Von Fjodor Lukjanow
Es ist ein Jahr vergangen, seitdem Moskau ein Dokument mit Vorschlägen über langfristige Garantien zur europäischen Sicherheit – oder Forderungen, wenn man es vorzieht, es so zu betrachten – an die NATO und die USA übergeben hat. Dies war der Ausgangspunkt der derzeitigen politisch-militärischen Krise, die heute die globale Lage bestimmt. War das russische "Ultimatum" –wie es im Westen formuliert wurde – darauf angelegt, abgelehnt zu werden oder sah es eine realistische Verhandlungslösung vor?
Präsident Wladimir Putin hat wahrscheinlich folgende Überlegung angestellt: Nachdem so viele Jahre lang unsere Wünsche und Überzeugungen ignoriert wurden, lasst uns dem Ganzen eine letzte Chance geben. Lasst uns das Maximum an Forderungen stellen. Alles, was zuvor schon gesagt wurde, auf einem Dokument und in konzentrierter Form skizzieren und dann sehen, was passiert. Wenn sie erkennen, dass es uns diesmal sehr ernst ist, und sich in diesem Sinne für eine echte Diskussion entscheiden, sind wir dazu bereit. Wenn sie jedoch wieder anfangen, Zeit zu schinden, dann war es das. Dann kommen wir zur Sache.
Sollte die Reaktion des Westens nicht zur Zufriedenheit Moskaus ausfallen, würde ein Militäreinsatz in der Ukraine der nächste Schritt sein. Zu diesem Zeitpunkt war er offenbar nicht mehr zu vermeiden. Schließlich wurde die Logik, hinter der Notwendigkeit einer solchen Offensive, in einer von Putin verfassten Denkschrift bereits im Sommer 2021 skizziert. Das heißt, die Forderungen nach Sicherheitsgarantien wurden gestellt, als die Einsatzbereitschaft des Militärs bereits erreicht war.
Das Ausmaß der Folgen der Ereignisse veranlasst viele zu einer Frage: War das, was passiert ist, unvermeidlich? Das Argument, "wir hatten keine Wahl", das in Moskau oft auf höchster Ebene zu hören ist, ist problematisch, weil es faktisch bedeutet, dass die bisherige politische Strategie Russlands falsch war. Eine Politik, die zu keiner alternativen Lösung führt, und ein Land dazu zwingt, auf eine bestimmte Weise und nicht anders zu handeln, kann nicht als erfolgreich betrachtet werden.
Somit wird eine Analyse des Zeitraums seit den frühen 2000er Jahren bis heute irgendwann eine wichtige Lehre für die Zukunft sein. Gab es jemals davor einen Zeitpunkt, bei dem der dringende Bedarf herrschte, Forderungen zu stellen und einen Militäreinsatz vorzubereiten? Nach dem, was wir heute wissen – und das wird wahrscheinlich nicht alles sein –, gab es Handlungsspielraum und die Möglichkeit, sich besser vorzubereiten. Strategisch gesehen war ein Konflikt um die Ukraine wahrscheinlich unvermeidlich, aber die konkreten Umstände und der Zeitplan hätten anders sein können. Ein Ultimatum kann nur von Großmächten – und erst recht von Supermächten – als Ergebnis einer militärischen Niederlage akzeptiert werden. Es gab also, so glaube ich, keine Chance, dass die russischen Forderungen vom Westen akzeptiert werden.
Ich muss sagen, dass die Konsultationen, die im Januar 2022 stattfanden, gezeigt haben, dass die USA zu gewissen Zugeständnissen in bestimmten Fragen der militärischen Sicherheit bereit waren, und zwar in einem größeren Ausmaß, als sie es noch vor den im Dezember 2021 gestellten Forderungen waren. Im Verhältnis zum Gesamtbild war dies jedoch für Moskau zu wenig. Vor allem haben sich die NATO und die USA kategorisch geweigert, über die wichtigste politische Frage zu verhandeln: Über die Frage eines formellen Verzichts auf eine weitere NATO-Osterweiterung. Für die NATO ist solches schlicht inakzeptabel, weil die Erweiterung der Allianz die Grundlage der internationalen Sicherheitsphilosophie ist, wie sie bei der NATO seit dem Ende des Kalten Krieges verstanden wird.
Darüber herrscht im Westen eine völlige Abwesenheit der Fähigkeit zur Reflexion über die Geschichte hinter den aktuellen Ereignissen. Die Ansicht, dass Russland kein politisches, wirtschaftliches oder moralisches Recht hat, irgendetwas zu fordern, ist zu einem Axiom und einer Grundlage der westlichen Politik geworden. Und was jetzt eingetreten ist, scheint dem Westen sogar eine Art Erleichterung gebracht zu haben – es gibt jetzt keinen Grund mehr, so zu tun als ob.
Wie sollten wir nach einem Jahr das Ergebnis für Russland bewerten, basierend auf dem, was in dem eingangs erwähnten Dokument festgehalten wurde? Das wichtigste Ergebnis ist, dass sich die politisch-militärische Situation radikal verändert hat. Folglich wurde Russlands Unzufriedenheit mit dem bisherigen Stand der Dinge zum Teil gerechtfertigt. So wie es bisher war, wird es nie mehr sein.
Die NATO wird eine weitere Expansion nicht auf die leichte Schulter nehmen können, da sie erkennen musste, dass der Standpunkt "es wird schon nichts passieren" nicht mehr gilt. Zugegebenermaßen schließt dies eine bewusste Expansion zu erklärten antirussischen Zwecken nicht aus, wenn genügend Entschlossenheit bei der NATO vorhanden ist – und diese Entschlossenheit könnte durchaus umgekehrt proportional zu den militärischen Errungenschaften Russlands sein.
Aus dem Englischen
Fjodor Lukjanow ist Chefredakteur von Russia in Global Affairs, Vorsitzender des Präsidiums des Rates für Außen- und Verteidigungspolitik und Forschungsdirektor des Valdai International Discussion Club.
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