziellen (geheimen) Militärtechnologien, wie z. B. der Weltraumtechnologie, waren Legenden im Umlauf. Man wünscht sich, dass diese Tradition der technologischen Führerschaft noch nicht erloschen ist und auf einer neuen Basis fortgesetzt wird.
Die Nachfrage des Landes nach anspruchsvollen Industrieprodukten wird zwei Auswirkungen haben: die Nachfrage nach qualifizierten Arbeitskräften und insbesondere nach menschlichem Intellekt. Damit werden sich die Tendenzen der frühen 1990-er Jahre umkehren, als Professoren gezwungen waren, in den Handel einzusteigen, und gesunde junge Menschen in Scharen in der Security von Kaufhäusern landeten.
Die Aufträge der Rüstungsindustrie werden zum gewünschten Hebel, der es der Wirtschaft ermöglicht, sich von der Kompradoren-Bourgeoisie loszulösen und zu einer autarken nationalen Produktion überzugehen. Selbstverständlich kann die beschleunigte Entwicklung des militärisch-industriellen Komplexes nur als Anstoß für die Kultivierung einer neuen intellektuellen Klasse dienen, die das Land in die Zukunft führen wird, denn dieser Prozess erfordert eine lange und zielgerichtete Arbeit, einschließlich der Neuausrichtung des Bildungssystems und der Umstrukturierung des kulturellen Bereichs, der endlich damit beginnen sollte, der Gesellschaft schöpferische Werte zu vermitteln.
Übersetzt aus dem Russischen
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