Das Interview mit dem Präsidenten der Weltunion der Freidenker, Klaus Hartmann, führte Felicitas Rabe.
Herr Hartmann, am vergangenen Wochenende fand in Kassel der 29. Friedensratschlag statt. Was sind Ihrer Meinung nach die wichtigsten Ergebnisse?
Das wichtigste Ergebnis war aus meiner Sicht, dass die in den letzten Monaten arg auseinanderstrebenden Teile der Friedenskräfte mehrheitlich wieder zu gemeinsamen Positionen finden. Der größte Teil der in Kassel versammelten über 350 Aktiven wollte keine Schuldzuweisungen an Russland oder China, sondern das teilweise lähmende Gegeneinander überwinden, das an dieser Frage entstanden war. Und das ist freilich eine zentrale Voraussetzung dafür, überhaupt wieder öffentlich wahrgenommen zu werden und für Friedensaktionen mobilisieren zu können.
In der einmütig angenommenen "Kasseler Erklärung" wurde die Bundesregierung aufgefordert, "nicht weiter der herrschenden Militärlogik zu folgen, die Waffenlieferungen in die Ukraine und in alle anderen Kriegs- und Krisengebiete zu stoppen" sowie "einen ernsthaften Dialog mit allen europäischen Nachbarländern für eine gleichberechtigte Friedensstruktur" zu beginnen.
Es soll in den nächsten Tagen auch wieder eine "Weihnachtsanzeige aus der Friedensbewegung" erscheinen, in der es heißt: "Wir wenden uns entschieden gegen die von der Großen Koalition aus SPD, Grünen, FDP und CDU/CSU vorangetriebene Konfrontationspolitik und militärische Hochrüstung zur Führungsmacht in Europa. Die deutsche Regierung darf nicht länger mit Waffenlieferungen zur Kriegseskalation beitragen, sondern muss sich Macrons Vorstoß für Verhandlungen anschließen, die die berechtigten Sicherheitsinteressen aller, d. h. auch Russlands berücksichtigen."
Viele Friedensaktivisten schließen sich dem Vorwurf eines "völkerrechtswidrigen Angriffskriegs" an, den Russland gegen die Ukraine begonnen habe. Wie bewerten Sie das Meinungsspektrum in der deutschen Friedensbewegung in Bezug auf Analyse und Hintergrund des Krieges in der Ukraine?
Seitdem die Russische Föderation in den Krieg in der Ukraine eingegriffen hat, stand die Verurteilung des vermeintlich "völkerrechtswidrigen russischen Angriffskrieges" an erster Stelle der allermeisten offiziellen Verlautbarungen aus der Friedensbewegung. Das geschah bei manchen aus Überzeugung oder weil die Mainstream-Medien und die NATO-Propaganda-Zentralen es so erfolgreich in die Köpfe gehämmert hatten, und bei manchen auch aus "taktischem Kalkül", man könnte es auch Opportunismus nennen:
Man schätzte ein, um überhaupt Kritik an der Rolle des "Westens" in diesem Konflikt üben zu können, an die Vorgeschichte des russischen Eingreifens erinnern und die Forderung nach Stopp der Waffenlieferungen in die Ukraine vorbringen zu können, müsse man sich zunächst von "Russland" und "Putin" distanzieren, um in der Öffentlichkeit Gehör zu finden und nicht gleich medial in der Luft zerrissen zu werden.
Doch spätestens seit dem Herbst dämmerte es immer mehr Aktiven, dass dies eine Fehlkalkulation war. Indem man das Mantra vom "völkerrechtswidrigen Angriffskrieg" vor sich hertrug, reihte man sich letztlich folgsam hinter den NATO-Lautsprechern ein bzw. grüßte vor deren "Gesslerhut". Damit wurde eine eigenständige, authentische Friedensposition unkenntlich, und eine Reihe von Demonstrationen, zu denen teilweise gemeinsam mit Gewerkschaften aufgerufen wurde, endete mangels Beteiligung als Misserfolg. Die Mehrheit der Bevölkerung, die den Konfrontationskurs gegen Russland weiterhin ablehnt, wie auch konsequente Friedensbefürworter stehen Stimmen ablehnend gegenüber, die ähnlich argumentieren wie die kriegsbefürwortenden Regierungen selbst. Diese Erkenntnis hat sich glücklicherweise inzwischen überwiegend durchgesetzt.
Gab es Positionen oder Kontroversen, die Ihrer Meinung nach zu wenig ausdiskutiert wurden? Welche Diskussionen haben Ihnen in Bezug auf den Krieg in der Ukraine gefehlt? Wie sehen Sie das militärische Eingreifen Russlands durch das Völkerrecht gedeckt?
Die wichtige Frage, wie es bei diesem Krieg um das Völkerrecht bestellt sei, wurde tatsächlich nicht ausdiskutiert. Selbst bei dem Plenum, das vielversprechend "Kontroversen zum Ukrainekrieg" diskutieren sollte, war die "andere Position", dass es sich nämlich um eine vom Völkerrecht gedeckte Selbstverteidigung handelt, im Podium nicht vertreten.
Der Krieg in der Ukraine hat entgegen der NATO-Erzählung, die vielfach kolportiert wird, nicht am 24. Februar 2022 begonnen, sondern spätestens im April 2014, als das Putschregime, das in Kiew die Macht ergriffen hatte, eine sogenannte "Antiterroroperation" gestartet hatte, mit der es Truppen und Nazi-Bataillone gegen die Bevölkerung im Donbass losgeschickt hatte. Der Putsch war von den USA mit fünf Milliarden Dollar vorbereitet und angeleitet sowie von der deutschen Regierung und der EU unterstützt worden.
In den Bezirken Donezk und Lugansk, aber auch z. B. in Charkow oder Odessa, lehnten die Menschen ab, dass die Putschisten auch in diesen Territorien ihre verfassungswidrige Macht errichten. Diese hatten allem Russischem den Kampf angesagt und die russischsprachigen Ukrainer diskriminiert. Acht lange Jahre ständiger Aggression des Kiewer Militärs forderten 14.000 Todesopfer, die im Westen kaum der Erwähnung wert waren und um die jedenfalls nicht getrauert wurde.
Die zwecks friedlicher Konfliktbeilegung vereinbarten Minsker Abkommen wurden von Kiew aktiv sabotiert, ohne dass die westlichen Garantiemächte des Abkommens dies beanstandet hätten. Der damalige ukrainische Unterzeichner Petro Poroschenko hat wie auch jüngst Altkanzlerin Angela Merkel bestätigt, dass es nur um Zeitgewinn ging, um die Ukraine für einen Krieg gegen Russland hochzurüsten. Oder mit den Worten von NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg im Juli 2022: "Die Realität ist, dass wir uns seit 2014 darauf vorbereitet haben." 35.000 Ukrainer wurden von NATO-Ländern im Rahmen einer "Operation Unifier" ausgebildet. Das Ziel der NATO: die Ukraine endgültig zum offiziellen NATO-Stützpunkt auszubauen und Atomwaffen unmittelbar an Russlands Grenzen zu stationieren.
Im März 2021 hatte der ukrainische Präsident Wladimir Selenskij ein Dekret zur militärischen Rückeroberung des Donbass und der Krim unterschrieben, womit auch das Territorium der Russischen Föderation direkt bedroht wurde. Das Streben nach Mitgliedschaft in der NATO wurde in Verfassungsrang erhoben. Vorschläge der Russischen Föderation im Dezember 2021 zu Verträgen über gleiche Sicherheit wurden von den USA und der NATO brüsk zurückgewiesen.
Im Januar 2022 konzentrierte Kiew über 120.000 Soldaten an den Grenzen zum Donbass, intensivierte die Angriffe auf die Bevölkerung und bereitete die Eroberung für Anfang März vor. In dieser Situation hat die Russische Föderation die nach Referenden in den Donbass-Regionen Donezk und Lugansk ausgerufenen Volksrepubliken anerkannt und mit ihnen Freundschafts- und Beistandspakte geschlossen.
Wer dies kritisiert, der sei daran erinnert, dass es die NATO war, die bei ihren Erweiterungswellen Richtung russische Grenze wie auch im Fall der Ukraine immer wieder betont hat, dass es das unveräußerliche Recht und Ausdruck der Souveränität jedes Staates sei, seine Bündnisbeziehungen frei zu wählen.
Am 24. Februar 2022 griff Russland in den seit acht Jahren dauernden Krieg ein, um seine Verbündeten vor der drohenden ethnischen Säuberung zu schützen und der wachsenden existenziellen Bedrohung der Russischen Föderation durch die USA und der NATO entgegenzutreten.
Dass in der UN-Charta Art 2 das allgemeine Gewaltverbot festgelegt ist, bestreitet niemand, aber die in Art. 51 formulierte Ausnahme wird gerne ignoriert: "das naturgegebene Recht zur individuellen oder kollektiven Selbstverteidigung".
Auf diesen Artikel der UN-Charta hat sich die russische Regierung bei der Intervention berufen und ihre Maßnahmen entsprechend der Verpflichtung nach diesem Artikel gegenüber der UNO angezeigt.
Abschließend sei noch auf den Beschluss 3314 der UN-Generalversammlung zur "Definition der Aggression" verwiesen, deren Artikel 7 lautet: "Diese Definition (…) kann in keiner Weise das sich aus der Charta herleitende Recht auf Selbstbestimmung, Freiheit und Unabhängigkeit von Völkern beeinträchtigen, die dieses Rechtes gewaltsam beraubt wurden, (…) insbesondere nicht von Völkern unter kolonialen oder rassistischen Regimen oder anderen Formen der Fremdherrschaft; noch das Recht dieser Völker, im Einklang mit den Grundsätzen der Charta und in Übereinstimmung mit der genannten Erklärung, für dieses Ziel zu kämpfen und Unterstützung zu suchen und zu erhalten."
Es wäre wünschenswert, wenn sich viele Friedensaktivisten diese Erkenntnisse erarbeiten würden.
Welche Ziele könnte der Westen mit diesem Krieg verfolgen, und welche Chancen sehen Sie für Verhandlungen?
Zu den westlichen Zielen kennen wir eigentlich alle die klassische Aussage, einen echten Baerbock: "Russland ruinieren". Aber wir müssen uns keineswegs auf dieses Geplapper eines unbegabten Kindes verlassen, das gibt es auch aus berufenerem Munde. Der frühere US-Sicherheitsberater Zbigniew Brzeziński beschrieb 1997 in seinem Buch "The Grand Chessboard" die geopolitische Bedeutung der Ukraine: "Ohne die Ukraine hört Russland auf, ein eurasisches Imperium zu sein." STRATFOR-Chef George Friedman 2015: "Das Hauptinteresse der US-Außenpolitik während des letzten Jahrhunderts, im Ersten und Zweiten Weltkrieg und im Kalten Krieg waren die Beziehungen zwischen Deutschland und Russland. Vereint sind sie die einzige Macht, die uns bedrohen kann. Unser Hauptinteresse war sicherzustellen, dass dieser Fall nicht eintritt."
Der Pentagon-nahe Thinktank RAND Corporation verfasste 2019 die Denkschrift "Russland überdehnen und aus dem Gleichgewicht bringen". Darin wird als wirksamstes Mittel bezeichnet, die Ukraine zu bewaffnen und damit die "größte externe Verwundbarkeit Russlands" auszunutzen.
Mittelfristig kann man aber davon ausgehen, dass die USA Russland als Störfaktor bei ihrem Marsch in die entscheidende Schlacht gegen China aus dem Weg räumen wollen.
Sicherlich werden alle Kriege früher oder später am Verhandlungstisch beendet. Doch solange deutsche und andere westlichen Politiker einer "Entscheidung auf dem Schlachtfeld" das Wort reden, stehen die Chancen dafür schlecht. Die Ukraine wird mit Waffen vollgepumpt, damit sie den NATO-Stellvertreterkrieg gegen Russland "bis zum letzten Ukrainer" führt. Sie wird gedrängt, für Verhandlungen mit Russland Bedingungen zu stellen, die völlig illusorisch sind oder bestenfalls zum Teil am Ende von Verhandlungen stehen könnten. Darin ist der fehlende Verhandlungswille der Sponsoren der Kiewer Junta zu erkennen.
Nachdem Russland vom Westen jahrzehntelang getäuscht und hinters Licht geführt wurde, angefangen von dem Versprechen der NATO 1990, "keinen Zentimeter Richtung Osten vorzurücken" bis zum falschen Spiel mit den Minsker Abkommen seit 2014, ist naheliegenderweise das Vertrauen auf russischer Seite in die westlichen "Partner" tief erschüttert. Neues Vertrauen muss erst wieder aufgebaut werden, und das müssen jene tun, die es so gründlich ruiniert haben.
Wie könnte die deutsche Friedensbewegung in der Öffentlichkeit wieder stärker wahrgenommen werden? Welche Aktionen erwarten Sie, welche Forderungen sind den Freidenkern wichtig?
Die Friedensbewegung muss ihre eigenen Positionen und Forderungen authentisch formulieren, ohne Zugeständnisse an Kriegstreiber bei SPD, Grünen oder auch in den Gewerkschaften. Sie muss autonom sein und darf sich nicht bei anderen Bewegungen "dranhängen", ob zum "Klima" oder was auch immer. Sie muss auf die Ausstrahlungskraft ihrer Inhalte für eine Welt ohne Krieg setzen. Menschen aus anderen Bewegungen können das gerne unterstützen, aber nicht die Friedensbewegung "übernehmen".
Die Friedensbewegung tut gut daran, den schädlichen Tendenzen zur Spaltung und zu Ausgrenzung zu widerstehen. Wir haben solche Bestrebungen 2014 beim Entstehen der sogenannten "Neuen Friedensbewegung" erlebt und heute wieder gegenüber Kritikern der irren Politiker-Aussagen und "Maßnahmen" zu Corona. Alle, die sich den Regierungsnarrativen verweigern, werden als "rechts" diffamiert, vom Mainstream, von sogenannten "Antideutschen" und einer vermeintlichen "Antifa".
Wir sagen, wirklich "rechts" sind die Kriegstreiber, die NATO-Politiker und alle, die demokratische Rechte demontieren. Wer aus Überzeugung gegen den Krieg ist – damit sind Nazis per se ausgeschlossen –, soll und darf in der Friedensbewegung mitmachen. Wir heißen sie alle willkommen, ob sie aus der sozialen, der Demokratie- oder Umweltbewegung kommen, aus Parteien, Gewerkschaften, kirchlich Engagierte oder Freidenker.
Die Friedensbewegung kann neue Kräfte gewinnen, wenn sie die drängenden Probleme der Menschen aufgreift. Das sind aktuell die Folgen des von der Bundesregierung im US-Auftrag geführten Wirtschaftskrieges gegen Russland, die Rekordinflation besonders bei Lebensmitteln und Energiepreisen, aber auch bei Baumaterialien, die zunehmende Pleitewelle und Vernichtung mittelständiger Existenzen, die Vertreibung der Industrie aus Deutschland. Die gefährliche, gescheiterte grün-ideologische Energiepolitik muss beendet, die Sanktionen gegen Russland müssen aufgehoben werden. Wir fordern deshalb: Macht endlich Nord Stream 2 auf!
Klaus Hartmann ist Präsident der Weltunion der Freidenker und stellvertretender Vorsitzender des Deutschen Freidenkerverbandes. https://www.freidenker.org/
Schon in den 1990er-Jahren gab es bei den Freidenkern die Einschätzung, die NATO-Aggression gegen Jugoslawien sei der "Türöffnerkrieg" für kommende Kriege. Als Prozessbeobachter des Den Haager Tribunals gegen den ehemaligen serbischen Präsidenten Slobodan Milošević dokumentierte Klaus Hartmann für das Internationale Komitee "Slobodan Milosovic" detailliert den Verlauf des Gerichtsverfahrens auf der Webseite: http://www.free-slobo.de/
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